Ñîõðàíèòü .
Kalle Blomquist Àñòðèä Ëèíäãðåí
        # Liebe junge Detektive!
        Aufgepa?t: Dieses Buch enthalt die gesammelten Erfahrungen des gro?en Meisterdetektivs Kalle Blomquist. Vollzahlig. Das ist von unschatzbarem Wert fur Euch. Denn ob Ihr nun auf der Suche nach einem verborgenen Schatz seid oder einen exakten Plan ausarbeiten mu?t, wie man einen langgesuchten Juwelendieb endlich zur Strecke bringen kann, oder blitzschnell entscheiden mu?t, wenn der eigene Blutsbruder plotzlich gekidnappt wird, egal also in welch verzwickte Situation Ihr kommt, Kalle Blomquist, der Meisterdetektiv, wird Euch den richtigen Tip geben.
        Und wer wei?, vielleicht spricht man dann eines Tages von Euch als dem gro?en Meisterdetektiv …
        VERLAG FRIEDRICH OETINGER
        HAMBURG
        Deutsch von Cacilie Heinig und Karl Kurt Peters
        Bilder von Volker Heydorn
        BAND EINS.
        MEISTERDETEKTIV BLOMQUIST
        ERSTES KAPITEL

»Blut! Daran ist nicht zu zweifeln!« Er starrte durch das Vergro?erungsglas auf den roten Fleck. Dann schob er die Pfeife in den anderen Mundwinkel und seufzte. Naturlich war es Blut.
        Was war denn auch sonst schon zu sehen, wenn man sich in den Daumen geschnitten hatte?
        Dieser Fleck da sollte der endgultige Beweis dafur sein, da? Sir Henry seine Frau durch den abscheulichsten Mord beiseite gebracht hatte, den jemals ein Detektiv aufklaren mu?te. Aber leider - es war anders! Das Messer war ausgerutscht, als er seinen Bleistift anspitzen wollte - das war die traurige Wahrheit.
        Und das war wahrhaftig nicht Sir Henrys Schuld. Vor allen Dingen deswegen, weil Sir Henry, das Rindvieh, nicht einmal existierte. Traurig war das! Warum hatten so viele Menschen das Gluck, in den Slumbezirken Londons oder in den Verbre-chervierteln von Chikago geboren zu werden, wo Mord und Schie?erei an der Tagesordnung waren? Wahrend er selbst …
        Er hob widerstrebend seinen Blick von dem Blutfleck und schaute aus dem Fenster.
        Die Hauptstra?e lag traumend und im tiefsten Frieden in der Sommersonne. Die Kastanien bluhten. Es war kein lebendes Wesen zu sehen au?er der grauen Katze des Backers, die auf der Kante des Burgersteiges sa? und sich die Pfoten leckte. Nicht das allergeubteste Detektivauge konnte etwas entdecken, was darauf hindeutete, da? ein Verbrechen begangen worden war.
        Es war wirklich ein hoffnungsloses Beginnen, in dieser Stadt Detektiv zu sein! Wenn er gro? war, wurde er, sobald sich eine Moglichkeit bot, in die Londoner Slumbezirke ziehen. Oder vielleicht besser nach Chikago?
        Der Alte wollte, da? er im Geschaft anfangen sollte. Im Geschaft! Er! Ja, das konnte denen so gefallen, allen Mordern und Banditen in London und Chikago! Da konnten sie nach Her-zenslust morden, ohne da? jemand hinter ihnen her war, wahrend er im Geschaft stand und Tuten drehte und grune Seife oder Hefe abwog. Nein, wahrhaftig, er hatte nicht die Absicht, Rosineneinpacker zu werden! Detektiv oder gar nichts! Der Alte konnte wahlen! Sherlock Holmes, Asbjorn Krag, Hercule Poirot, Lord Peter Wimsey, Karl Blomquist! Er schnalzte mit der Zunge. Und er, Kalle Blomquist, hatte die Absicht, der Beste von allen zu werden.

»Blut! Daran ist nicht zu zweifeln«, sagte er zufrieden.
        Drau?en auf der Treppe horte man Gepolter, und eine Sekunde spater wurde die Tur aufgerissen, und Anders kam erhitzt und keuchend herein. Kalle betrachtete Ihn kritisch und machte seine Beobachtungen.

»Du bist gerannt«, sagte er schlie?lich in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

»Klar bin ich gerannt«, sagte Anders gereizt. »Hast du gedacht, ich komme auf der Tragbahre?«
        Kalle versteckte seine Pfeife. Nicht deswegen, weil es ihm etwas ausmachte, da? Anders ihn beim heimlichen Rauchen uberraschte. Es war nur so, da? er keinen Tabak in der Pfeife hatte.
        Aber ein Detektiv braucht seine Pfeife, wenn er sich mit Problemen herumschlagt. Wenn der Tabak auch gerade mal alle war.

»Wollen wir ein Stuck bummeln?« fragte Anders und warf sich auf Kalles Bett.
        Kalle nickte zustimmend. Naturlich wollte er mit. Er mu?te ja unter allen Umstanden noch einmal vor dem Abend durch die Stra?en patrouillieren, falls etwas Verdachtiges aufgetaucht sein sollte. Naturlich gab es Polizisten, aber so viel hatte man ja gelesen, da? man wu?te, was man von ihnen zu halten hatte. Sie erkannten keinen Morder wieder, selbst wenn sie uber ihn stolperten.
        Kalle legte das Vergro?erungsglas in seine Schreibtischschublade. Dann sturmten sie beide die Treppe hinunter, so da? das Haus in seinen Grundfesten erzitterte.

»Kalle, vergi? nicht, da? du heute abend das Erdbeerbeet gie?en sollst!«
        Das war die Mutter, die ihren Kopf durch das Kuchenfenster steckte. Kalle winkte beruhigend mit der Hand. Klar, er wurde die Erdbeeren gie?en. Spater.
        Spater, nachdem er sich davon uberzeugt hatte, da? keine dunklen Gestalten, die Boses im Sinn hatten, im Weichbild der Stadt umherschlichen. Nicht da? - leider - viel Aussicht dafur gewesen ware, aber man mu? immer auf dem Posten sein. Das hatte man im »Fall Buxton« erlebt, wie es kommen kann. Da ging man friedlich in der Gegend umher, und - wups - kommt ein Schu? in der Nacht, und ehe man mit den Augen zwinkerte, waren vier Morde geschehen. Damit rechneten die Halunken, da? niemand in so einer kleinen Stadt an einem so schonen Sommertag einen Verdacht schopfen wurde. Aber da kannten sie Kalle Blomquist nicht!
        Im Erdgescho? lag das Geschaft. »Viktor Blomquists Lebensmittelgeschaft« stand auf dem Schild.

»Bitte deinen Alten um Bonbons«, schlug Anders vor.
        Kalle hatte selbst schon die gleiche gute Idee gehabt. Er steckte den Kopf durch die Tur. Hinter dem Ladentisch stand

»Viktor Blomquists Lebensmittelgeschaft« in hochsteigener Person - das war der Vater.

»Vater, ich nehm’ ein paar von den gestreiften!«

»Viktor Blomquists Lebensmittelgeschaft« warf einen liebe-vollen Blick auf seinen blondhaarigen Spro?ling und grunzte gutmutig. Kalle steckte die Hand in die Bonbonbuchse. Das Grunzen bedeutete, da? man nehmen durfte. Dann zog er sich schnell zu Anders zuruck, der auf dem Schaukelbrett unter dem Birnbaum sa? und wartete.
        Aber Anders hatte im Augenblick kein Interesse fur die »Gestreiften«. Er starrte mit einem einfaltigen Ausdruck in den Augen auf etwas in Backermeisters Garten. Das Etwas war Backermeisters Eva-Lotte. Sie sa? auf ihrer Schaukel in einem rotkarier-ten Baumwollkleid. Sie schaukelte und a? eine Schnecke. Sie sang auch, denn sie war eine Dame, die viele Kunste beherrschte.

»Es war einmal ein Madchen, und die hie? Josefin, Josefin-fin-fin, Jose-jose-josefin.« Sie hatte eine klare und hubsche Stimme, die man sehr gut bis zu Anders und Kalle hin horenkonnte. Kalle starrte sehnsuchtig auf Eva-Lotte, wahrend er abwesend Anders einen Bonbon anbot. Anders nahm einen, ebenso abwesend, und starrte ebenso sehnsuchtig Eva-Lotte an.
        Kalle seufzte. Er liebte Eva-Lotte wild. Das tat Anders auch.
        Kalle hatte es sich in den Kopf gesetzt, Eva-Lotte als seine Braut heimzufuhren, sobald es ihm gelungen war, genug Geld zu beschaffen, um einen Hausstand zu grunden. Das hatte Anders auch. Aber Kalle zweifelte nicht daran, da? sie ihn, Kalle, vorziehen wurde! Ein Detektiv mit vielleicht so ungefahr vierzehn aufgeklarten Morden - das wurde wohl etwas lauter knallen als ein Lokomotivfuhrer! Lokomotivfuhrer! Das war das, was Anders werden wollte.
        Eva-Lotte schaukelte und sang und sah aus, als ob sie uberhaupt nicht wu?te, da? sie beobachtet wurde.

»Eva-Lotte!« rief Kalle.

»Das einz’ge, was sie hatte, das war ’ne Nahmaschin, Nahmaschin-schin-schin, Nahma-Nahma-Nahmaschin«, fuhr Eva-Lotte unbekummert fort.

»Eva-Lotte!« schrien Kalle und Anders gleichzeitig.

»Ach, seid ihr es?« sagte Eva-Lotte sehr erstaunt. Sie stieg von der Schaukel und ging gnadig zum Zaun, der ihren Garten von Kalles trennte. Es fehlte ein Brett - es hatte schon immer gefehlt. Eine ausgezeichnete Einrichtung, die es moglich machte, sich unbehindert durch die Offnung hindurch zu unterhalten und auch in Backermeisters Garten hineinzuschlupfen, ohne sich mit Umwegen bemuhen zu mussen.
        Es war Anders’ heimlicher Kummer, da? Kalle so nahe bei Eva-Lotte wohnte. Das war auf irgendeine Weise ungerecht. Er selbst wohnte weit weg in einer Stra?e, wo er und seine Eltern und kleinen Geschwister zusammengedrangt in einem Zimmer mit Kuche uber Vaters Schuhmacherwerkstatt wohnten.

»Eva-Lotte, willst du ein bi?chen mit uns in die Stadt gehen?« fragte Kalle.
        Eva-Lotte schluckte mit Genu? den letzten Bissen ihrer Schnecke hinunter.

»Kann ich machen«, sagte sie. Sie fegte eine Krume von ihrem Kleid weg. Und dann gingen sie los.
        Es war Samstag. Friedrich mit dem Fu? war bereits betrunken und stand wie gewohnlich vor der Gerberei mit einem Kreis von Zuhorern um sich herum. Kalle und Anders und Eva-Lotte stellten sich dazu, um Friedrich von den Heldentaten berichten zu horen, die er ausgefuhrt hatte, als er als Bahnarbeiter in Nordschweden gewesen war.
        Wahrend Kalle zuhorte, irrten seine Augen umher. Er hatte nicht einen Augenblick lang seine Pflicht vergessen. Nichts Verdachtiges? Nein, mu?te er zugeben, nichts Verdachtiges! Doch wie oft hatte man gelesen, da? vieles, was unschuldig aussah, genau das Gegenteil davon war. Auf alle Falle mu? man auf der Hut sein! Da kam z. B. ein Mann mit einem Sack auf dem Ruk-ken die Stra?e herauf gestiefelt.

»Nimm mal an«, sagte Kalle und puffte Anders in die Seite,

»nimm mal an, da? er den ganzen Sack voll mit gestohlenem Silber hat!«

»Nimm mal an, da? er es nicht hat«, sagte Anders ungeduldig, denn er wollte Friedrich mit dem Fu? zuhoren. »Nimm mal an, da? du eines schonen Tages uberschnappst mit all deinen Detektivideen.«
        Eva-Lotte lachte. Und Kalle schwieg. Er war daran gewohnt, nicht verstanden zu werden.
        Schlie?lich kam die Polizei, auf die man schon gewartet hatte, um Friedrich mit dem Fu? zu holen. Es war ublich geworden, da? er die Samstagnachte im Polizeigefangnis zubrachte.

»Was is das fur ’ne Zeit, jetzt schon zu kommen!« sagte Friedrich vorwurfsvoll, als Schutzmann Bjork ihn freundlich unter den Arm nahm. »Haltet ihr keine Ordnung hier in der Stadt mit euren Strolchen?«
        Schutzmann Bjork lachte und zeigte seine schonen wei?en Zahne.

»Na, komm, jetzt wollen wir gehen«, sagte er.
        Die Zuhorerschar verlief sich. Kalle und Anders und Eva-Lotte gingen mit zogernden Schritten davon. Sie hatten gern etwas mehr von Friedrichs Geschichten gehort.

»Wie schon die Kastanien sind«, sagte Eva-Lotte und betrachtete die lange Reihe der Kastanienbaume, die die Hauptstra?e umsaumten.

»Ja, sie sind fein, wenn sie bluhen«, sagte Anders. »Sie sehen aus wie Kerzen.«
        Alles war ruhig und still. Man konnte beinahe fuhlen, da? es Sonntag werden wollte. Hier und da in den Garten sah man Leute sitzen und ihr Abendbrot essen. Sie hatten schon ihren Arbeitsstaub abgewaschen und sich sonntaglich gekleidet. Sie plauderten und lachten und sahen aus, als ob sie sich in ihren kleinen Gartchen, wo die Obstbaume gerade in voller Blute standen, sehr behaglich fuhlten.
        Anders und Kalle und Eva-Lotte warfen lange Blicke uber jeden Gartenzaun, an dem sie vorbeigingen. Es konnte ja sein, da? irgendeine freundliche Seele sie zu einem Butterbrot oder zu etwas anderem Guten einladen wollte. Aber es sah nicht so aus.

»Wir mussen mal uberlegen, was wir machen konnen«, sagte Eva-Lotte.
        Gerade da horte man irgendwo in der Ferne das grelle Pfeifen einer Lokomotive.

»Jetzt kommt der Sechsuhrzug«, sagte Anders.

»Ich wei?, was wir machen«, sagte Kalle. »Wir kriechen hinter die Fliederhecke in Eva-Lottes Garten und legen ein Paket mit einer Schnur dran auf die Stra?e raus. Wenn jemand kommt und das Paket sieht und es nehmen will, dann ziehen wir an der Schnur. Dann wollen wir sehen, was sie fur Gesichter machen.«

»Ja, das scheint eine ganz passende Beschaftigung fur einen Samstagabend zu sein«, sagte Anders.
        Eva-Lotte sagte nichts. Aber sie nickte zustimmend.
        Ein Paket war schnell zurechtgemacht. Alles, was man brauchte, gab es ja in Viktor Blomquists Lebensmittelgeschaft.

»Es sieht aus, als ob etwas Feines darin ware«, sagte Eva-Lotte zufrieden.

»Ja, nun wollen wir sehen, wer nach dem Bissen schnappt«, sagte Anders.
        Das Paket lag auf dem Pflaster und sah sehr inhaltsreich und verlockend aus. Da? eine Schnur daran festgebunden war und da? die Schnur hinter der Fliederhecke des Backermeisters verschwand, war auf den ersten Blick nicht leicht zu entdecken. Ein aufmerksamer Fu?ganger hatte naturlich allerlei Kichern und Tuscheln hinter der Hecke horen konnen. Frau Petronella Apfelzweig, die Inhaberin des gro?ten Fleischerladens der Stadt, die gerade die Stra?e heraufkam, war indessen nicht so aufmerksam, da? sie etwas Verdachtiges gesehen oder gehort hatte. Aber das Paket sah sie. Sie beugte sich mit gro?er Muhe nach vorn und streckte die Hand danach aus.

»Zieh!« flusterte Anders Kalle zu, der die Schnur hielt.
        Und Kalle zog. Mit rasender Fahrt verschwand das Paket hinter der Fliederhecke. Und jetzt konnte Frau Apfelzweig nicht umhin, ein unterdrucktes Gekicher zu horen Sie brach in einen Schwall von Worten aus. Die Kinder konnten nicht alles verstehen, was sie sagte, aber sie horten, da? sie mehrere Male das Wort
»Erziehungsanstalt« nannte als einen passenden Aufenthalt fur mi?ratene Kinder.
        Hinter der Hecke war es nun ganz still. Nachdem sie noch eine letzte Salve abgefeuert hatte, ging Frau Apfelzweig brummend davon.

»Das war fein«, sagte Eva-Lotte. »Ich bin gespannt, wer jetzt kommt. Hoffentlich jemand, der sich ebenso argert.«
        Aber es schien so, als ob die Stadt plotzlich ausgestorben ware. Es kam niemand, und die drei hinter der Hecke waren nahe daran, das ganze Unternehmen aufzugeben.

»Nein, wartet, da kommt wieder jemand«, flusterte Anders schnell.
        Und es kam jemand. Er bog gerade um die Stra?enecke und ging mit raschen Schritten direkt auf Backermeisters Garten zaun zu, eine lange Gestalt in grauem Anzug, ohne Hut und mit einem gro?en Reisekoffer in der einen Hand.

»Aufgepa?t!« flusterte Anders, als der Mann vor dem Paket anhielt.
        Und Kalle pa?te auf. Aber es half nichts. Man horte den Mann einen leisen Pfiff aussto?en, und im nachsten Augenblick hatte er den Fu? auf das Paket gesetzt.
        ZWEITES KAPITEL

»Und wie hei?t du, meine schone junge Dame?« fragte der Mann eine Weile spater Eva-Lotte, die mit ihren beiden Beglei-tern hinter der Hecke hervorgekrochen war.

»Eva-Lotte Lisander«, sagte Eva-Lotte furchtlos.

»Das habe ich mir doch gedacht«, sagte der Mann. »Wir sind alte Bekannte, will ich dir sagen. Ich habe dich gesehen, als du so klein warst, da? du noch in der Wiege gelegen und den ganzen Tag geschrien hast.«
        Eva-Lotte warf den Kopf zuruck. Sie konnte nicht glauben, da? sie jemals so klein gewesen war.

»Wie alt bist du jetzt?« fragte der Mann.

»Dreizehn Jahre«, sagte Eva-Lotte.

»Dreizehn Jahre! Und zwei Kavaliere hast du schon! Einen hellen und einen dunklen. Du scheinst die Abwechslung zu lieben«, sagte der Mann mit einem kleinen gewollt neckischen Lachen.
        Eva-Lotte warf noch einmal den Kopf zuruck. Sie hatte es nicht notig, hier zu stehen und sich Bosheiten von jemand anzuhoren, den sie nicht kannte.

»Wer sind Sie denn?« fragte sie.

»Wer ich bin? Ich bin Onkel Einar, ein Vetter deiner Mutter, meine schone junge Dame!« Er zog Eva-Lotte an einer ihrer blonden Locken. »Und wie hei?en deine Kavaliere?«
        Eva-Lotte stellte Anders und Kalle vor, und ein dunkler und ein blonder Schopf Schossen mit einer tadellosen Verbeugung nach vorn.

»Nette Jungen«, sagte Onkel Einar billigend. »Aber heirate sie nicht! Heirate lieber mich«, fuhr er fort und stie? ein wieherndes Gelachter aus. »Ich werde ein Schlo? fur dich bauen, wo du den ganzen Tag umherlaufen und spielen kannst.«

»Sie sind ja viel zu alt fur mich«, sagte Eva-Lotte recht naseweis.
        Anders und Kalle fuhlten sich etwas beiseite geschoben. Was war das nur fur ein langes, klappriges Stuck Ungluck, das plotzlich hier auftauchte?
        Personalbeschreibung - wollen mal sehen, sagte Kalle fur sich.
        Aus Prinzip merkte er sich das Aussehen aller unbekannten Personen, die ihm in den Weg kamen. Wer wei?, wie viele von ihnen wirklich anstandige Menschen waren! Personalbeschreibung: braunes, hochgestrichenes Haar, braune Augen, zusammenge-wachsene Augenbrauen, gerade Nase, leicht vorstehende Zahne, kraftiges Kinn, grauer Anzug, braune Schuhe, kein Hut, brauner Reisekoffer, nennt sich Onkel Einar. Das war wohl alles. Nein -er hatte ja eine kleine rote Narbe auf der rechten Wange. Kalle merkte sich alle Einzelheiten.

»Ist deine Mutter zu Hause, Jungfer Naseweis?« fragte Onkel Einar.

»Ja, da kommt sie.«
        Eva-Lotte zeigte auf eine Dame, die gerade durch den Garten kam. Sie hatte die gleichen lustigen blauen Augen und das gleiche blonde Haar wie Eva-Lotte.

»Habe ich das Vergnugen, wiedererkannt zu werden?« Onkel Einar verbeugte sich.

»Was in aller Welt - bist du es, Einar? Es ist, wei? Gott, eine Weile her, seit man dich gesehen hat. Wo kommst du her?«
        Frau Lisanders Augen waren ganz gro? vor Uberraschung.

»Vom Mond«, sagte Onkel Einar. »Um euch in eurem ruhigen Winkel etwas aufzuheitern.«

»Er kommt gar nicht vom Mond«, sagte Eva-Lotte argerlich.

»Er ist mit dem Sechsuhrzug gekommen.«

»Der gleiche alte Spa?macher«, sagte Frau Lisander. »Aber warum hast du nicht geschrieben, da? du kommen willst?«

»Nein, kleine Kusine, schreibe niemals etwas, was du personlich ausrichten kannst, das ist mein Wahlspruch. Du wei?t, ich bin einer von denen, die tun, was ihnen gerade einfallt. Gerade jetzt fand ich, da? es schon ware, eine Zeitlang Ferien zu machen, und da fiel mir plotzlich ein, da? ich eine ungewohnlich nette Kusine habe, die in einer ungewohnlich netten kleinen Stadt wohnt. Willst du mich aufnehmen?«
        Frau Lisander uberlegte schnell. Es war nicht so leicht, stehenden Fu?es Gaste aufzunehmen. Na ja, er konnte das Giebelzimmer haben.

»Mit einer ungewohnlich netten kleinen Tochter«, sagte Onkel Einar und kniff Eva-Lotte in die Wange.

»Ach, la? doch das sein«, sagte Eva-Lotte, »das tut ja weh!«

»Das war auch beabsichtigt«, sagte Onkel Einar.

»Ja, naturlich bist du willkommen«, sagte Frau Lisander.

»Wie lange hast du Ferien?«

»Nja, das ist noch nicht bestimmt. Offen gesagt, ich habe die Absicht, mit meiner Firma Schlu? zu machen. Ich denke beinahe daran, ins Ausland zu gehen. In diesem Land hier hat man keine Zukunft. Hier stehen alle und treten auf dem gleichen Fleck.«

»Das ist nicht wahr«, sagte Eva-Lotte hitzig. »Dieses Land ist das beste von allen.«
        Onkel Einar legte den Kopf auf die Seite und schaute Eva-Lotte an.

»Wie du gewachsen bist, kleine Eva-Lotte«, sagte er und lie? gleich darauf wieder sein wieherndes Gelachter horen. Eva-Lotte fing bereits an, es herzlich zu verabscheuen.

»Die Jungen konnen dir damit helfen«, sagte Frau Lisander mit einem Nicken zum Reisekoffer hin.

»Nee, nee, den trage ich lieber selbst«, sagte Onkel Einar.
        In dieser Nacht wurde Kalle durch eine Mucke geweckt, die ihn in die Stirn gestochen hatte. Und da er nun ohnehin wach war, hielt er es fur klug, nachzusehen, ob vielleicht einige Schurken und Banditen ihr verbrecherisches Spiel in der Nahe trieben.
        Zuerst sah er durch das Fenster auf die Hauptstra?e hinaus. Da war alles ode und leer. Dann ging er ans andere Fenster und guckte durch die Gardine in Backermeisters Garten. Das Haus lag dunkel und schlafend zwischen bluhenden Apfelbaumen.
        Nur im Giebelzimmer war Licht. Und gegen die Rollgardine zeichnete sich der dunkle Schatten eines Mannes ab.

»Onkel Einar, ph, wie blod der ist«, sagte Kalle fur sich.
        Der dunkle Schatten wanderte hin und her, hin und her ohne Unterbrechung. Er war sicher eine unruhige Natur, der Onkel Einar! »Warum trabt er blo? so herum?« dachte Kalle, und im nachsten Augenblick scho? er wieder in sein eigenes schones Bett hinein.
        Schon um acht Uhr am Montagmorgen horte er Anders’
        Pfeifen vor dem Fenster. Sie hatten ein gemeinsames Signal, Anders und er und Eva-Lotte. Kalle schlupfte schnell in seine Sachen. Ein neuer, herrlicher Ferientag lag vor ihm, ohne Sorgen, ohne Schule und ohne andere Pflichten, als die Erdbeeren zu gie?en und ein Auge auf eventuelle Morder in der Umgebung zu haben. Nichts davon war besonders anstrengend.
        Das Wetter war strahlend. Kalle trank ein Glas Milch und a? ein Butterbrot und sturzte zur Tur, bevor seine Mutter dazu kam, auch nur die Halfte der Ermahnungen vorzubringen, die sie ihm gleichzeitig mit dem Fruhstuck zu servieren beabsichtigt hatte.
        Jetzt galt es nur, Eva-Lotte herauszubekommen. Aus irgendeinem Anla? fanden Kalle und Anders es nicht ganz passend, hineinzugehen und direkt nach ihr zu fragen. Strenggenommen war es ja nicht einmal passend, da? sie mit einem Madchen spielten. Aber da war nichts zu machen. Alles war viel lustiger, wenn Eva-Lotte mit dabei war. Sie war ubrigens nicht diejenige, die vor einem Spa? zuruckscheute. Sie ging ebenso drauflos und war ebenso flink wie irgendein Junge. Als der Wasserturm um-gebaut wurde, war sie auf das Holzgerust ebenso hoch raufge-klettert wie Anders und Kalle, und als Schutzmann Bjork sie bei ihrem Unternehmen entdeckte und ihnen zurief, da? es wohl am sichersten ware, augenblicklich herunterzukommen, setzte sie sich ruhig ganz vorn auf ein Brett, wo jeder andere schwind-lig geworden ware, und sagte lachend:

»Kommen Sie rauf und holen Sie uns!«
        Sie hatte wohl nicht gedacht, da? Schutzmann Bjork sie beim Wort nehmen wurde. Aber Schutzmann Bjork war der Beste im Sportklub, und es kostete ihn nicht viele Sekunden, zu Eva-Lotte heraufzukommen.

»Bitte deinen Vater, da? er dir ein Trapez kauft, an dem du herumklettern kannst«, sagte er. »Denn wenn du von dem runterfallst, hast du wenigstens einigerma?en Aussicht, dir nicht den Hals zu brechen.«
        Dann nahm er sie kraftig um den Leib und kletterte mit ihr hinunter. Anders und Kalle hatten sich schon mit bemerkenswerter Geschwindigkeit hinunterbegeben. Seitdem mochten sie Schutzmann Bjork gern. Und - wie gesagt - sie mochten Eva-Lotte auch gern, ganz abgesehen davon, da? sie beide sich mit ihr verheiraten wollten.

»Denn das war ja wirklich mutig von ihr«, sagte Anders, »so etwas zu einem Polizisten zu sagen. Das hatten nicht viele Madels getan. Viele Jungens ubrigens auch nicht!«
        Und an dem dunklen Herbstabend, als sie vor dem Haus des giftigen Kontorchefs, der immer so bose zu seinem Hund war, auf der Harzgeige spielten, da war Eva-Lotte vor seinem Fenster stehengeblieben und hatte mit ihrem Harzstuck auf dem Draht gerieben, bis der Kontorchef herausgelaufen kam und sie beinahe auf frischer Tat ertappt hatte. Aber Eva-Lotte war schnell uber den Zaun geschossen und in die Bootsgasse verschwunden, wo Anders und Kalle auf sie warteten. Nein, an Eva-Lotte war nichts auszusetzen, daruber waren sich Anders und Kalle einig.
        Anders lie? einen neuen Pfiff ertonen in der Hoffnung, da? es Eva-Lotte drinnen horen wurde. Das tat sie auch. Sie kam heraus. Aber zwei Schritte hinter ihr kam Onkel Einar.

»Darf der kleine artige Junge hier auch mitspielen?« fragte er.
        Anders und Kalle schauten ihn etwas verlegen an.

»Ausrei?er und Einfanger zum Beispiel«, wieherte Onkel Einar. »Ich will am liebsten Ausrei?er sein.«

»Ph!« machte Eva-Lotte.

»Oder wollen wir zur Schlo?ruine gehen?« schlug Onkel Einar vor. »Die ist wohl immer noch da?«
        Naturlich war die Schlo?ruine noch da. Das war ja die gro?te Sehenswurdigkeit der Stadt, die alle Touristen sich ansahen, sogar noch bevor sie die Deckenmalereien in der Kirche gesehen hatten. Wenn auch naturlich nicht so viele Touristen kamen. Die Ruine lag auf einer Hohe und schaute auf die kleine Stadt hinunter. Ein machtiger Herr hatte einmal in fruheren Zeiten dieses Schlo? gebaut, und nach und nach war in dessen Nahe eine Stadt entstanden. Die kleine Stadt bluhte und gedieh, aber von dem fruheren Schlo? war nur noch eine schone Ruine ubrig.
        Kalle und Anders und Eva-Lotte hatten nichts dagegen, zur Ruine zu gehen. Sie war einer ihrer liebsten Aufenthaltsorte.
        Man konnte in den alten Salen Versteck spielen oder auch die Burg gegen ansturmende Feinde verteidigen.
        Onkel Einar ging rasch den steilen Weg hinauf, der sich zur Ruine hinschlangelte. Kalle, Anders und Eva-Lotte trabten hinterher. Sie warfen sich hin und wieder verstohlene Blicke zu und blinzelten vielsagend.

»Ich hatte Lust, ihm eine Klapper zu geben, dann konnte er irgendwo fur sich allein sitzen und damit spielen«, flusterte Anders.

»Und du glaubst, da? er das tun wurde«, sagte Kalle. »Nee, du, wenn erwachsene Leute sich vornehmen, mit Kindern zu spielen, dann kann nichts sie daran hindern, merk dir das!«

»Sie sind vergnugungssuchtig, das ist das Ganze«, entschied Eva-Lotte. »Aber da er Mutters Vetter ist, mussen wir wohl versuchen, ein bi?chen mit ihm zu spielen, sonst wird er blo? argerlich.« Eva-Lotte kicherte vergnugt.

»Aber das wird langweilig werden, wenn er furchtbar lange Ferien hat«, sagte Anders.

»Ach, er reist sicher bald ins Ausland«, meinte Eva-Lotte.

»Du hast ja gehort, was er gesagt hat - in diesem Land hier kann man es nicht aushalten.«

»Ja, ich fur meinen Teil werde ihm keine Trane nachwei-nen«, sagte Kalle.
        Es bluhte in dichten Buschen rings um die ganze Ruine. Die Hummeln summten. Die Luft zitterte in der Warme. Aber drinnen in der Ruine war es kuhl. Onkel Einar blickte sich zufrieden um.

»Schade, da? man nicht runter in das Kellergescho? gehen kann«, sagte Anders.

»Warum kann man das nicht?« fragte Onkel Einar.

»Nee, sie haben eine dicke Tur davorgesetzt«, sagte Kalle.

»Und die ist verschlossen. Da sind sicher viele Gange und Kellerlocher unten, und es ist kalt und feucht, und da wollen sie nicht, da? man runtergeht. Der Burgermeister hat sicher den Schlussel.«

»Fruher sind die Leute da unten hingefallen und haben sich die Beine gebrochen«, sagte Anders. »Und ein Kind hatte sich beinahe verlaufen, so da? jetzt niemand mehr runter darf. Aber das ist verdammt schade.«

»Wollt ihr gern runtergehen?« fragte Onkel Einar. »Das lie-
        - e sich vielleicht machen.«

»Wie soll denn das zugehen?« fragte Eva-Lotte.

»So!« sagte Onkel Einar und zog einen kleinen Gegenstand aus der Tasche. Er beschaftigte sich eine Weile mit dem Schlo?, und gleich danach schwang die Tur knirschend in ihren Angeln.
        Die Kinder starrten voll Erstaunen abwechselnd Onkel Einar und die Tur an. Das war ja die reine Zauberei.

»Wie hast du das gemacht, Onkel Einar? Darf ich mal sehen?« fragte Kalle eifrig.
        Onkel Einar hielt den kleinen Metallgegenstand hin.

»Ist das - ist das ein Dietrich?« fragte Kalle.

»Richtig geraten«, sagte Onkel Einar.
        Kalle war uberglucklich. Er hatte so oft von Dietrichen gelesen, aber er hatte nie einen gesehen.

»Darf ich den mal haben?« fragte er.
        Er bekam ihn, und er fuhlte, da? dies ein gro?er Augenblick in seinem Leben war. Dann kam ihm ein Gedanke. Nach dem, was er gelesen hatte, waren es meist dunkle Gestalten, die Dietriche besa?en. Das erforderte eine Erklarung.

»Warum hast du einen Dietrich, Onkel Einar?« fragte er.

»Weil ich geschlossene Turen nicht liebe«, sagte Onkel Einar kurz.

»Wollen wir nicht runtergehen?« fragte Eva-Lotte. »Ein Dietrich ist ja nicht die Welt«, fugte sie hinzu, als ob sie niemals etwas anderes getan hatte, als Schlosser mit dem Dietrich auf-zumachen.
        Anders war bereits die ausgetretene Treppe, die in den Keller fuhrte, hinuntergelaufen. Seine braunen Augen leuchteten vor Abenteuerlust. Das war spannend! Nur Kalle fand, da? ein Dietrich etwas Merkwurdiges war. Nein, aber alte Gefangnishohlen, das war etwas! Mit einem bi?chen Phantasie konnte man beinahe das Rasseln der Ketten horen, mit denen die armen Gefangenen hier unten vor vielen hundert Jahren gefesselt waren.

»Hu, ich hoffe, da? es nicht spukt«, sagte Eva-Lotte und kletterte mit scheuen Seitenblicken die Treppe hinunter.

»Sei nicht allzu sicher«, sagte Onkel Einar. »Denk blo?, wenn ein altes bemoostes Gespenst kommt und dich kneift. So zum Beispiel!«

»Au!« schrie Eva-Lotte. »Kneif mich doch nicht! Jetzt bekomme ich einen blauen Fleck auf dem Arm, das wei? ich.« Sie rieb wutend ihren Arm.
        Kalle und Anders schnuffelten uberall herum wie zwei Spur-hunde.

»Denk blo?, wenn man hier so oft sein durfte, wie man will«, sagte Anders begeistert. »Und alles kartographieren konnte!
        Und sein Versteck hier haben konnte!« Er sah in die dunklen Gange hinein, die sich nach allen Seiten hin verzweigten. »Hier konnten sie einen zwei Wochen lang suchen, ohne soviel wie eine Feder zu entdecken. Wenn man etwas ausgefressen hatte und sich verstecken mu?te, dann ware so eine Gefangnishohle hier ein gro?artiges Versteck!«

»Meinst du wirklich?« fragte Onkel Einar.
        Kalle ging umher und schnuffelte mit der Nase beinahe auf der Erde.

»Was machst du denn da?« fragte Onkel Einar.
        Kalle wurde etwas rot.

»Ich wollte blo? mal sehen, ob noch Spuren von den Kerlen ubrig sind, die hier im Gefangnis gesessen haben.«

»Ach, seitdem sind ja hier so viele Menschen gewesen, du Dummerjan«, sagte Eva-Lotte.

»Onkel Einar, du wei?t vielleicht nicht, da? Kalle Detektiv ist?« Anders schien etwas belustigt und uberlegen, als er das sagte.

»Du lieber Himmel, nein, das wu?te ich nicht«, sagte Onkel Einar.

»Ja, wirklich, einer der besten, die es im Augenblick gibt.«
        Kalle sah Anders wutend an.

»Das bin ich sicher nicht«, sagte er. »Aber ich finde, es macht Spa?, sich damit zu beschaftigen. Mit Schurken, die im Gefangnis landen. Da ist doch nichts dabei!«

»Absolut nicht, mein Junge! Ich hoffe, du fangst bald einen ganzen Haufen, den du zusammenbinden und zur Polizei schikken kannst.« Onkel Einar wieherte. Kalle war wutend. Niemand nahm ihn ernst.

»Bilde dir nichts ein«, sagte Anders. »In unserer Stadt hier ist nie ein anderer Schurkenstreich vorgekommen, als da? Friedrich mit dem Fu? eines Sonntags in der Sakristei die Kollekte geklaut hat. Mehr nicht. Im ubrigen hat er sie am nachsten Tag zuruckgebracht, als er wieder nuchtern war.«

»Und jetzt sitzt er immer uber Samstag und Sonntag im Loch, so da? er es nicht noch mal machen kann«, sagte Eva-Lotte lachend.

»Sonst hattest du dich in den Hinterhalt legen und ihn das nachste Mal auf frischer Tat ertappen konnen, Kalle«, sagte Anders. »Dann hattest du zum mindesten einen Spitzbuben erwischt!«

»Jetzt wollen wir aber nicht boshaft sein zu dem Herrn Meisterdetektiv«, sagte Onkel Einar. »Ihr sollt mal sehen, eines Tages rafft er sich auf und setzt einen fest, der eine Tafel Schokolade in Vaters Laden geklaut hat.«
        Kalle kochte vor Wut. Anders und Eva-Lotte konnten ihn vielleicht necken, aber kein anderer. Am allerwenigsten dieser grinsende Onkel Einar.

»Ja, Kalle«, sagte Onkel Einar, »du wirst sicher gut, wenn du fertig bist. - Nein, la? das doch sein!«
        Das letzte war an Anders gerichtet, der einen Bleistift hervor-geholt hatte und seinen Namen auf eine glatte Steinwand schreiben wollte.

»Warum denn?« fragte Eva-Lotte. »Wir wollen unsere Namen und das Datum hinschreiben! Das ware lustig. Vielleicht kommen wir noch mal hierher, wenn wir ganz, ganz alt geworden sind, funfundzwanzig Jahre oder so. Ware das nicht lustig, wenn wir dann unsere Namen hier finden wurden?«

»Ja, das wurde uns an unsere verflossene Jugend erinnern«, sagte Anders.

»Na ja, macht, was ihr wollt«, sagte Onkel Einar.
        Kalle bockte ein bi?chen. Er wollte erst nicht mitmachen, aber zuletzt besann er sich, und bald standen alle drei Namen in einer zierlichen Linie da: Eva-Lotte Lisander, Anders Bengtsson, Kalle Blomquist.

»Willst du nicht auch deinen Namen hinschreiben?« fragte Eva-Lotte.

»Du kannst vollkommen sicher sein, da? ich das nicht tue«, sagte Onkel Einar. »Im ubrigen ist es hier kalt und feucht, und das ist nicht gut fur meine alten Knochen. Jetzt gehen wir wieder raus in die Sonne!«

»Und nun noch etwas«, fuhr er fort, als die Tur wieder hinter ihnen zugefallen war. »Wir sind nicht hier gewesen, versteht ihr? Kein Gerede!«

»Was? Durfen wir nicht davon reden?« fragte Eva-Lotte mi?vergnugt.

»Nein, meine schone junge Dame! Das ist ein Staatsgeheim-nis«, sagte Onkel Einar.
»Und vergi? es nicht! Sonst kneife ich dich vielleicht wieder.«

»Das sollst du blo? wagen!« sagte Eva-Lotte.
        Die Sonne blendete sie, als sie aus dem dunklen Ruinenge-wolbe heraustraten, und die Warme erschien ihnen beinahe uberwaltigend.

»Ob ich versuche, mich ein bi?chen beliebt zu machen?«
        fragte Onkel Einar. »Soll ich euch zu Limonade und Kuchen in den Konditoreigarten einladen?«
        Eva-Lotte nickte gnadig.

»Manchmal machst du ganz vernunftige Vorschlage!«
        Sie bekamen einen Tisch ganz dicht am Gelander unten am Flu?. Man konnte den kleinen Fischen, die hungrig ange-schwommen kamen und sich bis an die Oberflache stellten, Brotkrumen zuwerfen. Einige Linden gaben einen angenehmen Schatten. Und als Onkel Einar eine gro?e Platte mit Kuchen und drei Flaschen Saft bestellte, fing sogar Kalle an, seine Anwesenheit in der Stadt ganz ertraglich zu finden.
        Onkel Einar schaukelte auf dem Stuhl, warf den Fischen einige Brotkrumen zu, trommelte mit den Fingern auf dem Tisch und pfiff ein bi?chen. Und dann sagte er:
»E?t, soviel ihr reinkriegen konnt, aber beeilt euch! Wir konnen nicht den ganzen Tag hier sitzen.«

»Wie komisch er ist«, dachte Kalle. »Er will niemals lange bei einer Sache bleiben.«
        Und er war immer mehr davon uberzeugt, da? Onkel Einar eine unruhige Natur war. Er selbst hatte wer wei? wie lange hier im Konditoreigarten sitzen mogen und den Kuchen genie?en und die lustigen Fische und die Sonne und die Musik. Er konnte nicht verstehen, da? ein Mensch es so eilig haben konnte, von hier wegzukommen.
        Onkel Einar sah auf seine Uhr.

»Um diese Zeit mu? wohl schon die ›Stockholmer Zeitung‹ gekommen sein«, sagte er.
»Du, Kalle, du bist jung und gesund, lauf zum Kiosk und hole eine fur mich!«

»Klar, da? gerade ich laufen soll«, dachte Kalle.

»Anders ist bedeutend junger und gesunder«, sagte er.

»Wirklich?«

»Ja, er ist funf Tage spater als ich geboren. Wenn er auch naturlich nicht so dienstbereit ist wie ich«, sagte Kalle und fing die Krone auf, die Onkel Einar ihm zuwarf.

»Aber dann will ich wenigstens ein bi?chen reingucken«, sagte er fur sich, als er die Zeitung bekommen hatte. »Zum mindesten auf die Uberschriften. Und die Bildgeschichten.« Es war ungefahr wie immer. Erst eine ganze Menge von den Atombomben und dann ein Haufen Politik, was keinen Menschen interessieren konnte. Und »Zusammensto? zwischen Autobus und Zug«, »Roher Uberfall auf einen alten Mann«, »Wutende Kuh verursacht Panik«, und »Gro?er Juwelendiebstahl«. Nichts besonders Spannendes, entschied Kalle.
        Aber Onkel Einar griff eifrig nach der Zeitung. Er blatterte sie schnell durch, bis er zu der Seite kam, wo die letzten Neuigkeiten standen. Dort vertiefte er sich in einen Artikel, so da? er nicht horte, als Eva-Lotte fragte, ob sie noch ein Stuck Kuchen nehmen durfe.

»Was kann das sein, was ihn so furchtbar interessiert?« dachte Kalle. Er hatte sich gern hinter ihn gestellt, aber er war nicht sicher, ob Onkel Einar das gefallen wurde. Offenbar war es nur eine Sache, die er las, denn er lie? schnell die Zeitung fallen und lie? sie liegen, als sie bald danach die Konditorei verlie?en.
        Auf der Hauptstra?e ging Schutzmann Bjork.

»Hallo, Onkel Bjork!« rief Eva-Lotte.

»Hallo«, sagte der Schutzmann und legte die Hand an die Mutze. »Bist du noch nirgends runtergefallen und hast dir das Genick gebrochen?«

»Noch nicht ganz«, sagte Eva-Lotte. »Aber morgen will ich auf den Aussichtsturm im Stadtpark klettern, vielleicht wird es da was. Naturlich, wenn Sie nicht kommen und mich runterholen.«

»Ich will es versuchen«, sagte der Schutzmann.
        Onkel Einar kniff Eva-Lotte ins Ohr.

»Soso, du bist mit der Polizeimacht liiert«, sagte er.

»Ach, la? das doch sein«, sagte Eva-Lotte. »Ist er ubrigens nicht zum Sterben schick?«

»Wer? Ich?«

»Nein«, sagte Eva-Lotte. »Schutzmann Bjork naturlich!«
        Vor einem Eisenwarengeschaft blieb Onkel Einar stehen.

»Auf Wiedersehen so lange, Kinder«, sagte er. »Ich gehe mal hier rein.«

»Schon«, sagte Eva-Lotte, als er verschwunden war.

»Ja, denn wenn er uns auch mit Kuchen traktiert, was Richtiges wird es doch nicht, wenn er sich die ganze Zeit an uns hangt«, sagte Anders.
        Dann vergnugten sich Anders und Eva-Lotte damit, sich auf die Brucke zu stellen und zu sehen, wer am weitesten in den Flu? spucken konnte. Kalle beteiligte sich nicht. Es fiel ihm plotzlich ein, ob er rauskriegen konnte, was Onkel Einar im Eisenwarengeschaft kaufen wollte.

»Die reine Routinearbeit«, sagte er sich. »Aber man kann eine ganze Menge uber einen Menschen erfahren, wenn man wei?, was er in Eisenwarengeschaften kauft. Wenn er ein elek-trisches Bugeleisen kauft«, dachte Kalle, »dann ist er eine hausliche Natur, und wenn er einen Schlitten kauft - ja, wenn er einen Schlitten kauft, dann ist er nicht richtig bei Troste! Bei den augenblicklichen Schneeverhaltnissen durfte er wirklich wenig Nutzen davon haben. Aber ich konnte Gift drauf nehmen, da? es kein Schlitten ist, den er da kaufen will.«
        Kalle stellte sich an das Schaufenster und sah in den Laden. Da drinnen stand Onkel Einar. Der Verkaufer war gerade dabei, etwas zu zeigen. Kalle legte die Hand uber die Augen und versuchte zu sehen, was es war. Es war - es war eine Taschenlampe!
        Kalle dachte nach, da? es nur so krachte. Wozu brauchte Onkel Einar eine Taschenlampe? Mitten im Sommer, wo es beinahe die ganze Nacht uber hell war! Erst einen Dietrich und dann eine Taschenlampe! Was war es sonst, wenn nicht im hochsten Grade mystisch? Onkel Einar war eine im hochsten Grade mystische Person, entschied Kalle. Und er, Kalle Blomquist, war nicht der, der mystische Personen ohne Uberwa-chung herumlaufen lie?. Onkel Einar wurde sofort unter Kalle Blomquists besondere Aufsicht gestellt werden.
        Plotzlich fiel ihm etwas ein. Die Zeitung! Wenn eine mystische Person so auffallend an etwas interessiert ist, was in der Zeitung steht, so ist auch das mystisch und bedarf naherer Untersuchung. Die reine Routinearbeit!
        Er lief zuruck in den Konditoreigarten. Die Zeitung lag noch auf dem Tisch. Kalle nahm sie und steckte sie unter sein Hemd.
        Er wollte sie aufheben. Selbst wenn er jetzt nicht herauskriegen konnte, was Onkel Einar so eifrig gelesen hatte, dann konnte sie spater vielleicht einen Hinweis geben.
        Meisterdetektiv Blomquist ging nach Hause und go? die Erdbeeren, sehr zufrieden mit sich selbst.
        DRITTES KAPITEL

»Etwas mu? geschehen«, sagte Anders. »Wir konnen nicht den ganzen Sommer rumlaufen und die Beine hinter uns nachzie-hen. Was wollen wir anfangen?« Er fuhr mit den Fingern durch sein dickes schwarzes Haar und sah nachdenklich aus.

»Funf Ore fur den, der eine Idee ausheckt«, sagte Eva-Lotte.

»Zirkus«, sagte Kalle zogernd. »Wie ware es, wenn wir einen Zirkus aufmachten?«
        Eva-Lotte sprang vom Schaukelbrett runter.

»Die funf Ore sind dein! Wir wollen sofort anfangen!«

»Aber wo soll er stattfinden?« fragte Anders.

»In unserem Garten - wo denn sonst!« entschied Eva-Lotte.
        Ja, Backermeisters Garten war fur alles zu gebrauchen, warum sollte man keinen Zirkus da aufmachen konnen? Der ge-pflegtere Teil des Gartens mit prunkenden Rabatten und ge-harkten Wegen breitete sich vor dem Wohnhaus aus. Aber hinter dem Hause, wo der Garten bis zum Flu? hinunterging, be-durfte er keiner Instandhaltung. Und hier war er ein idealer Platz fur alle Arten von Spielen. Da war ein Rasenplatz mit kurzem Gras, der sich ausgezeichnet fur Fu?ball und Krocket und alle moglichen anderen Sportubungen eignete.
        Ganz in der Nahe lag die Backerei. Der wunderbare Duft von frisch gebackenem Brot schwebte daher bestandig uber diesem Teil des Gartens und mischte sich auf eine besonders angenehme Art mit dem Duft des Flieders. Wenn man sich beharrlich in der Nahe der Backerei aufhielt, konnte es passieren, da? Eva Lottes Vater seinen wei?bemutzten Kopf durch das offene Fenster steckte und fragte, ob man eine frische Schnecke oder ein Stuck Wiener Brot haben wollte.
        Weiter unter am Flu? wuchsen ein paar alte Ulmen, die vorzuglich zum Herumklettern geeignet waren. Man konnte sogar ohne Schwierigkeit bis in die Wipfel hinaufklettern, und von da aus hatte man eine wunderbare Aussicht uber die ganze Stadt.
        Man konnte den Flu? sehen, der sich wie ein silbernes Band zwischen alten Hausern schlangelte, man konnte die Garten und die kleine, altertumliche Holzkirche sehen und ganz weit weg das Hochplateau mit der Schlo?ruine.
        Der Flu? bildete eine naturliche Grenze fur den Garten. Eine knorrige Weide streckte sich weit uber das Wasser. Man konnte oben in der Weide sitzen und angeln. Eva-Lotte und Anders und Kalle taten das oft. Wenn auch Eva-Lotte naturlich immer den besten Sitzplatz hatte.

»Der Zirkus mu? vor der Backerei sein«, sagte Eva-Lotte.

»Vor dem Giebel!«
        Kalle und Anders nickten zustimmend.

»Wir mussen uns eine Persenning borgen«, sagte Anders.

»Wir mussen den Platz einzaunen und Banke fur die Zuschauer aufstellen. Dann ist alles fertig.«

»Wie ware es, wenn wir auch ein paar Zirkusnummern ein-
        uben wurden?« fragte Kalle sarkastisch. »Du, Anders, brauchst dich naturlich nur zu zeigen, damit die Leute finden, sie hatten was fur ihr Geld bekommen; du brauchst dir also keine besonderen Clownnummern einzuuben. Aber wir mussen wohl auch ein bi?chen Akrobatenkunststucke zeigen oder so was Ahnliches.«

»Ich werde reiten«, sagte Eva-Lotte eifrig. »Ich werde mir unser Brotwagenpferd ausleihen. Das wird wunderbar!« Sie warf den noch nicht vorhandenen Zuschauern Ku?hande zu.

»Kunstreiterin Eva-Charlotte, konnt ihr mich nicht sehen?«
        fragte sie.
        Kalle und Anders betrachteten sie mit anbetenden Blicken.
        Ja, sie konnten sie sehr gut sehen.
        Mit Leib und Seele gingen die Zirkuskunstler ans Werk. Der von Eva-Lotte vorgeschlagene Platz war ohne Zweifel der beste, der sich finden lie?. Der sudliche Giebel der Backerei bildete einen geeigneten Hintergrund fur die Kunstlernummern. Der feste, grasbewachsene Platz davor reichte sowohl fur eine Arena als auch fur die Zuschauer. Das einzige, was man brauchte, war ein Zelttuch, das die Arena von den Zuschauern abschlo? und das man zur Seite ziehen konnte, wenn die Vorstellung anfing.
        Mehr Sorgen bereitete ihnen das Problem mit dem Umkleide-raum fur die Kunstler. Aber Eva-Lottes flinkes Gehirn hatte eine Losung gefunden. Uber der Backerei war ein Bodenraum.
        Durch eine gro?e Luke an dem sudlichen Giebel konnte man Waren in diesen Bodenraum hineinbefordern, ohne da? man eine Treppe brauchte.

»Und wenn man etwas reinbefordern kann, dann kann man auch etwas rausbefordern«, sagte Eva-Lotte. »Und das, was rauskommt, das sind wir. Wir machen oben einen Strick fest, und jedesmal, wenn wir dran sind zum Auftreten, kommen wir in den Zirkus runtergerutscht. Wenn die Nummer zu Ende ist, schleichen wir uns vorsichtig raus, ohne da? die Zuschauer es merken, und laufen die Treppe rauf und bleiben auf dem Boden, bis es Zeit ist, wieder runterzurutschen. Das wird kolossal apart, findet ihr nicht?«

»Ja, das wird kolossal apart«, sagte Anders. »Wenn du dann das Pferd dazu kriegen konntest, auch am Strick runterzurutschen, dann ware es noch kolossal aparter. Aber das scheint etwas schwieriger zu sein. Sicher ist es zahm und gutmutig, aber auch fur ein Pferd gibt es Grenzen!«

»Wenn ich reiten soll, mu? einer von euch Stallknecht sein und das Pferd durch die Zuschauer hindurch hereinfuhren und es unter die Luke hinstellen, und dann - bums - komme ich direkt auf seinen Rucken runtergesaust.«
        Sie setzten sofort die Vorbereitungen in Gang. Kalle bekam von seinem Vater Persennings geborgt, Anders radelte zu einem Holzplatz etwas au?erhalb der Stadt und kaufte einen Sack Sagespane, die auf die Arena gestreut wurden. Der Strick wurde oben auf dem Boden festgemacht, und die drei Zirkuskunstler ubten sich im Rutschen, so da? sie fast alles andere verga?en.
        Mittendrin kam Onkel Einar angeschlendert.

»Denkt blo?, da? er einen ganzen Nachmittag allein fertig werden konnte!« flusterte Eva-Lotte den Jungen zu.

»Wer von euch lauft fur mich mit einem Brief zur Post?« rief Onkel Einar.
        Die drei sahen einander an. Niemand hatte eigentlich Lust.
        Aber da erwachte Kalles Pflichtgefuhl. Onkel Einar war eine mystische Person, und die Korrespondenz mystischer Personen mu?te man uberwachen.

»Ich gehe!« rief er.
        Eva-Lotte und Anders sahen ihn erstaunt an.

»Genau wie ein Pfadfinder, immer bereit«, sagte Onkel Einar.
        Kalle nahm den Brief und ging los. Sobald er au?er Sehweite war, sah er auf die Adresse.

»Fraulein Lola Hellberg, Stockholm, p. r.«, stand da. »P. r.« bedeutete »poste restante«, das hei?t: der Adressat sollte selbst den Brief von der Post holen, das wu?te Kalle.

»Dunkel«, dachte er. »Warum kann er nicht an ihre richtige Adresse schreiben?«
        Er holte ein Notizbuch aus seiner Hosentasche und schlug es auf. »Verzeichnis uber verdachtige Personen« stand oben auf der einen Seite. Das Verzeichnis hatte fruher eine ansehnliche Zahl von Personen umfa?t. Aber Kalle hatte sich trauernden Herzens genotigt gesehen, eine nach der anderen zu streichen, nachdem es ihm nicht gelungen war, etwas Verbrecherisches bei ihnen festzustellen. Im Augenblick gab es daher nur eine Person auf der Liste, und das war Onkel Einar. Sein Name war rot un-terstrichen, und darunter stand sehr genau seine Personalbeschreibung. Danach kam eine neue Rubrik: »Besonders verdachtige Umstande«. »Besitzt Dietrich und Taschenlampe«, stand da. Allerdings besa? Kalle selbst eine Taschenlampe, aber das war eine ganz andere Sache.
        Mit einiger Muhe fischte er einen Bleistiftstummel aus seiner Tasche, und mit einem Brett als Unterlage schrieb er folgenden Zusatz in sein Notizbuch:
»Korrespondiert mit Fraulein Lola Hellberg, Stockholm, p. r.« Dann lief er zum nachsten Briefkasten und war in wenigen Sekunden zuruck beim Zirkus »Kalottan«, wie das Zirkusunternehmen nach reiflicher Uberlegung getauft worden war.

»Was bedeutet das?« fragte Onkel Einar.

»Ka fur Kalle, Lott fur Eva-Lotte und An fur Anders, das ist doch klar«, sagte Eva-Lotte. »Im ubrigen darfst du nicht zusehen, wenn wir proben.«

»Das ist ein hartes Gebot«, sagte Onkel Einar. »Was soll ich den ganzen Tag anfangen?«

»Geh zum Flu? runter und angle«, schlug Eva-Lotte vor.

»Himmel! Willst du, da? ich einen Nervenzusammenbruch bekomme?«

»Eine sehr unruhige Natur«, dachte Kalle.
        Eva-Lotte hatte jedoch kein Erbarmen. Sie jagte Onkel Einar mitleidlos fort. Und die Proben im Zirkus »Kalottan« wurden mit hochster Energie aufgenommen.
        Anders war der Starkste und Geschickteste, und daher war es nicht mehr als recht und billig, da? er Zirkusdirektor wurde.

»Aber etwas will ich auch bestimmen«, sagte Eva-Lotte.

»Du bestimmst, wo es hinpa?t«, sagte Anders. »Bin ich Direktor, dann bin ich es.«
        Der Zirkusdirektor hatte es sich in den Kopf gesetzt, eine wirklich feine Akrobatentruppe zu zeigen, und er zwang Kalle und Eva-Lotte, viele Stunden zu trainieren.

»So!« sagte er schlie?lich zufrieden, als Eva-Lotte im blauen Gymnastikanzug lachend und aufrecht mit einem Fu? auf seiner und dem anderen Fu? auf Kalles Schulter stand. Die Jungen standen breitbeinig auf dem grunen Schaukelbrett, so da? Eva-Lotte etwas hoher zu stehen kam, als sie es selbst gut fand. Aber es ware ihr lieber gewesen, zu sterben, als zuzugeben, da? sie ein etwas unbehagliches Gefuhl in der Magengegend hatte, wenn sie hinuntersah.

»Es ware machtig fein, wenn du dich eine Weile auf die Hande stellen konntest«, pre?te Anders hervor, wahrend er versuchte fest zu stehen. »Das wurde Erfolg haben!«

»Es ware machtig fein, wenn du auf deinem eigenen Kopf sitzen konntest«, sagte Eva-Lotte kurz. »Das wurde noch mehr Erfolg haben.«
        Da ertonte durch den Garten ein furchtbares Geheul, ein unmenschlicher Laut wie von einem Wesen in hochster Not.
        Eva-Lotte stie? einen Schrei aus und tat einen lebensgefahrli-chen Sprung auf die Erde.

»Was ist das?« fragte Eva-Lotte.
        Alle drei sturzten aus dem Zirkus. Einen Augenblick spater kam ein graues Knauel auf sie losgefahren. Es war das Knauel, das die schrecklichen Tone ausstie?. Und das Knauel war Tusse, Eva-Lottes Katze.

»Tusse, o Tusse, was ist denn?« keuchte Eva-Lotte. Sie nahm die Katze, ohne sich darum zu kummern, da? sie kratzte und bi?.

»Oh«, sagte Eva-Lotte, »jemand hat … Oh, das ist schandlich!
        Jemand hat ihr das hier angebunden, um sie zu Tode zu erschrecken.«
        An dem Schwanz der Katze war eine Schnur festgebunden, und an der Schnur hing eine Blechdose, die bei jedem Sprung furchtbar klapperte. Eva-Lotte stromten die Tranen herunter.

»Wenn ich wu?te, wer das gemacht hat, dem wurde ich …«
        Sie blickte auf. Zwei Schritte von ihr stand Onkel Einar. Er lachte vergnugt.

»Ach, ach«, sagte er, »das war das Komischste, was ich je in meinem Leben gesehen habe.«
        Eva-Lotte sturzte auf ihn zu. »Hast du das getan?«

»Was getan? Du gro?er Gott, was fur Sprunge die Katze machen konnte. Warum hast du die Dose abgemacht?«
        Eva-Lotte stie? einen Schrei aus und sturzte sich auf ihn. Sie schlug ihn mit den Fausten, wo sie nur hinkommen konnte, wahrend die Tranen weiter uber ihre Wangen herunterliefen.

»Das ist abscheulich, oh, das ist schandlich! Ich hasse dich!«
        Da verstummte das lustige Gewieher. Das Gesicht Onkel Einars machte eine eigentumliche Verwandlung durch. Es bekam einen gehassigen Ausdruck, der Anders und Kalle, die als unbe-wegliche Zuschauer dabeistanden, erschreckte. Er fa?te mit einem harten Griff Eva-Lottes Arm und stie? beinahe zischend hervor: »Hor auf, Madel! Oder ich zerdrucke dir samtliche Knochen im Leibe!«
        Eva-Lotte holte tief und keuchend Atem. Ihre Arme fielen kraftlos unter Onkel Einars hartem Griff herunter. Sie starrte ihn erschrocken an. Er lie? sie los und strich sich etwas verlegen uber sein Haar. Dann lachte er und sagte:

»Was fallt uns eigentlich ein? Sind wir in einen Boxkampf geraten, oder was ist sonst los? Ich glaube, du hast die erste Runde gewonnen, Eva-Lotte!«
        Eva-Lotte gab keine Antwort. Sie nahm ihre Katze, drehte sich auf der Ferse herum und ging hoch aufgerichtet davon.
        VIERTES KAPITEL
        Es war Kalle ganz unmoglich zu schlafen, wenn Mucken im Zimmer waren. Jetzt hatte ihn wieder so ein Vieh geweckt.

»Biest«, murmelte er. Er kratzte sich am Kinn, wo die Mucke ihn gestochen hatte. Dann sah er auf die Uhr. Gleich eins. Eine Zeit, da alle anstandigen Menschen schlafen sollten.

»Dabei fallt mir ein«, dachte er, »ob der Katzenqualer schlaft?« Er tappte zum Fenster hin und schaute hinaus. Es war Licht im Giebelzimmer. »Wenn er etwas mehr schlafen wurde, so ware er vielleicht keine so unruhige Natur«, dachte Kalle.

»Und wenn er nicht eine so unruhige Natur ware, wurde er vielleicht etwas mehr schlafen.«
        Es war, als ob Onkel Einar ihn gehort hatte, denn in diesem Augenblick ging das Licht im Giebelzimmer aus. Kalle wollte gerade wieder ins Bett kriechen, als plotzlich etwas eintrat, was ihn die Augen aufsperren lie?. Onkel Einar schaute vorsichtig aus dem offenen Fenster, und als er sich davon uberzeugt hatte, da? niemand in der Nahe war, kletterte er auf die Feuerleiter hinaus und stand nach wenigen Augenblicken auf der Erde. Er hielt etwas unter dem einen Arm. Mit raschen Schritten ging er zum Gerateschuppen neben der Backerei.
        Zuerst standen Kalles Gedanken ganz still, und er war so gelahmt vor Erstaunen, da? er untatig dastand. Aber dann sturzte eine Flut von Gedanken, Vermutungen und Fragen auf ihn ein.
        Er zitterte vor Spannung und Gluck. Endlich, endlich gab es jemand, der wirklich mystisch war, nicht nur auf den ersten Blick, sondern auch nach eingehenderem Studium. Denn wenn etwas mystisch war, so war es dies: ein erwachsener Mensch, der mitten in der Nacht aus dem Fenster kletterte! Wenn er nicht dunkle Geschafte vorgehabt hatte, konnte er sich ja der gewohnlichen Treppe bedient haben!
»Schlu?satz Nummer eins«, sagte sich Kalle: »Er will nicht, da? jemand im Hause horen soll, da? er ausgeht. Schlu?satz Nummer zwei: Er hat etwas Unheimliches vor - ach, ach, hier stehe ich wie ein Schaf und tue nichts!«
        Kalle sprang in seine Hosen in einer Fahrt, die einem Feuer-wehrmann Ehre gemacht hatte. Er schlich so schnell und so leise wie moglich die Treppe hinunter, wahrend er ein stilles Gebet sprach: »Mochte blo? Mutter mich nicht horen!«
        Der Gerateschuppen! Warum war Onkel Einar dahin gegangen? Himmel, wenn er die Absicht hatte, ein Werkzeug zu nehmen, um die Leute damit totzuschlagen! Kalle war sehr geneigt, Onkel Einar als den Morder zu betrachten, den er so lange gesucht hatte, einen Mr. Hyde, der auf Missetaten ausging, sobald die Dunkelheit sich uber die Stadt gesenkt hatte.
        Die Tur zum Gerateschuppen war angelehnt. Aber Onkel Einar war verschwunden. Kalle schaute sich unschlussig nach allen Seiten um. Da! In einiger Entfernung sah er eine dunkle Gestalt, die sich schnell entfernte. Aber dann bog die Gestalt um eine Stra?enecke und war au?er Sehweite.
        Nun kam Fahrt in Kalle. Er galoppierte in der gleichen Richtung los. Hier galt es die gro?te Eile, wenn man ein schreckliches Verbrechen verhindern wollte! Wahrend er rannte, fiel ihm plotzlich ein: Was konnte er eigentlich machen? Was wollte er zu Onkel Einar sagen, wenn er ihn eingeholt hatte? Oder -wenn nun er, Kalle, es war, der fur Onkel Einars Missetat auser-sehen war?
        Sollte er zur Polizei gehen? Aber man konnte nicht gut zur Polizei gehen und sagen: »Dieser Mann hier ist mitten in der Nacht aus dem Fenster geklettert! Verhaften Sie ihn!« Es gab kein Gesetz, das jemanden hinderte, die Nachte hindurch zum Fenster hinaus- und hineinzuklettern, wenn er Lust dazu hatte.
        Es war nicht einmal verboten, einen Dietrich zu haben. Nein, die Polizei wurde ihn blo? auslachen!
        Im ubrigen - wo war Onkel Einar? Kalle konnte ihn nirgends entdecken. Er war wie vom Erdboden verschluckt. Na, da brauchte er sich keine Sorgen mehr zu machen. Aber es argerte ihn furchtbar, da? er die Spur verloren hatte. Selbst wenn er sich mit Onkel Einar nicht in offenen Kampf begeben wollte, so gehorte es naturlich zu seinen Pflichten als Detektiv, ihm nach-zugehen und zu erkunden, was er vorhatte. Ein stiller, unbemerkter Zeuge, der spater einmal vortreten und sagen konnte:

»Herr Richter! In der Nacht zum 20. Juni kletterte der Mann, den wir jetzt auf der Anklagebank sehen, durch ein Fenster im obersten Stockwerk des Hauses von Backermeister Lisander hier in der Stadt, stieg die Feuerleiter hinunter, ging zu einem im Garten des gleichen Backermeisters gelegenen Gerateschuppen, und danach …
        Ja, das war es gerade! Was machte er danach? Daruber wurde Kalle niemals etwas berichten konnen.
        Onkel Einar blieb verschwunden.
        Kalle machte sich mi?mutig auf den Heimweg. An einer Stra?enecke stand Schutzmann Bjork.

»Was machst du denn hier drau?en mitten in der Nacht?« fragte er.

»Haben Sie einen Mann hier vorbeigehen sehen, Onkel Bjork?« unterbrach Kalle ihn eifrig.

»Einen Mann? Nein, hier war au?er dir kein Mensch zu sehen. Geh eiligst nach Hause und ins Bett. Das wurde ich auch tun, wenn ich durfte!«
        Kalle ging. Kein Mann war zu sehen gewesen! Nein, man wu?te ja, wieviel die Polizisten sahen! Eine ganze Fu?ballmann-schaft konnte vorbeikommen, ohne da? sie es merkten! Obwohl Kalle ja gern bei Schutzmann Bjork eine Ausnahme machen wollte. Er war sicher besser als andere Polizisten. Aber - »geh nach Hause und ins Bett« hatte er gesagt! Ja, das ware gerade das richtige! Der einzige, der wirklich die Augen offen hatte, wurde offentlich von der Polizei ermahnt, ins Bett zu gehen!
        Kein Wunder, da? es so viele unaufgeklarte Verbrechen gab!
        Aber es schien tatsachlich nichts anderes moglich zu sein, als nach Hause und ins Bett zu gehen. Und das tat Kalle dann auch.
        Am nachsten Tag wurden die Proben im Zirkus Kalottan fortgesetzt.

»Ist Onkel Einar schon aufgestanden?« fragte Kalle Eva-Lotte.

»Wei? nicht. Und ich frage auch nicht danach. Aber ich hoffe, da? er den ganzen Vormittag schlaft, damit Tusse ihre verhed-derten Nerven wieder aufwickeln kann.«
        Es dauerte jedoch nicht lange, bis Onkel Einar erschien. Er hatte eine gro?e Tute Schokoladenkonfekt mit, die er Eva-Lotte zuwarf.

»Die Zirkusprimadonna braucht vielleicht etwas zur Starkung!«
        Eva-Lotte kampfte einen harten Kampf mit sich. Sie liebte Schokoladenkonfekt, ganz gewi?, aber die Loyalitat mit Tusse verlangte ja, die Tute mit einem gemessenen
»nein, danke« zuruckzuwerfen. Sie wog die Tute in der Hand, und dieses Gemessene wollte so schwer herauskommen. Wie ware es, wenn sie ein Stuck kostete und dann die Tute zuruckwarf? Und dann Tusse einen Fisch gab? Nein, das war kein guter Gedanke. Aber nun hatte sie so lange gezogert, da? die Gelegenheit, eine gro?e Geste zu machen, bereits versaumt war. Onkel Einar ging auf den Handen, und einem Menschen in dieser Stellung eine Tute Konfekt zuruckzugeben, gehort nicht gerade zu den leichtesten Dingen.
        Eva-Lotte behielt die Tute - sie wu?te wohl, da? sie als Versohnungsversuch gedacht war. Sie beschlo?, Tusse zwei Fische zu geben und in Zukunft Onkel Einar hoflich, aber kalt zu be-handeln.

»Bin ich nicht tuchtig?« fragte Onkel Einar, als er wieder auf die Fu?e gekommen war. »Kann ich nicht auch eine Anstellung beim Zirkus Kalottan bekommen?«

»Nein, Erwachsene durfen nicht dabeisein«, sagte Anders in seiner Eigenschaft als Zirkusdirektor.

»Nirgends finde ich Verstandnis«, seufzte Onkel Einar.

»Was sagst du, Kalle, findest du nicht, da? ich hart behandelt werde?«
        Aber Kalle horte nicht, was er sagte. Er starrte wie fasziniert auf einen Gegenstand, der aus Onkel Einars Tasche gefallen war, als er auf den Handen lief. Der Dietrich! Da lag er im Gras
        - Kalle hatte ihn nehmen konnen … Er nahm sich zusammen.

»Hart behandelt - wieso denn?« fragte er und setzte seinen Fu? auf den Dietrich.

»Ich darf ja nicht mitspielen«, klagte Onkel Einar.

»Atsch«, sagte Eva-Lotte.
        Kalle war froh, da? die Aufmerksamkeit von ihm abgelenkt wurde. Er fuhlte den Dietrich unter seinem nackten Fu?. Jetzt mu?te er ihn aufheben und zu Onkel Einar sagen: »Du hast das hier verloren!« Aber er konnte es nicht uber sich bringen. Statt dessen steckte er den Dietrich unbemerkt in seine Tasche.

»Auf die Platze!« rief der Zirkusdirektor. Und Kalle tat einen Sprung auf das Schaukelbrett.
        Ein hartes Leben ist das der Zirkuskunstler! Training, immer nur Training! Die Junisonne brannte, und der Schwei? rann den »Drei Desperados, die beste Akrobatentruppe Skandinavi-ens« herunter. So bezeichnete Eva-Lotte sie auf den hubsch gemalten Plakaten, die uberall an den Hausecken der Umgebung angeklebt waren.

»Wollen die drei Desperados nicht jeder eine Schnecke haben?« Backermeister Lisanders freundliches Gesicht kam im Fenster der Backerei zum Vorschein.

»Danke«, sagte der Zirkusdirektor. »Vielleicht spater. Hungrige Hunde jagen am besten.«

»Das ist das Unglaublichste, was ich je erlebt habe«, sagte Eva-Lotte. Die Konfekttute war schon lange leer, und sie hatte das Gefuhl, als ob ihr Magen es auch ware nach all der Turnerei.

»Ja, wir konnen doch mal eine kleine Pause machen«, sagte Kalle und trocknete sich den Schwei? von der Stirn.

»Es hat wohl keinen Zweck, da? ich Zirkusdirektor bin, wenn ihr bestimmen wollt.« Anders war unwirsch. »Das sind schone Desperados, mu? ich sagen! Schneckendesperados mu?te eigentlich auf den Plakaten stehen.«

»Essen mu? man, sonst stirbt man«, sagte Eva-Lotte und lief in die Kuche nach Fruchtsaft.
        Und als der Backermeister dann eine ganze Tute voll mit frischen Schnecken durch das Fenster reichte, gab der Zirkusdirektor seinen Widerstand seufzend, aber im stillen ganz zufrieden auf. Er tauchte die Schnecken ein und a? mehr als die anderen. Es war selten, da? es bei ihnen zu Hause Schnecken gab, und es waren so viele, mit denen er teilen mu?te. Allerdings sagte der Vater stets und standig:
»Jetzt sollst du mal Schnecken zu sehen bekommen!« Aber damit meinte er dann niemals Wei?brot, damit meinte er Prugel! Und da Anders fand, da? er genugend von dieser Ware bekommen hatte, hielt er sich soviel wie moglich von zu Hause weg. Ihm gefiel die Atmosphare bei Kalle und Eva-Lotte besser.

»Dein Alter ist verdammt nett«, sagte Anders.

»Gibt’s nicht so bald wieder«, gab Eva-Lotte zu. »Und lustig ist er auch. Er ist so furchtbar ordentlich, da? Mutter sagt, sie wird ganz kaputt davon. Und das Schlimmste fur ihn sind Kaffeetassen mit abgeschlagenen Ohren. Er sagt, da? Mutter und ich und Frida nichts anderes machen als die Ohren von den Kaffeetassen abschlagen. Gestern kaufte er zwei Dutzend neue, und als er damit nach Hause kam, nahm er einen Hammer und schlug alle Ohren ab. ›Damit ihr euch die Muhe spart‹, sagte er, als er sie in die Kuche brachte. Mutter lachte derma?en, da? sie Bauchschmerzen bekam.« Eva-Lotte nahm eine neue Schnecke.

»Aber den Onkel Einar kann Vater nicht leiden«, setzte sie hinzu.

»Vielleicht schlagt er ihm auch die Ohren ab«, schlug Anders vor und hieb seine Zahne in eine Schnecke.

»Das wei? man nicht«, sagte Eva-Lotte. »Vater sagt, da? er ganz gewi? verwandtschaftliche Gefuhle habe, aber wenn er alle Kusinen und Vettern und Tanten und Onkel von Mutter im Hause herumlaufen hatte, dann mochte er wunschen, er sa?e in einer Einzelzelle in irgendeinem abseits gelegenen Gefangnis.«

»Ich glaube, da sollte Onkel Einar lieber sitzen«, sagte Kalle schnell.

»Haha, du hast naturlich herausbekommen, da? es Onkel Einar war, der den Mord in Stockholm begangen hat, was?«

»Spotte du nur«, sagte Kalle. »Ich wei?, was ich wei?.«
        Anders und Eva-Lotte lachten.

»Ja, was wei? ich denn eigentlich«, dachte Kalle eine Weile spater, als die Proben fur heute zu Ende waren. »Ich wei? uberhaupt nichts - das ist alles, was ich wei?.
        Er war mi?gestimmt. Aber da fiel ihm plotzlich der Dietrich ein. Er wurde ganz zapplig vor Spannung und Erwartung. Er hatte einen Dietrich in der Tasche, und auf irgendeine Weise mu?te er versuchen, ihn auszuprobieren. Alles, was er brauchte, war eine verschlossene Tur. Warum nicht mit der gleichen Tur versuchen, die Onkel Einar geoffnet hatte? Die Tur zum Kellergescho? in der Schlo?ruine!
        Kalle uberlegte nicht lange. Er rannte durch die Stra?en, aus Furcht, einen Bekannten zu treffen, der sich ihm anschlie?en wollte. Und als er am Hochplateau angekommen war, rannte er die gewundene Treppe mit einer solchen Fahrt hinauf, da? er erst eine Weile ausruhen mu?te, als er endlich vor der verschlossenen Tur stand, ehe er wieder normal Atem holen konnte. Seine Hand zitterte etwas, als er den Dietrich in das Schlo? steckte. Wurde es ihm gelingen?
        Zuerst sah es nicht so aus. Aber nachdem er eine Weile versucht hatte, merkte er, da? das Schlo? nachgab. So einfach war das also! Er, Kalle Blomquist, hatte eine Tur mit einem Dietrich geoffnet! Die Tur kreischte, als sie sich in ihren Angeln bewegte. Kalle zogerte einen Augenblick. Es schien ihm sehr unheimlich, allein in die dunklen Kellerregionen hinunterzugehen.
        Naturlich war er zu keinem anderen Zweck hergekommen, als den Dietrich auszuprobieren, aber da der Zugang nun frei war, ware er wohl ein Dummkopf, wenn er nicht die Gelegenheit wahrnahme, noch einmal in den Keller zu gehen. Er stieg die Treppe hinunter, und er empfand eine gro?e Genugtuung bei dem Gedanken, da? er der einzige Junge in der ganzen Stadt war, der die Moglichkeit dazu hatte. Er wurde wahrhaftig zum zweitenmal seinen Namen an die Wand schreiben! Wenn er und Anders und Eva-Lotte wirklich noch einmal im Leben hier hinunterkommen sollten, dann wurde er ihnen zeigen, da? sein Name an zwei Stellen auf der Wand stand. Was bedeutete, da? er zweimal hier gewesen war.
        Nun sah er es! Es waren keine Namen an der Wand! Sie waren dick mit Bleistift uberstrichen, so da? man nicht lesen konnte, was da gestanden hatte.

»Nein, jetzt schlagt’s dreizehn!« sagte Kalle laut vor sich hin.
        Waren es die Gespenster der Vergangenheit, denen die Schrift an der Wand nicht gefiel und die alle Spuren ausgeloscht hatten?
        Kalle schauderte. Aber konnte man sich ein Gespenst mit Bleistift vorstellen? Kalle mu?te sich sagen, da? das wenig wahrscheinlich war. Aber jemand hatte es jedenfalls getan!

»Da? ich es nicht sofort begriffen habe!« flusterte Kalle. Onkel Einar! Naturlich! Onkel Einar hatte versucht, sie daran zu hindern, uberhaupt ihre Namen hinzuschreiben, und Onkel Einar hatte sie ausgestrichen! Er wollte nicht, da? jemand, der eventuell in den Keller hinunterkam, wissen sollte, da? sie da-gewesen waren, soviel verstand Kalle. Aber wann hatte Onkel Einar das gemacht? Die Namen hatten bestimmt unversehrt an der Wand gestanden, als sie die Ruine verlassen hatten.

»Oh, wie dumm ich bin«, sagte Kalle. Des Nachts naturlich!
        Onkel Einar war in der Nacht in der Schlo?ruine gewesen.
        Deswegen hatte er die Taschenlampe gekauft. Aber hatte er sich wirklich so viel Muhe gemacht, nur um ein paar Namen an der Wand auszustreichen? Kalle glaubte das nicht. Was hatte er im Gerateschuppen zu tun gehabt? Einen Bleistift holen, was? Kalle lachte hohnisch. Dann sah er sich um. Vielleicht entdeckte er noch andere Spuren von Onkel Einars Besuch.
        Ein sparliches Licht fiel durch die Kellerlocher, aber das reichte nicht aus, um in alle Winkel und Ecken zu leuchten.
        Ubrigens war es ja gar nicht sicher, da? Onkel Einar sich nur in dem Teil des Kellers aufgehalten hatte, der der Treppe am nachsten lag und wo die Kinder ihre Namen an die Wand geschrieben hatten. Das Kellergescho? war gro?. Dunkle Gange verzweigten sich nach allen Seiten. Kalle hatte keine Lust, seine Entdek-kungsfahrt unter den dunklen Gewolben fortzusetzen. Das wurde auch keinen Zweck haben, da er keine Taschenlampe bei sich hatte.
        Aber eines war sicher: Onkel Einar wurde niemals den Dietrich zuruckbekommen, dafur entschied Kalle sich sofort. Naturlich widersetzte sich sein Gewissen ein wenig und meinte, da? man etwas, was einem nicht gehorte, nicht behalten durfte, aber Kalle beschwichtigte bald diese Einwande. Wozu brauchte Onkel Einar einen Dietrich? Wer wei?, welche Turen er damit zu offnen beabsichtigte? Wenn Kalle mit seiner Auffassung recht hatte, da? Onkel Einar eine dunkle Gestalt war, dann verubte er ja nur eine gute Tat, wenn er den Dietrich behielt. Und au?erdem - es war allzu verlockend, ihn zu behalten. Anders und Eva-Lotte und er konnten ihr Hauptquartier im Kellergewolbe haben; sie wurden alles untersuchen konnen, und vielleicht wurden sie auch herauskriegen, was Onkel Einar hier gemacht hatte.

»Das letztere entscheidet die Sache«, sagte sich Kalle entschlossen. Er war im Begriff zu gehen. Da sah er am Fu?e der Treppe einen kleinen wei?en Gegenstand. Er beugte sich schnell hinunter und hob ihn auf. Eine Perle war es, eine wei?e, schimmernde Perle!
        FUNFTES KAPITEL
        Kalle lag auf dem Rucken unter dem Birnbaum. Er wollte denken, und das ging am besten in dieser Stellung.

»Naturlich ist es moglich, da? die Perle schon seit Gustav Vasas Zeiten dagelegen hat, weil irgendein nachlassiges adliges Huhn in den Keller gegangen ist, um eine Flasche Bier zu holen, und dabei seine Perlenkette verloren hat«, sagte Meisterdetektiv Blomquist. »Aber ist das anzunehmen? Wenn man ein kriminalistisches Ratsel losen soll«, fuhr er fort und drehte sich zur Seite, um seinem eingebildeten Zuhorer in die Augen sehen zu konnen, »mu? man immer mit dem Wahrscheinlichen rechnen. Und« - der Meisterdetektiv hieb mit der Faust hart auf die Erde - »das Wahrscheinliche ist, da? die Perle nicht seit Gustav Vasas Zeiten dagelegen hat, denn da hatte sich doch wohl vor mir schon einer gefunden, der die Augen offen gehabt und sie gesehen hatte. Im ubrigen, wenn die Perle schon vorgestern bei unserem Besuch vorhanden gewesen ware, so hatte wohl ein aufgeweckter junger Mann wie ich sie schon gleich entdeckt.
        Besonders, da ich den Fu?boden ganz genau untersucht habe.
        Jaja« - er winkte abwehrend mit der Hand zu seinem eingebildeten Zuhorer hin, der offensichtlich seiner Bewunderung Ausdruck gab -, »es ist reine Routinearbeit, nichts weiter! Was konnen wir also fur einen Schlu? daraus ziehen? Mit der aller-gro?ten Wahrscheinlichkeit hat der sogenannte Onkel Einar die Perle bei seinem nachtlichen Besuch in der Schlo?ruine verloren. Nun, junger Mann, habe ich recht?«
        Der eingebildete Zuhorer machte anscheinend keine Einwendungen, denn Meisterdetektiv Blomquist fuhr fort: »Nun ist die Frage: Hat man Onkel Einar, mit einer Perlenkette geschmuckt, gesehen? Lauft er, von Perlen und Edelsteinen glitzernd, herum?« Der Meisterdetektiv lie? seine Hand mit einem entscheidenden Schlag auf die Erde fallen. »Gewi? nicht! Deswegen« - er fa?te seinen eingebildeten Zuhorer am Rockauf-schlag -, »wenn nun dieser Onkel Einar mit Perlen um sich wirft, so habe ich das Recht, dies als einen verdachtigen Um-stand zu betrachten, nicht wahr?« Man horte keinen Protest.

»Doch«, fuhr der Meisterdetektiv fort, »gehore ich nicht zu denen, die jemanden nur auf Grund von Indi… Indizien verurtei-len. Die Sache mu? untersucht werden, und ich glaube, behaupten zu konnen, da? ich der richtige Mann dafur bin.«
        Hier brach sein eingebildeter Zuhorer in eine solche Flut von schmeichelhaften Zusicherungen aus. betreffend Herrn Blomquists Fahigkeit, alles herauszukriegen, was immer es auch sein mochte, da? sogar Herr Blomquist fand, es ginge zu weit.

»Na, na, keine Ubertreibungen«, sagte er mild. »Der beste Detektiv, den es jemals gegeben hat - das ist doch wohl etwas ubertrieben. Lord Peter Wimsey ist ja auch nicht auf den Kopf gefallen.«
        Er holte sein Notizbuch hervor. In der Rubrik »Besonders verdachtige Umstande« fugte er hinzu: »Stattet nachtlichen Besuch in der Schlo?ruine ab. Verliert Perlen.«
        Er las, sehr zufrieden, alles durch, was er uber Onkel Einar geschrieben hatte. Nun gab es nur noch etwas hier im Leben, was er sich wunschte: Onkel Einars Fingerabdruck! Er hatte es den ganzen Vormittag versucht, indem er stundenlang um sein Opfer herumgeschlichen war. Er hatte das kleine Stempelkissen, das zu seiner Druckerei gehorte, auf die durchtriebenste Weise hingestellt, in der Hoffnung, da? Onkel Einar aus Versehen seinen Daumen erst auf das Stempelkissen und dann auf ein geeignetes Papier setzen wurde. Aber merkwurdigerweise war Onkel Einar nicht in die Falle gegangen.

»Raffiniert, naturlich!« schnaubte Kalle. »Es bleibt wahrscheinlich gar nichts anderes ubrig, als ihn zu chloroformieren und seinen Fingerabdruck zu nehmen, wahrend er bewu?tlos ist.«

»Und hier liegst du, du Rindvieh, und die Vorstellung soll in einer Viertelstunde anfangen!«
        Anders hing uber dem Zaun und warf grimmige Blicke auf den voll Behagen ruhenden Kalle. Kalle fuhr in die Hohe. Es war nicht leicht, sowohl Detektiv als auch Zirkuskunstler zu sein. Er kroch durch die Zaunoffnung und fiel an Anders’ Seite in Laufschritt.

»Sind Leute gekommen?« keuchte er.

»Und ob! Jeder Sitzplatz ist besetzt!«

»Da sind wir wohl beinahe reich?«

»Achtfunfzig«, sagte Anders. »Aber du hattest Eva-Lotte beim Billettverkauf ablosen sollen, anstatt wie ein Pascha auf dem Rasen zu liegen.« Sie rannten die Treppe zum Backereiboden hinauf. Da stand Eva-Lotte und schaute durch den Spalt zwischen den geschlossenen Luken hindurch.

»Volles Haus«, sagte sie.
        Kalle ging nach vorn und sah auch hinunter. Da sa?en alle Kinder des Viertels und auch ein ganz Teil andere. Auf der ersten Bank thronte Onkel Einar. An seiner Seite sa?en Backermeister Lisander und seine Frau, und auf der zweiten Bank sah Kalle seinen Vater und seine Mutter.

»Ich bin so nervos, da? die Beine unter mir nachgeben«, wimmerte Eva-Lotte.
»Bereitet euch darauf vor, da? ich euch bei der Akrobatennummer auf den Kopf falle. Und das Brotwagenpferd ist schlechter Laune, so da? ich auch fur meine Pfer-dedressur das Schlimmste furchte.«

»Blamier uns nicht, das sage ich dir«, sagte Anders.

»Das Spiel kann beginnen!« rief Onkel Einar ungeduldig.

»Das bestimmen wohl wir, denke ich«, sagte der Zirkusdirektor brummig zu seinen Mithelfern. Aber er setzte jedenfalls seinen hohen Hut oder vielmehr Backermeister Lisanders hohen Hut auf, offnete die Luke, nahm das Seil und schwang sich in die Arena hinunter. Eva-Lotte stie? einen schrillen Trompeten-sto? aus, und das Publikum applaudierte wohlwollend.
        Wahrenddessen hatte Kalle sich die Treppe hinuntergeschlichen und das Brotwagenpferd geholt, das an einem Baum angebunden war. Vor den angenehm uberraschten Blicken des Publikums fuhrte er das Tier zwischen den Zuschauerbanken herein. Der Zirkusdirektor nahm seinen Hut ab, verbeugte sich hoflich, ergriff eine Peitsche, die an der Backereiwand gelehnt hatte, und knallte damit. Sowohl er wie das Publikum erwarteten, da? das Pferd nun einen raschen Trab um die Arena herum machen wurde, aber es war nicht in der Stimmung dazu. Es glotzte nur einfaltig das Publikum an. Der Zirkusdirektor knallte noch einmal mit der Peitsche und flusterte, deutlich horbar fur das Publikum: »Los, du dummes Vieh!«
        Da beugte sich das Pferd herunter und fra? einige Grashalme, die aus den Sagespanen hervorschauten. Vom Backereiboden horte man ein lustiges Kichern. Es war die auf ihren Auftritt wartende Kunstreiterin, die ihre Frohlichkeit nicht beherrschen konnte. Auch das Publikum amusierte sich, besonders Onkel Einar und Eva-Lottes Mutter.
        In diesem Augenblick griff der Stallknecht Kalle ein. Er nahm das Pferd am Zaum und fuhrte es ganz einfach zur Luke hin. Eva-Lotte nahm das Seil und machte sich zu einem entscheidenden Sprung auf den Pferderucken bereit. Aber da kam das Pferd in Fahrt. Es machte einen Sprung, der einem richtigen Zirkuspferd Ehre gemacht hatte, und als Eva-Lotte am Seil heruntergerutscht war, war kein Pferderucken zum Landen da.
        Sie blieb an der Leine hangen, klaglich mit den Beinen zap-pelnd, bis es Anders und Kalle gelungen war, das Pferd zuruck-zuholen. Eva-Lotte glitt auf seinen Rucken hinunter, warf dem Publikum Handkusse zu und versuchte, so auszusehen, als ob ihr Beineschlenkern die einzig richtige Art aufzutreten fur eine Zirkusprimadonna ware. Anders knallte mit der Peitsche, und das Pferd trottete artig in der Arena herum. Eva-Lotte klemmte ihre beiden nackten Fersen in seine Seiten, um es etwas feuriger zu machen, aber vergebens.

»Schaf«, schnaubte Eva-Lotte.
        Aber es war auch fur mundliches uberreden nicht empfanglich. Es war so gedacht gewesen, da? das Pferd in der Arena herumgaloppieren und durch seine lebhaften Sprunge das Urteil des Publikums irrefuhren sollte, so da? man nicht merkte, da? die Kunststucke, die Eva-Lotte auf dem Pferderucken ausfuhrte, ziemlich einfach waren. Aber da das Pferd sich weigerte, einen wirklich herzhaften Einsatz zu machen, war es unvermeidlich, da? die ganze Nummer etwas lahm wirkte.

»Und dem hat man nun jahrelang Hafer gegeben«, dachte Eva-Lotte bitter.
        Zuletzt knallte indessen der wutende Zirkusdirektor einen Peitschenhieb direkt unter die Nase des Brotwagenpferdes hin, so da? es sich vor Schreck auf die Hinterbeine stellte. Das gab der Nummer einen hochst dramatischen Abschlu? und erhohte den Gesamteindruck bedeutend.

»Aber wenn die Akrobatennummer auch mi?lingt«, sagte Anders hinterher oben auf dem Boden, »dann mussen wir das Eintrittsgeld zuruckzahlen. Ein Zirkuspferd, das sich hinstellt und zu weiden anfangt, das ist unanstandig! Jetzt fehlt blo? noch, da? Eva-Lotte wahrend der Akrobatennummer Schnecken i?t.«
        Aber das tat Eva-Lotte nicht, und »Die drei Desperados« hatten einen strahlenden Erfolg. Onkel Einar brach einen wei?en Fliederzweig ab und uberreichte ihn mit einer tiefen Verbeugung Eva-Lotte. Der Rest des Programms stand nicht ganz auf dem gleichen hohen Niveau, aber die Clownnummer gluckte sehr, ebenso Eva-Lottes Lied. Eigentlich wurden ja sonst in einem Zirkus keine Lieder vorgetragen, aber es war notig, um das Programm auszufullen, und Eva-Lotte hatte es selbst ge-dichtet. Es handelte meistens von Onkel Einar.

»Aber nein, Eva-Lotte«, sagte ihre Mutter, nachdem sie fertig war, »man darf doch nicht so anzuglich alteren Menschen gegenuber sein.«

»Doch, gegen Onkel Einar ja!«
        Da lachte Onkel Einar sein wieherndes Lachen und brach einen neuen Fliederzweig fur Eva-Lotte ab.

»La? meinen Flieder in Ruhe!« brummte der Backermeister.
        Nach Schlu? der Vorstellung lud Frau Lisander zum Kaffee in der Laube ein. Lebensmittelhandler Blomquist und Backermeister Lisander sa?en oft des Abends in der Laube und sprachen uber Politik. Mitunter erzahlten sie auch Geschichten, und dann setzten sich Eva-Lotte und Kalle und Anders mit hin und horten zu.

»Wirklich, ich glaube wahrhaftig, da? heute alle Kaffeetassen Ohren haben«, sagte der Backermeister. »Da wird wohl bald die Welt untergehen. Wie ist das mit dir, Miachen«, fragte er mit einem freundlichen Blick auf seine Frau, »hast du heute so viel zu tun gehabt, da? du keine Zeit hattest, ein paar Kaffeetassen zu zerhauen?«
        Frau Lisander lachte unbekummert und bot Frau Blomquist Napfkuchen an. Der Backermeister lie? seine uppige Gestalt auf einen Gartenstuhl sinken und warf einen forschenden Blick auf den Vetter seiner Frau.

»Wird es nicht langweilig, so umherzugehen und nichts zu tun?« fragte er.

»Ich beklage mich nicht«, sagte Onkel Einar. »Ohne Arbeit kann ich es aushalten Ich mochte nur wunschen, ich konnte besser schlafen.«

»Du kannst ein Schlafpulver von mir bekommen«, sagte Frau Lisander. »Ich habe noch welche ubrig von denen, die der Arzt mir gab, als ich Schmerzen im Arm hatte.«

»Ich mochte wissen, ob Arbeit nicht besser ware als Schlafpulver«, sagte der Backermeister. »Steh morgen fruh um vier auf und hilf mir, die Brote auszubacken, dann garantiere ich dir, da? du die nachste Nacht schlafst.«

»Danke, ich ziehe Schlafpulver vor«, sagte Onkel Einar.
        Meisterdetektiv Blomquist, der neben seiner Mutter an der anderen Seite des Tisches sa?, dachte fur sich: »Eine gute Art, wenn man schlafen will, ist, ruhig in seinem Bett zu liegen.
        Wenn man die ganze Nacht umherwandert, dann ist es ja wohl kein Wunder, da? man kein Auge zumachen kann. Aber wenn er ein Schlafpulver bekommt, dann wird er schon eindosen.«
        Anders und Eva-Lotte waren fertig mit Kaffeetrinken. Sie setzten sich auf den Rasen vor der Laube und bliesen auf Gras-halmen, sehr zufrieden mit den furchterlichen Tonen, die her-auskamen. Kalle wollte sich gerade zu ihnen setzen. Er wu?te, da? die Tone, die er selbst mit Hilfe eines Grashalmes hervor-bringen konnte, das meiste in dieser Richtung ubertrafen. Aber gerade da bekam er den Gedanken! Den strahlenden und genia-len Gedanken, eines Meisterdetektivs wurdig!
        Er nickte bestatigend. Ja, ja, gerade so mu?te es geschehen!
        Er sprang auf, ri? einen Grashalm ab und blies eine gellende und triumphierende Fanfare.
        SECHSTES KAPITEL
        Naturlich war die Sache nicht ohne Risiko. Aber ein Detektiv mu? etwas wagen. Will er das nicht, dann kann er sich ebensogut den Detektivberuf aus dem Sinn schlagen und sich als Wurstverkaufer oder sonstwas etablieren. Kalle hatte keine Furcht. Aber spannend war es, machtig spannend.
        Er hatte seinen Wecker auf zwei Uhr gestellt. Zwei Uhr war ein geeigneter Zeitpunkt. Wie lange dauerte es, bis ein Schlafpulver wirkte? Kalle wu?te es nicht genau. Aber sicher wurde Onkel Einar um zwei Uhr wie ein Murmeltier schlafen, Kalle konnte sich nichts anderes vorstellen. Und da sollte es passieren! Denn wenn man endlich eine »mystische Person« gefunden hat, mu? man den Fingerabdruck der
»Person« haben.
        Personalbeschreibung und Muttermal und all das ist sicher gut, aber nichts kommt an einen ehrlichen Fingerabdruck heran.
        Kalle warf einen letzten Blick aus dem Fenster, bevor er ins Bett kroch. Die wei?en Gardinen des gegenuberliegenden Fensters blahten sich leise im Abendwind. Da drinnen war Onkel Einar. Vielleicht nahm er eben das Schlafpulver und legte sich ins Bett. Kalle rieb sich vor Spannung die Hande. Das wurde keine schwere Sache werden. Viele, viele Male hatten Eva-Lotte und er und Anders diese Feuerleiter benutzt, zuletzt im Fruhjahr, als sie eine Rauberhohle auf Eva-Lottes Boden hatten. Und wenn Onkel Einar rausklettern konnte, dann konnte Kalle rein-klettern!

»Um zwei Uhr passiert es, so wahr ich lebe!«
        Kalle kroch in sein Bett und schlief augenblicklich ein. Er schlief unruhig und traumte, da? Onkel Einar ihn rund um den Backereigarten jagte. Kalle rannte wie um sein Leben, aber Onkel Einar kriegte ihn schlie?lich. Er packte Kalle hart am Genick und sagte: »Wei?t du nicht, da? alle Detektive eine Blechbuchse am Schwanz festgebunden haben mussen, so da? man hort, wenn sie kommen?«

»Ja, aber ich habe gar keinen Schwanz«, verteidigte sich Kalle unglucklich.

»Ach, Unsinn, naturlich hast du einen Schwanz! Wie nennst du denn das sonst?«
        Und als Kalle hinschaute, hatte er genauso einen Schwanz wie Tusse.

»So«, sagte Onkel Einar und band die Blechbuchse fest. Kalle machte einige Sprunge, und die Blechbuchse klapperte ganz furchtbar.
        Er war so unglucklich, da? er hatte weinen konnen. Was wurden Anders und Eva-Lotte sagen, wenn er auf diese Weise angerasselt kam? Niemals mehr wurde er mit ihnen spielen konnen. Niemand wollte wohl gern mit jemand zusammen sein, der so einen Larm machte. Da standen ja ubrigens Anders und Eva-Lotte! Sie lachten ihn aus.

»So geht es mit Detektiven«, sagte Anders.

»Ist es wirklich wahr, da? alle Detektive Blechbuchsen am Schwanz haben mussen?« fragte Kalle.

»Absolut«, sagte Anders. »Das steht im Gesetz.«
        Eva-Lotte hielt sich die Ohren zu.

»Pfui Teufel, was fur einen Krach du machst«, sagte sie. Kalle mu?te zugeben, da? der Larm schlimmer als je war. Das klapperte und schmetterte - ach, wie das schmetterte!
        Kalle erwachte. Der Wecker! Donnerwetter, wie der lautete!
        Kalle stellte ihn eiligst ab. Im Augenblick war er hellwach. Gott sei Dank, er hatte keinen Schwanz! Es gibt vieles hier auf der Welt, wofur man dankbar sein mu?. Aber jetzt schnell ans Werk!
        Er lief zur Schreibtischschublade. Da lag das Stempelkissen.
        Er steckte es in die Tasche. Ein Stuck Papier mu?te er auch haben. Dann war er fertig. Nie war er so vorsichtig die Treppe hinuntergeschlichen, und er vermied die Stufen, von denen er aus Erfahrung wu?te, da? sie knarrten.

»Alles ruhig, sagte der Dieb!«
        Kalle fuhlte sich richtig ausgelassen. Er pre?te seinen kleinen, dunnen Jungenkorper durch die Zaunoffnung, und jetzt stand er im Backereigarten. Wie still alles war! Und wie der Flieder duf-tete! Und der Apfelbaum! Alles war ganz anders als am Tage. In allen Fenstern war es dunkel. Auch in Onkel Einars!
        Es gab Kalle einen kleinen Sto?, als er den Fu? auf die Feuerleiter setzte. Zum ersten Male fuhlte er ein bi?chen Angst aufsteigen. War ein Fingerabdruck so viel Ungelegenheit wert? Er wu?te eigentlich nicht, wozu er diesen Fingerabdruck haben wollte. Aber - so uberlegte er - Onkel Einar ist sicher ein Schurke, und von allen Schurken nimmt man Fingerabdrucke.
        Also los, Fingerabdruck genommen von Onkel Einar! Das ist reine Routinearbeit, redete sich der Meisterdetektiv aufmunternd zu und fing an, die Feuerleiter hinaufzuklettern.

»Wenn nun aber Onkel Einar hellwach im Bett sitzt und mich anstarrt, wenn ich den Kopf reinstecke, was sage ich dann?« Kalles Bewegungen wurden etwas zogernd, »’n Abend, Onkel Einar, schones Wetter heute nacht! Ich mache nur einen kleinen Spaziergang die Leiter rauf und runter!« - Nein, das ging nicht!

»Ich hoffe, es war ein sehr starkes Schlafmittel, das Tante Mia ihm gegeben hat«, dachte Kalle und versuchte, sich uberlegen zu fuhlen.
        Aber trotzdem empfand er es ungefahr so, als ob er seinen Kopf in eine Schlangengrabe steckte, als er sich uber das Fensterbrett schob. Es war dunkel im Zimmer, aber nicht so, da? man sich nicht hatte orientieren konnen. Kalle glich in diesem Augenblick einem kleinen angstlichen und neugieri-gen Wiesel, das bereit war, beim ersten Anzeichen von Gefahr zu entwischen Da stand das Bett. Man horte tiefe Atemzuge aus der Richtung. Gott sei Dank, Onkel Einar schlief!
        Unwahrscheinlich leise kroch Kalle uber das Fensterbrett.
        Hin und wieder hielt er an, um zu lauschen. Aber alles war ruhig.

»Vielleicht hat sie ihm Rattengift gegeben, da er so fest schlaft«, dachte Kalle. Er legte sich platt auf den Bauch und schlangelte sich vorsichtig zu seinem Opfer hin. Reine Routinearbeit!
        Was fur ein Gluck! Onkel Einars rechte Hand hing schlaff an der Bettkante herunter. Man brauchte sie nur zu nehmen und dann … Gerade da murmelte Onkel Einar etwas im Schlaf und warf seine Hand uber das Gesicht.
        Bum, bum, bum - Kalle fragte sich, ob eine Dampfmaschine im Zimmer versteckt sei. Aber es war nur sein Herz, das klopfte, als ob es Lust hatte herauszuspringen.
        Indessen schlief Onkel Einar weiter. Jetzt lag die Hand auf der Bettdecke. Kalle offnete den Deckel des Stempelkissens, und vorsichtig, als ob er gluhende Kohlen anfassen wollte, nahm er Onkel Einars Daumen und druckte ihn gegen das Stempelkissen.

»Ah - puh«, sagte Onkel Einar.
        Jetzt ging es nur darum, das Stuck Papier hervorzuholen. Wo in aller Welt hatte er es gelassen? Das war ja reizend! Da lag sein Schurke mit Stempelfarbe am Daumen, alles war wie zu-rechtgelegt, und jetzt fand er das Papier nicht - ja, jetzt hatte er es! Es war da! In der Hosentasche! Mit gro?er Vorsicht druckte er Onkel Einars Daumen gegen das Papier.
        Die Sache war in Ordnung. Er hatte den Fingerabdruck, und er hatte nicht zufriedener sein konnen, wenn er eine wei?e Maus bekommen hatte, was sonst das war, was sein Herz am meisten begehrte.
        Jetzt langsam zuruckkriechen und sich uber das Fensterbrett schwingen! Das war ja so einfach.
        Ja, alles ware sicher nach Berechnung gegangen, wenn Tante Mia nicht so ein Blumenfreund gewesen ware. In der anderen Halfte des Fensters, in der, die nicht offen war, stand eine kleine bescheidene Geranie. Kalle erhob sich vorsichtig aus seiner liegenden Stellung und … Einen Augenblick lang glaubte er, da? es ein Erdbeben oder eine andere Naturkatastrophe war, was diesen schrecklichen Larm zustande brachte. Und es war doch nur ein armer kleiner Blumentopf.
        Kalle stand aufrecht am Fenster mit dem Rucken zu Onkel Einars Bett. »Jetzt sterbe ich«, dachte er, »und das ist ganz gut.« Mit jeder Fiber seines Wesens horte und fuhlte und begriff er, da? Onkel Einar aufgewacht war. Kein Wunder ubrigens, dieser Blumentopf hatte wahrhaftig ein Leben gefuhrt, als ob er ein ganzer Blumenladen ware.

»Hande hoch!«
        Es war Onkel Einars Stimme, aber doch nicht die seine. Sie klang, ja - sie klang wie Stahl.
        Es ist immer am besten, einer Gefahr gerade ins Auge zu sehen. Kalle drehte sich um und blickte direkt in eine Revolver mundung. Ach, in der Phantasie hatte er es so viele, viele Male getan, und es hatte ihm niemals etwas angehabt. Mit einem schnellen Schlag hatte er den Kerl uberrumpelt, der auf ihn gezielt hatte, und mit einem »Nicht so eilig, mein bester Herr« hatte er ihm geschickt den Revolver entwunden.
        In der Wirklichkeit ging es etwas anders zu. Kalle hatte wohl viele Male in seinem Leben Angst gehabt. Er hatte Angst gehabt, als der Hund des Bankdirektors ihn einmal auf dem Marktplatz angefallen hatte und als er im Winter einmal in ein Eisloch gefallen war, aber niemals, niemals hatte er eine so lahmende, qualende Angst gefuhlt wie in dieser Minute.

»Mutter«, dachte er.

»Komm naher!« sagte die Stahlstimme.
        Wie kann man gehen, wenn man nur ein paar weiche Makka-roni hat, wo sonst die Beine sind? Er machte jedenfalls einen Versuch.

»Was in aller Welt - bist du es, Kalle?«
        Der Stahl war aus Onkel Einars Stimme weg, aber er fuhr streng fort: »Was machst du eigentlich hier mitten in der Nacht? Antworte!«

»Hilfe«, wimmerte Karl innerlich. »Wie soll ich es erklaren?«
        In Stunden der hochsten Not bekommt man mitunter eine Eingebung, die einen retten kann. Kalle erinnerte sich, da? er vor einigen Jahren zu schlafwandeln pflegte. Er war des Nachts irgendwo umherspaziert, bis seine Mutter mit ihm zum Doktor ging und er Beruhigungsmittel bekam.

»Na, Kalle?« sagte Onkel Einar.

» Wie bin ich hierhergekommen?« sagte Kalle. »Wie bin ich hergekommen? Ich habe doch wohl nicht wieder angefangen, im Schlaf umherzugehen? Ach, jetzt fallt mir ein, ich habe ja von dir getraumt, Onkel Einar (das war ja wahr, dachte Kalle).
        Entschuldige vielmals, da? ich dich gestort habe.«
        Onkel Einar hatte den Revolver weggesteckt. Er klopfte Kalle auf die Schulter.

»Jaja, mein lieber Meisterdetektiv«, sagte er. »Ich glaube, es sind alle deine Detektivideen, die dich im Schlaf umherwandern lassen. Bitte deine Mutter, da? sie dir etwas Brom gibt, bevor du schlafen gehst. Du wirst sehen, das hilft. Jetzt ist es wohl am besten, ich begleite dich hinaus.«
        Onkel Einar ging mit ihm die Treppe hinunter und offnete die Haustur. Kalle verbeugte sich. Eine Sekunde spater schlupfte er durch den Zaun in einer Fahrt wie ein eingeseiftes Kaninchen.

»Ich bin klein, mein Herz ist rein …« flusterte er. Er fuhlte sich wie ein Mensch, der eben aus schwerer Seenot gerettet worden ist. Seine Beine zitterten so merkwurdig. Er konnte sich gerade eben die Treppe hinaufschleppen, und als er in sein Zimmer kam, sank er aufs Bett. »Ich bin klein, mein Herz ist rein …« flusterte er wieder. So sa? er lange.
        Ein gefahrlicher Beruf, der Detektivberuf! Manche glauben, das sei reine Routinearbeit - so einfach ist das nicht! Stets und standig wird man vor offene Revolvermundungen gestellt, ja, wahrhaftig!
        Kalles Beine fingen langsam an, sich wieder normal zu fuhlen.
        Der lahmende Schreck war fort. Er steckte die Hand in die Hosentasche. Da lag das kostbare Papier. Kalle hatte keine Angst mehr. Er war glucklich. Ganz vorsichtig nahm er das kleine Stuck Papier und legte es in den linken Schreibtischkasten. Da lagen schon der Dietrich und die Zeitung und die Perle. Eine Mutter, die ihre Kinder betrachtet, konnte keinen warmeren Augenaus-druck haben als Kalle, wenn er auf den Inhalt des Kastens blicke.
        Er verschlo? ihn sorgfaltig und steckte den Schlussel ein. Dann nahm er sein Notizbuch hervor und schlug Onkel Einars Seite auf. Da war wieder ein kleiner Nachtrag notig. »Besitzt Revolver«, schrieb Kalle. »Schlaft mit ihm unter dem Kopfkissen.«
        Um diese Zeit des Jahres fruhstuckte Familie Lisander auf der Veranda. Sie hatten gerade angefangen, als Anders und Kalle in der Nahe auftauchten, um Eva-Lottes Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Kalle hatte gern gewu?t, ob Onkel Einar etwas von seinem nachtlichen Besuch erwahnen wurde. Aber Onkel Einar a? seine Hafergrutze, als ob nichts geschehen ware.

»Nein aber, Einar, wie argerlich!« sagte Frau Lisander plotzlich. »Ich habe ja vergessen, dir gestern abend das Schlafmittel zu geben!«
        SIEBTES KAPITEL

»Das Spa?igste bei einer Sache sind die Vorbereitungen«, hatte Anders unmittelbar nach der Zirkuspremiere konstatiert. Die Vorstellung selbst war sicher sehr spannend und lustig gewesen, aber es waren jedenfalls die Tage vorher, angefullt mit Proben und intensiven Vorbereitungen, die im Gedachtnis zuruckblie-ben. Die gewesenen Zirkuskunstler gingen umher und wu?ten nicht richtig, was sie anfangen sollten.
        Kalle war derjenige, der am wenigsten eine Beschaftigung vermi?te. Die Detektivwirksamkeit gab seinen Tagen, und mitunter auch seinen Nachten, Inhalt. Seine Fahndungstatigkeit, die sich bis jetzt nur auf das Allgemeine gerichtet hatte, konzen-trierte sich nun ganz auf Onkel Einar.
        Anders und Eva-Lotte sagten oft, sie wunschten, da? Onkel Einar wieder abreisen mochte, aber Kalle sah mit Schrecken dem Tag entgegen, da der Schurke, »sein« Schurke, den Koffer packen und ihn ohne »mystische Person« zurucklassen wurde, um die seine Gedanken kreisen konnten. Und es ware doch sehr argerlich, wenn Onkel Einar verschwinden wurde, ohne da? Kalle dahintergekommen war, was fur eine Art Verbrecher er eigentlich war. Da? er ein Verbrecher war, daran zweifelte Kalle nicht einen Augenblick. Ganz gewi? hatten Kalles fruhere Verbrecher sich nach und nach als durchaus eh-renhafte Menschen erwiesen, oder man konnte ihnen jedenfalls keine Missetat nachweisen, aber diesmal war Kalle seiner Sache sicher.

»So viele Indizien - es mu? stimmen, etwas anderes ist nicht moglich!« versuchte er sich selbst zu uberzeugen, wenn ihn hin und wieder Zweifel packten.
        Aber Anders und Eva-Lotte interessierten sich nicht eine Spur fur die Bekampfung von Verbrechen. Sie gingen umher und langweilten sich. Aber glucklicherweise passierte es doch, da? Postdirektors Sixtus eines Tages Anders »Poussierstengel«
        nachrief, als Anders mit Eva-Lotte die Hauptstra?e entlangkam, und das, obwohl im Augenblick Friedenszustand zwischen Sixtus’ Bande und der von Anders herrschte. Offenbar langweilte sich Sixtus auch, und er wollte wohl aus diesem Grunde die Streitaxt wieder ausgraben.
        Anders blieb stehen. Eva-Lotte auch.

»Was hast du gesagt?« fragte Anders.

»Poussierstengel!« Sixtus spuckte das Wort gleichsam aus.

»Ach so«, sagte Anders. »Ich hatte gehofft, ich hatte falsch gehort. Schade, da? ich dich bei dieser Hitze verprugeln mu?!«

»Ach, das macht nichts«, sagte Sixtus. »Ich kann ja hinterher ein Stuck Eis auf deine Stirn legen. Wenn du dann noch lebst!«

»Wir treffen uns heute abend auf der Prarie«, sagte Anders.

»Geh nach Hause und bereite deine Mutter so schonend wie moglich vor.«
        Sie trennten sich, und Anders und Eva-Lotte gingen nach Hause und alarmierten, au?erst aufgelebt, Kalle. Es zog sich zu einer Fehde zusammen, die sicher einen guten Teil ihrer Sommerferien vergolden wurde.
        Kalle war vollauf damit beschaftigt, durch den Zaun Onkel Einar zu beobachten, wie er im Garten wie ein unseliger Geist umherwankte.
        Kalle wollte eigentlich nicht gestort werden. Aber trotzdem gefiel ihm die Mitteilung, da? Sixtus die Streitaxt ausgegraben hatte. Sie setzten sich alle drei in Eva-Lottes Laube und disku-tierten die Sache. Aber da tauchte Onkel Einar auf.

»Keiner spielt mit mir!« jammerte er. »Was geht hier eigentlich vor?«

»Wir haben eine Schlagerei vor«, sagte Eva-Lotte kurz. »Anders soll sich mit Sixtus schlagen.«

»Und wer ist Sixtus?«

»Einer der starksten Jungen der Stadt«, sagte Kalle. »Anders bekommt sicher Prugel.«

»Die kriege ich bestimmt«, gab Anders vergnugt zu.

»Soll ich mitkommen und dir helfen?« schlug Onkel Einar vor.
        Anders und Kalle und Eva-Lotte starrten ihn an. Glaubte er wirklich, sie wurden einen Erwachsenen sich in ihre Schlagerei-en einmischen lassen? Und alles verderben!

»Na, Anders, was sagst du zu meinem Vorschlag?« fragte Onkel Einar. »Soll ich mitkommen?«

»Nee«, sagte Anders, unangenehm beruhrt davon, auf so etwas Dummes antworten zu mussen. »Nee, das ware nicht anstandig.«

»Nein, vielleicht nicht«, gab Onkel Einar zu und sah etwas beleidigt aus. »Obwohl es zweckma?ig ware. Aber du bist wohl noch etwas zu jung, um zu verstehen, was zweckma?ig ist. Das ist etwas, was man so nach und nach lernt.«

»Ich hoffe, da? er niemals so etwas Albernes lernt«, sagte Eva-Lotte.
        Da drehte sich Onkel Einar auf dem Absatz um und ging.

»Ich glaube wahrhaftig, er ist bose«, sagte Eva-Lotte.

»Ja, sicher sind Erwachsene manchmal komisch, aber der da ist noch komischer als die meisten anderen«, sagte Anders kopf-schuttelnd. »Er wird ja mit jedem Tag norgliger und norgliger.«

»Jaja, wenn ihr wu?tet!« dachte Kalle.
        Die Prarie war eine gro?e Gemeindewiese au?erhalb der Stadt.
        Sie war mit einer uppigen Buschvegetation bewachsen. Die Prarie gehorte der Jugend der Stadt. Hier lebte man Goldgraberle-ben in Alaska, streitbare Musketiere kampften heftige Duelle aus, Lagerfeuer wurden in den felsigen Bergen entzundet, im afrikanischen Busch wurden Lowen geschossen, edle Ritter sprengten auf ihren stolzen Rossen heran, wuste Chikagogang-ster erhoben ohne Erbarmen ihre Maschinenpistolen - alles hing davon ab, welcher Film gerade im Kino der Stadt zu sehen war. Wahrend des Sommers war das Kino naturlich geschlossen, aber man war trotzdem nicht in Verlegenheit. Es gab meistens eine ganze Reihe privater Keilereien, die ausgetragen werden sollten, und auch friedliche Spiele konnte man vorteilhafterwei-se nach der Prarie verlegen.
        Dahin lenkten Anders, Kalle und Eva-Lotte in einem Zustand gespannter Erwartung ihre Schritte. Sixtus war mit seiner Bande schon da. Die Mitglieder der Bande hie?en Benka und Jonte.

»Hier kommt einer, dessen Herzblut ich sehen will!« schrie Sixtus und fuchtelte lebhaft mit den Armen.

»Was hast du fur Sekundanten?« fragte Anders, ohne sich um die furchtbare Drohung zu kummern. Seine Frage war mehr eine Formsache; er wu?te ganz gut, welches die Sekundanten waren.

»Jonte und Benka!«

»Hier sind meine«, sagte Anders und zeigte auf Kalle und Eva-Lotte.

»Welche Waffen ziehst du vor?« fragte Sixtus ganz regle-mentma?ig. Alle waren sich daruber klar, da? keine anderen Waffen als die Fauste vorhanden waren, aber es machte immer einen guten Eindruck, auf Formen zu halten.

»Die Handkoffer«, antwortete Anders ganz richtig, genau wie man es erwartet hatte.
        Und nun brach es los. Die vier Sekundanten standen in gebuhrendem Abstand und folgten dem Kampf mit so intensivem Einlebungsvermogen, da? ihnen der Schwei? herunterlief.
        Von den Kampfern sah man nur ein Gewirr von Armen und Beinen und zerwuhlten Haarschopfen. Sixtus war der Starkere, aber Anders war flink und geschmeidig wie ein Eichhornchen.
        Es gelang ihm schon zu Anfang, ein paar ordentliche Volltreffer auf seinen Gegner loszulassen. Das hatte indessen nur den Erfolg, Sixtus zu unerhorter Kampflust anzufeuern. Es sah schlimm aus fur Anders. Eva-Lotte bi? sich in die Lippen. Kalle warf ihr einen schnellen Seitenblick zu. Er hatte sich selbst so furchtbar gern fur sie in den Kampf geworfen. Aber es war leider Anders, der den Vorzug gehabt hatte, von Sixtus Poussierstengel genannt zu werden.

»Hej, Anders!« schrie Eva-Lotte aus vollem Herzen. Aber jetzt war auch Anders so weit gekommen, wutend zu werden, und er warf sich in einen rasenden Nahkampf, der Sixtus zum Ruckzug zwang.
        Nach den Vorschriften sollte ein Duell dieser Art nicht mehr als zehn Minuten dauern. Benka stand mit der Uhr in der Hand, und die beiden Duellanten, die wu?ten, da? die Zeit kostbar war, taten ihr Allerau?erstes, um den Kampf zu gewinnen. Aber jetzt schrie Benka »Abbrechen!«, und mit Aufwand aller ihrer Selbstbeherrschung kamen Sixtus und Anders seinem Befehl nach.

»Unentschieden«, sagte Benka.
        Sixtus und Anders schuttelten einander die Hande.

»Die Beleidigung ist abgewaschen«, sagte Anders. »Aber ich habe die Absicht, dich morgen zu beleidigen, und dann konnen wir weitermachen.«
        Sixtus nickte zustimmend. Das bedeutete Kampf zwischen der Wei?en und der Roten Rose.
        Sixtus und Anders hatten ihre Banden nach einem hohen Vorbild aus der Geschichte Englands getauft.

»Ja«, sagte Anders feierlich, »nun herrscht Kampf zwischen der Wei?en und der Roten Rose, und tausend und aber tausend Seelen werden in den Tod gehen - hinein in die Nacht des Todes.« Diesen Ausdruck hatte er auch der Geschichte entnommen, und er fand, da? es seltsam schon klang, wie es hier so, nach beendetem Streit, herausgeschleudert wurde, wahrend sich die Dammerung auf die Prarie senkte.
        Die Wei?en Rosen - Anders, Kalle und Eva-Lotte - tauschten ernsthaft Handeschutteln mit den Roten Rosen aus - Sixtus, Benka und Jonte -, und man trennte sich. Das Merkwurdige war, da? Sixtus Eva-Lotte, obwohl er glaubte, begrundeten Anla? zu haben, Anders Poussierstengel nachzurufen, als er mit Eva-Lotte die Stra?e entlanggekommen war, voll und ganz als wurdigen Gegner und Reprasentanten fur die Wei?e Rose akzeptierte.
        Die drei Wei?en Rosen gingen heimwarts. Besonders die Wei?e Rose Kalle hatte es sehr eilig. Er fuhlte sich niemals richtig ruhig, wenn er nicht jederzeit Onkel Einar unter Aufsicht hatte. »Es ist genauso, als ob man ein Hausschwein zu huten hatte«, dachte Kalle.
        Anders hatte Nasenbluten. Gewi? hatte Sixtus gesagt, da? er sein »Herzblut« sehen wolle, aber ganz so gefahrlich war es also nicht geworden.

»Du hast diesmal einen feinen Match gehabt«, sagte Eva-Lotte bewundernd.

»Na ja«, sagte Anders bescheiden und sah auf sein blutbe-flecktes Hemd. Es gab sicher Krach deswegen, wenn er nach Hause kam. Am besten war, es so schnell wie moglich uberstan-den zu haben. »Wir treffen uns morgen«, sagte er abschlie?end und lief davon.
        Kalle und Eva-Lotte gingen zusammen. Aber da fiel es Kalle ein, da? seine Mutter ihn gebeten hatte, eine Abendzeitung zu kaufen. Er nickte Eva-Lotte zu und ging allein zum Zeitungskiosk.

»Alle Abendzeitungen sind ausverkauft«, sagte die Dame im Kiosk. »Versuch es beim Hotelportier!«
        Na ja, da war nichts anderes zu machen. Vor dem Hotel traf Kalle Schutzmann Bjork. Kalle fuhlte eine Welle kollegialer Sympathie fur ihn. Ganz gewi? war Kalle Privatdetektiv, und Privatdetektive standen ja immer ein paar Stufen uber den gewohnlichen Polizisten, die sich meistens merkwurdig ungeschickt bei der Losung selbst des einfachsten kriminalistischen Ratsels erwiesen, aber Kalle fuhlte jedenfalls, da? es Bande der Gemeinsamkeit zwischen ihm und Schutzmann Bjork gab. Sie wirkten beide fur die Bekampfung von Verbrechen in der Gesellschaft.
        Kalle hatte gro?e Lust, Schutzmann Bjork uber das eine oder andere um Rat zu fragen. Sicher gab es keinen Zweifel daruber, da? Kalle ein fur sein Alter besonders hervorragender Kriminalist war, aber er war doch trotz allem nicht alter als dreizehn Jahre.
        Meistens gelang es ihm, vor dieser Tatsache die Augen zu schlie?en, und unter seiner Detektivwirksamkeit stellte er sich immer sich selbst als einen reifen Mann mit scharfem durch-dringendem Blick vor, die Pfeife nachlassig im Mundwinkel, einen Mann, der mit »Herr Blomquist« angeredet und mit gro?er Ehrfurcht von den Mitgliedern der Gesellschaft behandelt wurde, wahrend dagegen deren verbrecherische Elemente ihn mit tiefstem Schreck betrachteten. Aber gerade jetzt fuhlte er sich nur als Dreizehnjahriger, und er war geneigt zuzugeben, da? Schutzmann Bjork eine ganze Menge Erfahrung besa?, die ihm selbst abging.

»’n Abend«, sagte Kalle.

»’n Abend«, sagte Schutzmann Bjork.
        Der Schutzmann warf einen forschenden Blick auf einen schwarzlackierten Ford, der vor dem Hotelportal parkte.

»Ein Stockholmer Auto«, sagte er.
        Kalle stellte sich an seine Seite, die Hande auf dem Rucken.
        Eine ganze Weile standen sie still und betrachteten gedankenvoll die vereinzelten Abendwanderer, die uber den Marktplatz gingen.

»Onkel Bjork«, sagte Kalle plotzlich, »wenn man glaubt, da? ein Mensch ein Schurke ist, was macht man da?«

»Ihm eins aufs Maul geben«, sagte Schutzmann Bjork vergnugt.

»Ja, aber ich meine, wenn er ein Verbrechen begangen hat«, sagte Kalle.

»Ihn festnehmen naturlich«, sagte der Schutzmann.

»Ja, aber wenn man es nur glaubt, es aber nicht beweisen kann«, beharrte Kalle.

»Ihn uberwachen, was das Zeug halt!« Schutzmann Bjork lachte ein breites Lachen.
»Aha, du pfuschst mir ins Hand-werk!« sagte er freundlich.

»Ich pfusche gar nicht«, dachte Kalle beleidigt. Niemand nahm ihn ernst.

»Hallo, Kalle, jetzt mu? ich mal zum Bahnhof runter. Mach inzwischen die Arbeit fur mich!« Und damit ging Schutzmann Bjork.
        Ihn uberwachen, hatte er gesagt! Man kann doch nicht einen Menschen uberwachen, der die ganze Zeit nur in einem Garten sitzt und sich selbst uberwacht! Onkel Einar hatte uberhaupt nichts vor. Er lag oder sa? oder ging in Backermeisters Garten herum wie ein Tier in einem Kafig und wollte, da? Eva-Lotte und Anders und Kalle ihn unterhielten und ihm halfen, die Zeit totzuschlagen. Ja, gerade eben das - die Zeit totzuschlagen! Es sah nicht so aus, als ob Onkel Einar Ferien hatte, es sah aus, als ob er wartete.

»Aber auf was? Das kriege ich nicht raus!« dachte Kalle und stieg die Treppe zum Hotel hinauf.
        Der Portier war im Augenblick beschaftigt, so da? Kalle warten mu?te. In der Portierloge standen zwei Herren.

»Konnen Sie mir sagen, ob ein Herr Brane hier im Hotel wohnt?« fragte der eine von ihnen. »Einar Brane?«
        Der Portier schuttelte den Kopf »Sind Sie ganz sicher?«

»Ja, naturlich.«
        Die zwei Manner sprachen leise miteinander. »Und auch keiner, der Einar Lindeberg hei?t?« fragte der eine.
        Kalle stutzte. Einar Lindeberg, das war ja, wei? Gott, Onkel Einar! Es ist immer angenehm, den Leuten mit Auskunften dienen zu konnen, und Kalle beabsichtigte gerade, den Mund auf-zumachen und zu erzahlen, da? Einar Lindeberg bei Backermeister Lisander wohnte, aber im letzten Augenblick schluckte er es hinunter, und es kam nur ein zogerndes »Ah - hm« heraus.

»Jetzt bist du nahe daran gewesen, eine Dummheit zu machen, mein lieber Kalle«, sagte er sich mit leisem Vorwurf.

»Wir wollen erst mal warten und zusehen, wie das sich hier entwickelt.«

»Nein, wir haben auch keinen Gast mit diesem Namen hier«, sagte der Portier bestimmt.

»Nicht? Ja, Sie wissen naturlich auch nicht, ob jemand, der Brane oder Lindeberg hei?t, sich hier in der Stadt in letzter Zeit aufgehalten hat? Und irgendwo anders als hier im Hotel gewohnt hat, meine ich.«
        Der Portier schuttelte wieder den Kopf.

»All right! Konnen wir ein Doppelzimmer bekommen?«

»Bitte sehr! Nummer 34 wird sicher gut passen«, sagte der Portier hoflich. »Es kann in zehn Minuten in Ordnung sein.
        Wie lange bleiben die Herren?«

»Das kommt darauf an! Ein paar Tage, nehme ich an.«
        Der Portier legte den Herren das Fremdenbuch vor, damit sie ihre Namen hineinschreiben konnten.
        Und Kalle kaufte seine Abendzeitung. Er war merkwurdig aufgeregt. »Es brennt, es brennt absolut!« flusterte er fur sich selbst.
        Es war ganz undenkbar, von hier fortzugehen, bevor er ein klares Bild von den Herren bekommen hatte, die nach Onkel Einar gefragt hatten. Er begriff sehr wohl, da? der Portier etwas erstaunt sein wurde, wenn er, Kalle Blomquist, sich in die Hotelhalle setzte und die Zeitung lase, aber das war die einzige Moglichkeit. Kalle warf sich in einen der Ledersessel mit der Miene eines Engroshandlers auf Geschaftsreisen und hoffte von ganzem Herzen, da? der Portier ihn nicht hinauswerfen wurde. Aber glucklicherweise mu?te der Portier Telefonanrufe beantworten und hatte keine Zeit, Kalle seine Aufmerksamkeit zu widmen.
        Kalle bohrte mit dem Zeigefinger zwei Locher in die Zeitung und uberlegte sich gleichzeitig, wie er seiner Mutter diesen merkwurdigen Eingriff in ihre Abendlekture erklaren sollte. Dann dachte er daruber nach, was das fur zwei Manner sein konnten.
        Vielleicht Detektive? Detektive traten ja oft paarweise auf, wenigstens in Filmen. Wie ware es, wenn er zu einem der beiden hinginge und ihn anredete: »Guten Abend, lieber Kollege!«

»Das ware dumm, um nicht zu sagen idiotisch!« beantwortete sich Kalle selbst seine Frage. Man soll niemals den Ereignis-sen vorgreifen.
        Oh, was fur ein Gluck man mitunter hat! Hier kamen die beiden und setzten sich in die Sessel direkt Kalle gegenuber. Er konnte hier sitzen und sie durch die Zeitung anstarren, soviel er wollte.

»Personalbeschreibung!« sagte sich der Meisterdetektiv.

»Reine Routinearbeit! Erst der eine … nee, wahrhaftig, es mu?te verboten sein, so auszusehen!«
        Etwas so Unangenehmes hatte Kalle noch nie gesehen, und er dachte im stillen, da? der Verschonerungsverein der Stadt gern bereit sein wurde, eine runde Summe zu bezahlen, wenn dieser Kerl da sich au?erhalb der Stadtmauern verfluchtigte. Es war schwer zu entscheiden, was es war, was sein Gesicht so unangenehm machte, ob es die niedrige Stirn war, die allzu eng beieinander stehenden Augen, die dicke Nase oder der Mund, den ein eigentumliches Lacheln verunstaltete.

»Wenn das kein Schurke ist, dann bin ich der Erzengel Ga-briel in Lebensgro?e«, dachte Kalle.
        Der andere hatte nichts Aufsehenerregendes in seinem Aussehen, wenn man von einer fast krankhaften Blasse absah. Er war klein und blondhaarig. Er hatte sehr helle blaue Augen und einen unsteten Blick.
        Kalle starrte sie so an, da? es schon verwunderlich war, wenn seine Augen nicht aus den Gucklochern hervortraten. Auch seine Ohren lauschten gespannt. Die beiden sprachen eifrig miteinander, aber leider konnte Kalle nicht viel davon auffassen.
        Doch plotzlich sagte der Blasse mit etwas lauterer Stimme:

»Davon kann keine Rede sein! Er mu? hier in der Stadt wohnen. Ich habe selbst den Brief an Lola gesehen. Auf dem Poststempel stand ganz deutlich Kleinkoping.«
        Lolas Brief! Lola! Lola Hellberg, wer denn sonst? »Es bewegt sich in meinen kleinen grauen Gehirnzellen«, konstatierte Kalle mit Genugtuung. Er selbst hatte den Brief an Lola Hellberg in den Briefkasten gesteckt - wer auch immer diese ehren-werte Dame sein mochte. Und er hatte sie in seinem Notizbuch stehen.
        Kalle versuchte beharrlich, etwas mehr von dem Gesprach der beiden Manner aufzufassen, aber es gelang ihm nicht. Gleich darauf kam der Portier und meldete, da? das Zimmer fur die Herren bereit sei. Der Unangenehme und der Blasse erhoben sich und gingen. Und Kalle beabsichtigte, das gleiche zu tun.
        Da sah er, da? die Portierloge leer war. Es war im Augenblick niemand au?er ihm in der Hotelhalle. Ohne langes Bedenken schlug er das Fremdenbuch auf und schaute hinein. Der Unangenehme hatte sich zuerst eingeschrieben, das hatte er beobachtet.
»Tore Krok, Stockholm« - das mu?te er sein! Und wie hie? der Blasse? »Ivar Redig, Stockholm.«
        Kalle zog sein kleines Notizbuch hervor und trug sorgfaltig Namen und Personalbeschreibung seiner neuen Bekannten ein.
        Er schlug auch Onkel Einars Seite auf und notierte: »Nennt sich wahrscheinlich mitunter Brane.«
        Dann steckte er die Zeitung unter den Arm und verlie? das Hotel, vergnugt einen Schlager pfeifend.
        Und dann war da noch eine Sache - das Auto! Das mu?te ihnen gehoren, man sah so selten Stockholmer Autos hier in der Stadt. Und wenn sie mit dem Sechsuhrzug gekommen waren, so hatten sie sich schon vor mehreren Stunden ein Hotelzimmer besorgt gehabt. Er notierte die Nummer und die ubrigen Kenn-zeichen.
        Dann besah er die Reifen. Sie waren sehr abgenutzt, au?er dem rechten Hinterreifen. Das war ein funkelnagelneuer von der Gummifabrik Gislaved. Kalle machte eine kleine Skizze des Reifenmusters. »Reine Routinearbeit«, sagte er und steckte das Notizbuch in seine Hosentasche.
        ACHTES KAPITEL
        Wie verabredet, brach der Krieg der Rosen am nachsten Tage aus. Sixtus fand in seinem Briefkasten einen Zettel, vollge-schrieben mit den furchtbarsten Beleidigungen. »Die Richtig-keit des Obenstehenden wird von Anders Bengtsson bezeugt, dem Chef der Wei?en Rose, dessen Schuhband zu losen du nicht wurdig bist«, stand darunter, und unter lebhaftem Zahne-knirschen ruckte Sixtus aus und suchte Benka und Jonte auf.
        Die Wei?en Rosen lagen in hochster Bereitschaft in Backermeisters Garten, den Anfall der Roten erwartend. Kalle sa? hoch oben im Ahornbaum, von wo aus man Aussicht uber die ganze Stra?e bis hinunter zur Villa des Postdirektors hatte. Er hatte das Auskundschaften ubernommen, sowohl sein privates wie das der Wei?en Rose.

»Ich habe eigentlich keine Zeit, Krieg zu fuhren«, hatte er zu Anders gesagt. »Ich bin beschaftigt.«

»Nanu«, sagte Anders. »Ist wieder ein Kriminaldrama im Gang wie gewohnlich? Ist Friedrich mit dem Fu? wieder dabei, sich die Kollekte anzueignen?«

»Ach, rutsch mir den Buckel runter!« sagte Kalle. Er sah ein, da? es zwecklos war, Verstandnis zu erwarten. Und er kletterte folgsam auf den Baum, wie es ihm befohlen worden war. Unbedingter Gehorsam gegen den Chef gehorte zu den Geboten der Wei?en Rose.
        Da? Kalle zum Kundschafter bestimmt worden war, hatte indessen den Vorteil, da? er? indem er Ausschau nach den Roten Rosen hielt, zugleich Onkel Einar uberwachen konnte. Der sa? im Augenblick auf der Veranda und half Tante Mia, Erdbeeren abzuzupfen. Das hei?t, nachdem er zehn Stuck geputzt hatte, steckte er sich eine Zigarette an, setzte sich auf das Gelander und baumelte mit den Beinen, neckte ein bi?chen Eva-Lotte, wenn sie, auf dem Weg zum Hauptquartier der Wei?en Rose, vorbei-lief, und sah im ubrigen aus, als ob er sich langweile.

»Wirst du dessen nicht uberdrussig, so herumzusitzen?« horte Kalle Tante Mia fragen. »Ich finde, du solltest einen Spaziergang in die Stadt machen oder mit dem Rad zum Baden fahren oder irgend etwas Derartiges. Im ubrigen ist ja an den Abenden Tanz im Hotel - da? du da nicht hingehst!«

»Danke fur deine Fursorge, Miachen«, sagte Onkel Einar.

»Aber ich finde es hier im Garten so schon, da? ich nicht das geringste Bedurfnis nach einer Beschaftigung habe. Hier kann ich mich richtig erholen und meine Nerven ausruhen. Ich fuhle mich ruhig und harmonisch, seitdem ich hier bin.«

»Ruhig und harmonisch - ja, ph!« dachte Kalle. »Er ist ungefahr so harmonisch wie eine Schlange im Ameisenhaufen. Er kann wohl deswegen nachts nicht schlafen und hat einen Revolver unter dem Kopfkissen, weil er so furchtbar ruhig und harmonisch ist.«

»Wie lange bin ich eigentlich schon hier?« fragte Onkel Einar.

»Die Tage vergehen so schnell, da? man ganz aus der Rechnung kommt.«

»Am Samstag werden es vierzehn Tage.«

»Du lieber Himmel, nicht langer? Mir kommt es vor, als ob ich schon einen Monat hier ware. Jaja, ich mu? wohl bald daran denken abzureisen.«

»Noch nicht, noch nicht«, wimmerte Kalle leise oben im Ahornbaum. »Erst mu? ich herauskriegen, warum du hier her-umsitzt und dich wie ein Hase im Gebusch verkriechst.«
        Kalle war so gefesselt von dem Gesprach auf der Veranda, da? er ganz verga?, da? er als Kundschafter fur die Wei?e Rose Dienst tat. Er wurde von einer flusternden Beratung auf der Stra?e drau?en in die Wirklichkeit zuruckgerufen. Da standen Sixtus und Benka und Jonte und versuchten, durch den Zaun zu gucken. Sie sahen Kalle oben im Ahornbaum nicht.

»Eva-Lottes Mutter und irgend so ein Vogel sitzen auf der Veranda«, rapportierte Sixtus. »Wir konnen also nicht durch die gro?e Gartentur gehen. Wir machen eine Umgehung uber die Flu?brucke und uberrumpeln sie von der Flu?seite her. Sie sind sicher in ihrem Hauptquartier auf dem Boden.«
        Die Roten verschwanden wieder. Kalle stieg eiligst vom Baum herunter und rannte zur Backerei, wo Anders und Eva-Lotte sich die Wartezeit damit vertrieben, an dem Seil hinun-terzurutschen, das noch seit der Zirkuszeit da hing.

»Die Roten kommen!« schrie Kalle. »Sie kommen in einer Sekunde uber den Flu?!«
        Dort, wo der Flu? durch den Backereigarten flo?, war er nicht mehr als zwei Meter breit. Eva-Lotte hatte ein Brett da unten liegen, das man bei Bedarf als
»Zugbrucke« benutzen konnte. Das war eine ganz unsichere Bruckenverbindung, aber wenn man schnell und gleichma?ig lief, geschah es nur selten, da? man ins Wasser fiel. Und selbst wenn es passierte, beschrankte sich das Ungluck meistens nur auf ein Paar nasse Hosen, da das Wasser hier nicht sehr tief war.
        Die Wei?en beeilten sich, bereitwillig die Zugbrucke auszu-legen, und dann krochen sie ruhig hinter das Erlengebusch am Flu?ufer.
        Sie brauchten nicht lange zu warten. Mit wachsender Begeisterung beobachteten sie, wie die Roten auf der entgegengesetzten Seite auftauchten, vorsichtig nach ihren verborgenen Feinden spahend.

»Ha, die Zugbrucke ist heruntergelassen!« schrie Sixtus. »Zum Kampf! Der Sieg ist unser!«
        Er sturzte auf den Steg, Benka folgte ihm auf dem Fu?e. Das war der Augenblick, auf den Anders gewartet hatte. Wie ein Blitz scho? er hervor, und gerade bevor Sixtus auf dem trocke-nen Land Fu? gefa?t hatte, tippte er ein kleines bi?chen an das Brett. Mehr war nicht notig.

»So ging es Pharao, als er durch das Rote Meer wollte!« schrie Eva-Lotte dem planschenden Sixtus aufmunternd zu.
        Dann rannten die Wei?en, so schnell ihre Fu?e sie tragen konnten, zur Backerei hinauf, wahrend Sixtus und Benka unter lautem Rachegeschrei ans Land krochen. Anders, Kalle und Eva-Lotte nutzten die kostbaren Sekunden aus, um sich auf dem Boden zu verbarrikadieren. Die Tur zur Treppe wurde sorgfaltig geschlossen und das Seil hochgezogen. Dann stellten sie sich vor die offene Bodenluke und warteten auf ihre Feinde. Feldge-schrei kundigte ihre Ankunft an.

»Bist du sehr na? geworden?« fragte Kalle teilnahmsvoll, als Sixtus auftauchte.

»Ungefahr so, wie du immer hinter den Ohren bist«, sagte Sixtus.

»Kommt ihr freiwillig raus oder sollen wir euch ausrau-chern?« schrie Jonte.

»Ach, ihr werdet wohl rauf klettern und uns holen konnen«, sagte Eva-Lotte. »Macht es euch was aus, wenn wir euch dabei etwas siedendes Pech hinter die Hemdenkragen gie?en?«
        Im Laufe der Jahre hatte es viele Kampfe zwischen den Wei?en und den Roten Rosen gegeben. Es herrschte aber nicht die geringste Feindschaft zwischen den Mitgliedern der beiden Banden. Im Gegenteil, sie waren die allerbesten Freunde, und ihre Kampfe waren fur sie alle nichts anderes als ein lustiges Spiel.
        Es gab keine bestimmten Regeln, wie die Kriegfuhrung ge-handhabt werden sollte. Man hatte nur ein Ziel: die gegnerische Seite soviel wie moglich zu argern, und dafur waren fast alle Mittel erlaubt, au?er naturlich Eltern und andere au?enstehen-de Personen hineinzuziehen. Sich des Hauptquartiers des Gegners zu bemachtigen, zu spionieren und zu uberraschen, Gei-seln zu nehmen, gra?liche Drohungen auszusto?en und ehren-krankende Briefe zu schreiben, die »heimlichen Papiere« des Gegners zu stehlen und selbst eine gro?e Menge davon herzustellen, so da? es fur den Gegner etwas zu klauen gab, kostbare Aktenstucke quer durch die Linien des Feindes zu schmuggeln -all das waren wichtige Bestandteile, die zum Krieg der Rosen gehorten.
        Im Augenblick fuhlten die Wei?en sich grenzenlos uberlegen.

»Ruckt ein bi?chen weiter«, sagte Anders hoflich. »Ich will gerade mal spucken!«
        Die Roten zogen sich knurrend hinter die Hausecke zuruck und versuchten vergebens, die Tur zur Treppe zu offnen.
        Aber das Kriegsgluck hatte den Chef der Wei?en ubermutig gemacht.

»Gru?t die Roten und sagt ihnen, da? ich funf Minuten Urlaub fur ein Naturbedurfnis genommen habe«, sagte er und rutschte am Seil hinunter. Er berechnete, da? er das kleine Haus mit dem Herzen in der Holztur erreichen wurde, bevor die Roten entdeckten, da? er den Boden verlassen hatte. Seine Berechnung schlug nicht fehl. Er verschwand im Hauschen und riegel-te sich ordentlich ein. Aber er hatte nicht an den Ruckzug gedacht. Hinter der Hausecke stand Sixtus, und sein Gesicht bekam beinahe einen verklarten Schimmer, als er dahinterkam, wo er seinen Feind hatte. Er brauchte ungefahr zwei Sekunden, um hinzurennen und den Haspen an der Au?enseite der Tur vorzu-schieben, und das triumphierende Gelachter, das er danach an-hob, war das unheilverkundendste, das Eva-Lotte und Kalle je gehort hatten.

»Unser Chef mu? aus seiner schrecklichen Gefangenschaft befreit werden«, sagte Eva-Lotte bestimmt.
        Die Roten tanzten im Freudenrausch einen Kriegstanz.

»Die Wei?e Rose hat sich ein neues Hauptquartier be-schafft«, grinste Sixtus. »Da werden die Rosen dann schoner duften als je.«

»Bleib hier und beschimpfe sie«, sagte Eva-Lotte zu Kalle.

»Dann will ich sehen, was ich machen kann.«
        Es gab noch eine Treppe vom Boden, aber sie fuhrte nicht ins Freie. Sie fuhrte direkt in die Backerei hinunter. Hier hatte Eva-Lotte nun eine gute Moglichkeit, hinauszukommen, ohne da? die Gegner es merkten. Sie lief durch die Backerei, nahm sich im Vorbeigehen ein paar Kuchen und verschwand durch die Tur am anderen Ende des Gebaudes. Dann machte sie eine Umgehung, und es gelang ihr nach langen Umwegen, sich auf den Zaun hinter das Wirtschaftsgebaude hinauf zu praktizieren, ohne von den Roten beobachtet zu werden. Mit einem langen Stock bewaffnet, kletterte sie auf das Dach des Wirtschaftsgebaudes. Anders horte, da? uber seinem Kopf etwas vorging, und das gab ihm einen Hoffnungsstrahl in seiner klaglichen Lage.
        In der Zwischenzeit war Kalle voll damit beschaftigt, Beschimpfungen gegen Sixtus und seine Kumpane hinunterzu-schleudern, um ihre Aufmerksamkeit auf den Boden zu lenken.
        Nun kam ein unendlich spannender Augenblick, als Eva-Lotte den Stock hinunterstreckte, um den Haspen zuruckzuschieben.
        Wenn die Roten sich in diesem Augenblick umdrehten, war alles verloren. Kalle beobachtete mit Spannung jede von Eva-Lottes Bewegungen, und er brauchte seine ganze Selbstbeherrschung, um mit den Beschimpfungen fortzufahren.

»Lausehunde seid ihr!« sagte er gerade, als Eva-Lottes Versuche mit Erfolg gekront wurden. Anders fuhlte, da? die Tur nachgab, und er machte einen Sturmlauf von hundert Metern zu einer der alten Ulmen hin. Auf Grund vieljahriger Ubung brauchte er nur einen Augenblick, um sich auf den Baum zu schwingen, und als die Roten, uber die Flucht erbittert, sich wie eine Koppel Bluthunde unter dem Baum drangten, schrie er, er wolle den ersten, der sich in den Baum hinaufwagte, so zusam-menschlagen, da? seine eigene Mutter ihn nicht wiedererkennen wurde.
        Im letzten Augenblick erinnerte sich Sixtus an Eva-Lotte. Sie war gerade dabei sich in Sicherheit zu bringen. Aber es sollte sich bald zeigen, da? sie die Freiheit ihres Chefs auf Kosten ihrer eigenen erkauft hatte. Die Roten umringten das Wirtschaftsgebaude, und Eva-Lotte fiel wie eine reife Frucht in ihre ausgestreckten Hande, als sie auf den Zaun hinunterklettern wollte.

»Schnell, bringt sie hinuber in unser Hauptquartier!« schrie Sixtus.
        Eva-Lotte wehrte sich mit dem Mut einer Lowin, aber Benkas und Jontes harte Fauste zwangen sie bald dazu, sich zu un-terwerfen. Die Wei?en beeilten sich, ihr zu Hilfe zu kommen.
        Kalle rutschte die Leine hinunter, und Anders tat einen lebensgefahrlichen Sprung von der Ulme. Aber wahrend Jonte und Benka Eva-Lotte zum Flu? hin knufften und stie?en, hielt Sixtus die Verfolger mit Abwehrkampfen auf, so da? die Roten mit ihrer Kriegsgefangenen ungestort den »Wallgraben« erreichten. Die sich wild straubende Eva-Lotte uber die »Zugbrucke« zu befordern, war naturlich eine Unmoglichkeit. Deswegen knuffte Benka sie ohne weiteres ins Wasser, wobei er selbst und Jonte hinterherplumpsten.

»Keinen Widerstand, denn dann mu?ten wir dich ertran-ken«, sagte Jonte. Die Drohung hinderte jedoch Eva-Lotte nicht im mindesten, sich mit allen Kraften zu strauben, und es bereitete ihr gro?e Genugtuung, da? es ihr gelang, Benka und Jonte ein paarmal unterzutauchen. Ja, naturlich wurde sie auch mit untergetaucht, aber das verringerte nicht die Spur ihre Befriedigung.
        Oben auf der Boschung ging der Kampf mit unverminderter Starke weiter. Der Larm war so gro?, da? Backermeister Lisander sich veranla?t sah, seine Teige zu verlassen, um nachzusehen, was vorging. Er wanderte gemachlich zum Flu? hinunter, gerade als seine Tochter ihren wassertriefenden Kopf nach einem Besuch unter der Oberflache hervorstreckte. Benka und Jonte lie?en Eva-Lotte los und warfen einen schuldbewu?ten Blick auf den Backermeister. Auch der Kampf oben auf der Boschung endete. Der Backermeister schaute sein Kind nachdenklich an und stand eine Weile still.

»Wie ist es, Eva-Lotte, kannst du Hundeschwimmen?«

»Klar«, sagte Eva-Lotte, »ich kann alle Schwimmarten.«

»Aha! Ja, das wollte ich blo? wissen«, sagte der Backermeister und ging gelassen wieder zur Backerei zuruck.
        Die Rote Rose hatte ihr Hauptquartier in der Garage, die zur Villa des Postdirektors gehorte. Es stand gerade kein Auto darin, weshalb Sixtus den Raum fur sich selbst mit Beschlag belegt hatte. Hier hatte er seine Angelrute und seinen Fu?ball, sein Fahrrad, Pfeil und Bogen, seine Schie?scheibe und alle Geheimpapiere und Akten der Roten Rose. Hier wurde die durch-weichte Eva-Lotte eingesperrt, aber Sixtus bot ihr ritterlich an, ihr seinen Trainingsoverall zu leihen.

»Edelmut den Besiegten gegenuber, das ist mein Wahlspruch«, sagte er.

»Ah, ich bin nicht eine Spur besiegt«, sagte Eva-Lotte. »Ich werde bald befreit. In der Zwischenzeit konnen wir nach der Scheibe schie?en.« Dagegen hatten die Gefangenenwarter nichts einzuwenden.
        Anders und Kalle standen noch am Flu? und hielten dusteren Kriegsrat. Es krankte sie, da? es ihnen nicht gelungen war, Sixtus zu ubermannen, so da? man die Gefangenen hatte austau-schen konnen.

»Ich schleich’ mich hin und rekognosziere«, sagte Anders.

»Du setzt dich in den Ahorn und haltst Ausschau fur den Fall, da? sie auf die Idee kommen sollten, wieder hierher zuruckzu-kehren. Verteidige das Hauptquartier bis zum letzten Mann!
        Und solltest du ubermannt werden, so verbrenne erst alle Geheimpapiere!«
        Kalle sah ein, da? es schwer sein wurde, allen Befehlen in ihrem ganzen Ausma? nachzukommen, aber er machte keine Einwendungen.
        Ein vortrefflicher Aussichtspunkt, der Ahornbaum! Man sa? da richtig bequem in einer Astgabelung, gut versteckt durch das Laub, und hatte einen Uberblick uber den vorderen Teil von Backermeisters Garten und uber die Stra?e in ihrer ganzen Ausdehnung bis zu der Ecke, wo sie auf die Kleine Stra?e traf.
        Kalle fuhlte sich ganz erfrischt durch die ausgefochtenen Kampfe, aber gleichzeitig hatte er ein schlechtes Gewissen. Er wu?te, da? er seine Pflicht gegen die Gesellschaft vernachlassigt hatte. Wenn nicht der Krieg der Rosen dazwischengekommen ware, dann hatte er schon am fruhen Morgen vor dem Hotel gestanden und die beiden Herren uberwacht, die gestern abend angekommen waren. Das wurde ihn vielleicht der Losung des Ratsels einen Schritt nahergebracht haben.
        Onkel Einar wanderte auf dem Gartenweg unten hin und her, hin und her … Er sah nicht den Beobachter im Ahornbaum, so da? Kalle ihn in aller Ruhe betrachten konnte. Jede Bewegung, die er machte, verriet Ungeduld und Mi?vergnugen.
        Sein Gesicht hatte einen solchen Ausdruck von Rastlosigkeit und Unlust, da? er Kalle beinahe leid tat.

»Man sollte doch etwas mehr mit ihm spielen«, dachte Kalle plotzlich teilnahmsvoll.
        Vor dem Zaun war die Stra?e menschenleer. Kalle sah auch zum Postdirektorhaus hinunter. Von daher konnte er den Angriff erwarten. Aber keine Roten Rosen waren zu sehen. Kalle warf einen Blick nach der anderen Seite. Da kam jemand. Das waren - ja wahrhaftig, sie waren es! Da waren die Kerle - wie hie?en sie doch gleich? Krok und Redig! Kalle wurde sofort gespannt wie eine Stahlfeder. Sie kamen immer naher. Gerade als sie an der Gartentur vorbeigingen, erblickten sie Onkel Einar.
        Und er erblickte sie!
        Es war abscheulich, das mit anzusehen! fand Kalle. Wie in diesem Augenblick alle Farbe aus Onkel Einars Gesicht verschwand! Wenn er tot gewesen ware, hatte er nicht wei?er sein konnen. Und eine Ratte, die plotzlich sieht, da? sie in einer Falle gefangen ist, konnte nicht einen solchen Ausdruck von Todesangst im Gesicht haben wie Onkel Einar, als er an der Gartentur stand. Einer der beiden Manner fing an zu sprechen. Es war der kleine Blasse, Redig. Seine Stimme klang unbeschreiblich weich und zart. »Sieh, sieh, hier haben wir Einar«, sagte er.

»Unseren lieben alten Einar!«
        NEUNTES KAPITEL
        Kalle fuhlte, wie es ihm kalt uber den Rucken lief. Es war diese Stimme, die das verursachte. Au?erlich klang sie so weich, aber es war, als ob etwas sehr Unangenehmes und Gefahrliches sich dahinter verberge.

»Es scheint nicht so, als ob du dich besonders freust, uns zu sehen, alter Freund«, flotete die weiche Stimme.
        Onkel Einar griff mit beiden Handen um die Gartentur.

»Doch«, sagte er, »ja, naturlich freue ich mich. Aber ihr kommt so unerwartet.«

»Wirklich?« Der Blasse lachte. »Ja, du hast vergessen, uns deine Adresse zu hinterlassen, als du verschwandest. Zer-streutheit naturlich! Glucklicherweise hast du einen Brief an Lola mit einem einigerma?en deutlichen Poststempel geschrieben. Und Lola ist ein verstandiges Madchen. Wenn man ernsthaft mit ihr spricht, so ist sie nicht diejenige, die einem etwas vorenthalt.«
        Onkel Einar atmete heftig. Er beugte sich uber die Gartentur zu dem Blassen vor.

»Was hast du mit Lola gemacht, du …?«

»Ruhe, Ruhe!« Die weiche Stimme unterbrach ihn. »Reg dich nicht auf! Ruhe, Erholung und Ausspannung soll man in seinen Ferien haben. Denn das hier ist wohl ein kleiner Ferien-ausflug, soweit ich verstehe?«

»Ja, ja«, sagte Onkel Einar. »Ich bin hierhergefahren, um mich ein bi?chen auszuruhen.«

»Das verstehe ich! Du hast in der letzten Zeit hart gearbeitet, was?«
        Es war die ganze Zeit uber der blasse Ivar Redig, der das Wort fuhrte. Der, den Kalle den Unangenehmen nannte, stand nur still da und lachelte, aber es war nicht das, was Kalle unter einem freundlichen Lacheln verstand.

»Wenn ich dem in einer einsamen Stra?e begegnete, wurde ich Angst bekommen«, dachte Kalle. »Obgleich es fraglich ist, ob es nicht noch schlimmer ware, dem Blassen - Ivar Redig - zu begegnen.«

»Was willst du eigentlich, Artur?« fragte Onkel Einar.

»Artur - er hei?t ja Ivar«, dachte Kalle. »Aber Schurken und Banditen - die haben ja wohl immer mehrere Namen.«

»Du wei?t verdammt gut, was ich will«, sagte der Blasse, und seine Stimme klang jetzt etwas harter. »Komm mit auf eine kleine Autofahrt, dann konnen wir die Sache besprechen.«

»Ich habe nichts mit euch zu besprechen«, sagte Onkel Einar heftig. Der Blasse kam einen Schritt naher.

»Nicht?« fragte er mild.
        Was war das, was er in der Hand hielt? Kalle mu?te sich hin-unterbeugen, um besser sehen zu konnen. »Nee, nu schlagt’s ein«, flusterte Kalle. Diesmal war es Onkel Einar, der vor einer Revolvermundung stand. Eigentumliche Gewohnheiten haben diese Leute! Laufen wochentags mit einem Revolver herum!
        Der Blasse lie? seine Hand zartlich uber das glanzende Metall gleiten, bevor er weitersprach: »Wenn du es dir etwas besser uberlegt hast, so kommst du doch wohl mit?«

»Nein«, rief Onkel Einar. »Nein! Ich habe nichts mit euch zu besprechen. Macht, da? ihr fortkommt, sonst …«

»Sonst rufst du die Polizei, was?« Die beiden Manner vor der Gartentur lachten.
»Ach nein, Einarchen, das la?t du wohl sein! Dir ist wohl ungefahr ebensowenig wie uns daran gelegen, die Polizei hineinzuziehen.«
        Der Blasse lachte wieder, ein merkwurdig unheimliches Lachen. »Denk mal an, wie gut du dir das ausgedacht hast, Einarchen! Eine kurze Zeit Ferien im tiefsten Inkognito hier, bis sich die schlimmste Aufregung gelegt hat. Viel schlauer, als zu versuchen, sofort ins Ausland zu kommen. Verstandiger Bursche!« Er schwieg einen Augenblick. »Aber du bist doch etwas zu pfiffig gewesen«, fuhr er fort, und jetzt war die Stimme nicht mehr weich. »Es lohnt sich niemals, seine Teilhaber hintergehen zu wollen. Viele haben in jungen Jahren dran glauben mussen, die das versucht haben. So war es nicht gemeint, da? drei die Arbeit machen und einer die ganze Pinke fur sich behalt!«
        Der Blasse beugte sich uber die Gartentur und betrachtete Onkel Einar mit einem so ha?erfullten Gesichtsausdruck, da? Kalle oben in seinem Baum zu schwitzen begann.
»Wei?t du, wozu ich Lust hatte?« sagte er. »Ich hatte Lust, dir eine Kugel durch den Leib zu jagen, so wie du hier gehst und stehst, du langes, feiges Reff!«
        Es schien, als ob Onkel Einar anfing, die Fassung wiederzu-gewinnen. »Und welchen Zweck soll das haben?« sagte er.

»Willst du so gern wieder ins Kittchen zuruck? Schie? mich nieder, und in funf Minuten hast du die Polizei hier. Was ge-winnst du damit? Du glaubst wohl nicht, da? ich alles mit mir herumtrage? Nein, tu das kleine Spielzeug da weg« - er zeigte auf den Revolver -, »und la? uns vernunftig miteinander reden.
        Wenn ihr euch anstandig benehmt, bin ich vielleicht bereit zu teilen.«

»Dein Edelmut ubersteigt alle Grenzen«, hohnte der Blasse.

»Du bist bereit zu teilen! Schade, da? du etwas zu spat auf diese glanzende Idee gekommen bist! Ganz und gar zu spat! Denn siehst du, Einarchen, jetzt sind wir es, die nicht teilen wollen!
        Du bekommst eine kleine Weile Bedenkzeit - seien wir gro?zugig und sagen wir funf Minuten -, und dann ubergibst du uns den ganzen Rummel. Ich hoffe in deinem eigenen Interesse, da? du verstanden hast, was ich gesagt habe.«

»Und wenn ich es nicht verstanden habe? Ich habe es nicht hier, und wenn du mich ins Jenseits beforderst, wird ganz bestimmt niemand dasein, der dir helfen kann, es zu finden.«

»Einar, alter Freund, du glaubst wohl nicht, da? ich von gestern bin? Es gibt Mittel, Leute, die keine Vernunft annehmen wollen, zu zwingen, feine Mittel! Ich wei?, was du jetzt denkst.
        Ich wei? das ebensogut, als ob ich direkt in deinen verfaulten Schadel reingucken konnte. Du glaubst, du kannst uns noch einmal betrugen! Du glaubst, du kannst uns mit deinem Geschwatz von Teilung aufhalten, und dann haust du in aller Stille ab und schuttelst den Staub der Heimaterde von deinen Fu?en, bevor wir es verhindern konnen! Aber ich will dir etwas sagen!
        Wir werden dich daran hindern, und zwar auf eine Weise, die du niemals vergessen wirst! Wir bleiben hier in der Stadt, Tjomme und ich. Und du sollst mal sehen, wie oft du uns treffen wirst. Jedesmal, wenn du versuchst, vor diese Gartentur zu gehen, wirst du deine lieben alten Freunde treffen. Und irgendwann werden wir wohl mal Gelegenheit haben, ungestort miteinander zu reden - meinst du nicht?«

»Das ist richtig so, wie es immer in Buchern steht - ein unheilverkundendes Lacheln«, dachte Kalle und betrachtete nachdenklich das Gesicht des Blassen. Er beugte sich vor, um besser zu sehen, und im selben Augenblick knackte ein kleiner Zweig.
        Onkel Einar blickte hastig umher, um zu sehen, woher der Laut gekommen war, und Kalle wurde es eiskalt vor Schreck, und der Atem stockte ihm.

»Wenn sie mich blo? nicht entdecken! Blo? nicht! Denn dann werde ich bestimmt liquidiert.«
        Er begriff, da? seine Situation au?erst gefahrlich werden konnte, wenn man ihn entdeckte. Es war nicht anzunehmen, da? ein Mann vom Kaliber des Blassen viel Mitleid mit einem Zeugen haben wurde, der das Gesprach der letzten zehn Minuten mit angehort hatte. Zum Gluck schien keinem der drei Manner viel daran gelegen zu sein, naher zu untersuchen, wer die kleine Unterbrechung verursacht hatte.
        Kalle atmete erleichtert auf. Sein Herz war wieder an seinen normalen Platz zuruckgesunken, als er plotzlich etwas zu sehen bekam, was es ihm wieder in den Hals Fahren lie?.
        Unten auf der Stra?e kam jemand. Eine kleine Gestalt in einem knallroten, viel zu gro?en Trainingsoverall. Es war Eva-Lotte. Sie schwenkte lustig ein nasses Kleid in der Hand und pfiff ihr Lieblingslied: »Es war einmal ein Madchen, und die hie? Josefin.«

»Wenn sie mich blo? nicht entdeckt«, wimmerte Kalle.

»Nur nicht! Denn wenn sie ›Hallo, Kalle!‹ ruft, dann bin ich erledigt.«
        Eva-Lotte kam naher.

»Klar, da? sie mich entdeckt. Klar, da? sie zu unserm Kundschafterplatz raufguckt! Ach, ach, warum hab’ ich mich blo? hier raufgesetzt!«

»Hallo, Onkel Einar«, sagte Eva-Lotte.
        Onkel Einar freute sich immer, wenn er Eva-Lotte sah. Aber jetzt sah er nahezu verklart aus.

»Gut, da? du kommst, Eva-Lottchen«, sagte er. »Ich wollte gerade reingehen und sehen, ob Mutter das Mittagessen fertig hat. Komm, wir gehen zusammen.« Er winkte den beiden vor der Gartentur zu. »Auf Wiedersehen, Jungens«, sagte er. »Ich mu? jetzt leider gehen.«

»Auf Wiedersehen, lieber alter Einar«, sagte der Blasse.

»Wir treffen uns wieder, da kannst du sicher sein.«
        Eva-Lotte sah Onkel Einar fragend an. »Willst du nicht deine Freunde bitten, mit reinzukommen und mit uns zu essen?«

»Nein, wei?t du, ich glaube nicht, da? sie Zeit haben.«
        Onkel Einar nahm Eva-Lottes Hand.

»Ein andermal, kleines Fraulein«, sagte der Unangenehme.

»Jetzt … jetzt kommt es drauf an«, dachte Kalle, als Eva-Lotte am Ahorn vorbeiging. »O Gott!«

»Es war einmal ein Madchen, und die hie? Josefin.« Eva-Lotte sang und warf gewohnheitsgema? einen Blick zur Gabelung im Ahornbaum hinauf, dem Kundschafterplatz der Wei?en Rose. Kalle blickte direkt in ihre lustigen blauen Augen.
        Wahrend vieler Jahre hatte man den Krieg der Rosen mitgemacht. Man hatte auch an einer Menge furchtbarer Fehden zwischen Indianern und Bleichgesichtern teilgenommen. Man hatte als alliierter Spion wahrend des Weltkrieges Dienst getan. Und man hat zwei Sachen gelernt: sich nicht uberraschen lassen und den Mund halten, wenn es notwendig ist. Da sitzt ein Verbun-deter im Ahornbaum, aber er halt warnend den Finger vor den Mund, und seine ganze Miene ist ein einziges: »Sei still!«
        Eva-Lotte geht mit Onkel Einar weiter.

»Das einz’ge, was sie hatte, das war ’ne Nahmaschin, Nahmaschin-schin-schin, Nahma-Nahma-Nahmaschin.«
        ZEHNTES KAPITEL

»Was halten Sie von dieser bemerkenswerten Unterhaltung, Herr Blomquist?«
        Kalle lag auf dem Rucken unter dem Birnbaum in seinem eigenen Garten, und es war sein eingebildeter Zuhorer, der ihn wieder interviewte.

»Tja«, sagte Herr Blomquist. »Vor allen Dingen ist es klar, da? wir in diesem Kriminaldrama nicht nur einen Schurken haben, sondern drei. Und ich warne Sie, junger Mann (der eingebildete Zuhorer war besonders jung und unerfahren), ich warne Sie! Es wird sich viel in der nachsten Zukunft ereignen. Es ware am klugsten, sich an den Abenden zu Hause aufzuhalten. Das hier wird sicher ein Kampf auf Leben und Tod, und jemand, der es nicht gewohnt ist, mit der Hefe und dem Abschaum der Menschheit umzugehen, der kann sich dabei leicht seine Nerven vollstandig ruinieren.«
        Herr Blomquist selbst war ja so daran gewohnt, mit der Hefe und dem Abschaum der Menschheit umzugehen, da? sein Ner-vensystem widerstandsfahig genug war. Er nahm die Pfeife aus dem Mund und fuhr fort: »Sie verstehen: Diese beiden Herren hier, Krok und Redig - ja, ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, da? das naturlich nicht ihre richtigen Namen sind -, also diese beiden feinen Burschen werden Onkel Einar, hm, Einar Lindeberg oder Brane, wie er sich auch mitunter nennt, ordentlich den Kopf hei? machen. Offen gesagt - sein Leben ist in Gefahr!«

»Und welchen Standpunkt werden Sie, Herr Blomquist, in diesem Streit einnehmen?« fragte der Zuhorer achtungsvoll.

»Den Standpunkt der menschlichen Gesellschaft, junger Mann! Wie immer! Selbst wenn es um mein Leben gehen sollte!« Der Meisterdetektiv lachelte wehmutig. Im Interesse der menschlichen Gesellschaft hatte er sich schon tausend Toden ausgesetzt, so da? einmal mehr oder weniger keine Rolle spielte.
        Seine Gedanken gingen weiter.

»Aber ich mochte zu gern wissen, was es ist, was sie von Onkel Einar haben wollen«, sagte er zu sich selbst. Und jetzt war er nicht mehr Herr Blomquist, sondern nur Kalle, ein sehr verwirrter kleiner Kalle, der fand, da? das alles ganz unheimlich war.
        Da fiel ihm plotzlich die Zeitung ein! Diese Zeitung, die Onkel Einar gleich nach seiner Ankunft gekauft hatte, als sie im Garten der Konditorei sa?en! Sie lag in sicherem Verwahr in Kalles linker Schreibtischschublade. Aber Kalle hatte sie damals nicht naher studiert. »Ein unverzeihlicher Fehler«, wies er sich selbst zurecht und sprang auf. Er erinnerte sich, da? Onkel Einar sich uber die Seite mit den »Letzten Neuigkeiten« gesturzt hatte. Jetzt kam es nur darauf an, herauszukriegen, was es war, was ihn speziell interessiert hatte.

»Neuer Atombombenversuch« - kaum! »Roher Uberfall auf einen alten Mann« - kann es vielleicht das sein? Nein, hier stand ja, da? es zwei junge zwanzigjahrige Manner gewesen waren, die einen alteren Herrn uberfallen hatten, da er ihnen keine Zigaretten geben wollte. Da konnte Onkel Einar doch nicht gut mit dabeigewesen sein. »Gro?er Juwelendiebstahl auf Ostermalm« - Kalle stie? einen Pfiff aus und las in rasender Eile die Notiz durch.

»Ein gro?er Juwelendiebstahl fand in der Nacht zum Sonnabend in einer Wohnung in der Banerstra?e statt. Die Wohnung, die von einem bekannten Stockholmer Bankier bewohnt wird, stand wahrend der Nacht leer, weshalb die Diebe ganz ungestort operieren konnten. Es wird vermutet, da? sie sich Zutritt verschafft haben, indem sie mit einem Dietrich die Kuchentur offneten. Die Juwelen, die einen Wert von ungefahr hunderttausend Kronen reprasentieren, waren in einem Geldschrank verwahrt, der im Laufe der Nacht, wahrscheinlich zwischen zwei und vier Uhr, aus der Wohnung entfernt wurde. Er wurde am Sonnabendnachmittag in einem Wald, drei?ig Kilometer nordlich der Stadt, gesprengt und seines Inhaltes beraubt, wiedergefunden.
        Die Einbruchskommission der Kriminalpolizei, die am Sonn-abendmorgen alarmiert wurde, hat noch keine Spur von den Tatern. Man nimmt an, da? mindestens zwei oder noch mehr Personen an dem Coup beteiligt sind, den man als einen der frechsten Diebstahle bezeichnet, die bis jetzt in unserem Land verubt worden sind. Die Kriminalpolizei hat alle Polizeistationen im Lande benachrichtigt, und an allen Hafen und Grenz-
        ubergangen ist Extrabewachung angeordnet worden, da man vermutet, da? die Tater, um das gestohlene Gut verau?ern zu konnen, genotigt sein werden, sich ins Ausland zu begeben. Unter den gestohlenen Gegenstanden befindet sich ein au?erordentlich kostbares Platinarmband mit Brillanten, eine gro?e Anzahl Brillantringe, eine Brosche, bestehend aus vier gro?en Diamanten in Goldeinfassung, ein Perlenkollier aus orientali-schen Perlen und ein schwerer antiker Hangeschmuck aus Gold mit Smaragden.«

»Ich Rindvieh, ich gro?es, siebenfaches Rindvieh«, sagte Kalle. »Da? ich das nicht begriffen habe! Lord Peter Wimsey und Hercule Poirot hatten das schon langst herausgehabt! Das braucht man wei? Gott ja nur mit Verstand zu lesen!« Er nahm die Perle in die Hand. Wie konnte man wissen, ob eine Perle orientalisch war?
        Ein Gedanke schlug plotzlich wie ein Keulenschlag in seinem Kopf ein. »Ich trage es nicht mit mir herum«, hatte Onkel Einar gesagt. Nein, naturlich nicht! Und er, Kalle Blomquist, wu?te, wo das alles war, das Armband und die Brillanten und Smaragden und das Platin und wie es sonst noch hie?. In der Schlo?ruine naturlich! Naturlich in der Schlo?ruine! Onkel Einar wagte nicht, es bei sich in seinem Zimmer zu haben. Er mu?te es an einer sicheren Stelle verstecken. Und der Keller in der Schlo?ruine war ein guter Platz, da kam niemals ein Mensch hin.
        Die Gedanken brausten durch Kalles Kopf. Er mu?te zur Ruine gehen und versuchen, alle die Kostbarkeiten zu finden, bevor Onkel Einar dazu kam, sie von dort wegzuholen! O Gott, er mu?te ja auch Onkel Einar und die beiden anderen uberwachen, so da? er sie im geeigneten Augenblick verhaften konnte!
        Wo sollte er die Zeit fur das alles hernehmen? Noch dazu mitten im Krieg der Rosen!
        Nein, er konnte ohne Mithelfer die Sache nicht bewaltigen.
        Nicht einmal Lord Peter Wimsey konnte allein damit fertig werden. Er mu?te Anders und Eva-Lotte einweihen und sie um ihre Hilfe bitten. Ganz gewi? taten sie ja niemals etwas anderes, als ihn wegen seiner Detektivtatigkeit zu verhohnen, aber diesmal war es etwas anderes.
        Eine kleine innere Stimme sagte Kalle, da? er in diesem Falle seine Mithelfer bei der Polizei suchen sollte, und er wu?te, da? die Stimme recht hatte. Aber wenn er nun zur Polizei ging und alles erzahlte - wurden sie ihm glauben? Wurden sie ihn nicht auslachen, wie es erwachsene Menschen zu tun pflegen? Kalle hatte nur traurige Erfahrungen von fruheren Versuchen in der Detektivbranche. Keiner wollte glauben, da? man etwas ausrichten konnte, wenn man erst dreizehn Jahre alt war. Nein, er wollte lieber warten, bis er noch mehr Indizien beisammen hatte.
        Kalle legte vorsichtig die Perle in den Schubkasten zuruck.
        Schau, da hatte er ja auch Onkel Einars Fingerabdruck! Wer wei?, wann er ihm zustatten kommen wurde. Er war froh, da? er so vorsorglich gewesen war, sich den zu verschaffen.

»Die Polizei hat noch keine Spur von den Tatern«, hatte in der Zeitung gestanden Na ja, das war ja das ubliche! Aber vielleicht war es ihr gelungen, sich einige Fingerabdrucke am Tatort zu sichern! Fingerabdrucke! Wenn ein Einbrecher schon fruher mit der Polizei in Konflikt gekommen war, dann befanden sich seine Fingerabdrucke im Polizeiregister, und dann brauchte man sie nur mit denen zu vergleichen, die man am Tatort gefunden hatte, und die Sache war klar! Da konnte man im Handumdrehen sagen: »Diesen Einbruch hat Friedrich mit dem Fu? begangen!« Ja naturlich nur, wenn es Friedrichs Fingerabdrucke waren, die man fand. Aber es konnte auch sein, da? von dem, der den Einbruch verubt hatte, keine Fingerabdrucke im Polizeiregister waren, und dann machte die Sache schon weniger Spa?.
        Aber hier sa? nun Kalle mit dem Abdruck von Onkel Einars Daumen auf einem Stuck Papier, einem sehr deutlichen und guten Abdruck. Und langsam entwickelte sich ein Gedanke in ihm.
        Man konnte ja der armen Polizei etwas auf die Sprunge helfen, da sie »jede Spur der Tater vermi?te«. Wenn es sich nun wirklich um den Einbruch in der Banerstra?e handelte, an dem Onkel Einar mit beteiligt war - seiner Sache absolut sicher war Kalle naturlich nicht, aber die Indizien wiesen darauf hin -, dann wurde die Stockholmer Polizei vielleicht gern das kleine Stuck Papier mit Onkel Einars Daumenabdruck haben wollen.
        Kalle holte Papier und Federhalter hervor. Und dann schrieb er: »An die Kriminalpolizei Stockholm.«
        Er kaute eine Weile am Federhalter. Jetzt kam es darauf an, so zu schreiben, da? sie glaubten, es sei ein Erwachsener, der den Brief geschrieben hatte. Sonst warfen sie wahrscheinlich den Brief in den Papierkorb, die Dummkopfe! Kalle schrieb weiter:

»Wie aus den Zeitungen hervorgeht, scheint ein Einbruch dort in der Banerstra?e gewesen zu sein. Nachdem Sie sich vielleicht ein paar Fingerabdrucke gesichert haben, schicke ich hiermit einen dito in der Hoffnung, da? er mit einem von Ihren ubereinstimmt. Weitere Aufklarungen liefert gratis und franko
        Karl Blomquist, Privatdetektiv
        Adr.: Hauptstra?e 14, Kleinkoping.«
        Er zogerte etwas, bevor er »Privatdetektiv« hinschrieb. Aber dann dachte er, da? die Stockholmer Polizei ihn ja niemals zu sehen bekommen wurde, und da konnte sie ebensogut glauben, da? der Brief von Herrn Blomquist, Privatdetektiv, geschrieben worden war und nicht von Kalle, dreizehn Jahre alt.

»So«, sagte Kalle und klebte den Briefumschlag zu.
        Und jetzt schnell zu Anders und Eva-Lotte.
        ELFTES KAPITEL
        Anders und Eva-Lotte sa?en auf dem Dachboden der Backerei, dem Hauptquartier der Wei?en Rose. Das war ein wunderbar gemutlicher Aufenthaltsort. Au?er als Hauptquartier diente die alte Bodenkammer auch als Warenlager und als Sammelstelle fur allerlei ausgediente Mobel. Da stand eine wei?e Kommode, die kurzlich aus Eva-Lottes Zimmer verwiesen worden war, alte Stuhle standen zusammengedrangt in einer Ecke, auch ein ubel zugerichteter E?tisch war da, auf dem man bei Regenwetter Ping-Pong spielen konnte. Aber jetzt gerade hatten Anders und Eva-Lotte keine Zeit fur Ping-Pong. Sie waren eifrig damit beschaftigt, »heimliche Urkunden« herzustellen. Als sie fertig waren, legte Anders sie in einen Blechkasten, der das kostbarste Eigentum der Wei?en Rose war. Da waren Erinnerungen von fruheren Kriegen der Rose verwahrt, Friedensvertrage, heimliche Karten, Steine mit merkwurdigen Zeichen und eine ganze Menge anderer Sachen, die fur den Uneingeweihten wie Plunder aussahen. Aber fur die Mitglieder der Wei?en Rose bestand der Inhalt des Kastens aus lauter Kleinodien, fur die man bereit war, Leben und Blut zu
opfern. Der Chef trug Tag und Nacht den Schlussel des Kastchens an einer Schnur um den Hals.

»Wo steckt eigentlich Kalle?« fragte Anders und legte ein neu angefertigtes Dokument in den Kasten.

»Er sa? vor einer Weile noch im Ahorn«, sagte Eva-Lotte.
        Im selben Augenblick kam Kalle angerannt.

»Hort auf damit«, keuchte er. »Wir mussen sofort mit den Roten Frieden schlie?en. Im schlimmsten Fall mussen wir bedingungslos kapitulieren.«

»Bist du verruckt geworden?« sagte Anders. »Wir haben ja eben erst angefangen.«

»Das hilft nichts. Wir haben uns wichtigeren Sachen zu widmen. Eva-Lotte, hast du Onkel Einar furchtbar gern?«

»Gern haben?« sagte Eva-Lotte. »Warum sollte ich ihn denn so furchtbar gern haben?

»Ja, er ist ja doch der Vetter deiner Mutter!«

»Was das betrifft - ich glaube nicht, da? meine Mutter ihn selbst gern hat«, sagte Eva-Lotte. »Und da brauche ich ja auch nicht so besonders entzuckt von ihm zu sein. Aber warum fragst du?«

»Da wirst du nicht bose sein, wenn ich dir sage, da? Onkel Einar ein Verbrecher ist?«

»Na, nu hor auf, Kalle«, sagte Anders. »Es war Friedrich mit dem Fu?, der die Kollekte geklaut hat, nicht Onkel Einar!«

»Halt’s Maul! Lies das hier, bevor du dich au?erst«, sagte Kalle und gab ihm die Zeitung. Anders und Eva-Lotte lasen die Notiz »Gro?er Juwelendiebstahl auf Ostermalm«.

»Und jetzt hort mal zu«, sagte Kalle.

»Fuhlst du dich sonst ganz gesund?« fragte Anders teilnahmsvoll. Er wies mit dem schmutzigen Zeigefinger auf eine andere Notiz: »›Wutende Kuh verursacht Panik.‹ Glaubst du nicht, da? das auch Onkel Einar gewesen sein kann?«

»Halt’s Maul, sage ich. Eva-Lotte, du hast die beiden Kerle gesehen, die vor der Gartentur standen und eben mit Onkel Einar sprachen? Das waren seine Mittater, und Onkel Einar hat sie auf irgendeine Weise betrogen. Sie nennen sich Krok und Redig, und sie wohnen im Hotel. Und die Juwelen sind in der Schlo?ruine.«
        Die Worte sprudelten nur so aus Kalles Mund heraus.

»In der Schlo?ruine? Du hast ja gesagt, da? sie im Hotel wohnen?« sagte Anders.

»Krok und Redig, ja! Aber die Juwelen, du Rindvieh, das sind ja Smaragden und Platin und Diamanten! Himmel, wenn ich daran denke, Juwelen fur beinahe hunderttausend Kronen da unten im Keller!«

»Woher wei?t du das?« fragte Anders au?erst zweifelnd.

»Hat Onkel Einar es gesagt?«

»Etwas kann man sich auch selbst zusammenreimen«, sagte Kalle. »Wenn man ein Kriminalratsel losen will, mu? man immer mit dem Wahrscheinlichen rechnen.«
        Das war Meisterdetektiv Blomquist, der eben mal seine Nase reingesteckt hatte, aber er verschwand bald wieder, und zuruck blieb Kalle, eifrig gestikulierend und furchtend, da? er die anderen beiden nicht wurde uberzeugen konnen. Es dauerte eine ganze Weile. Aber schlie?lich gelang es ihm. Nachdem er alles erzahlt und uber seine Beobachtungen Bericht erstattet hatte, uber seinen nachtlichen Besuch bei Onkel Einar, den Perlen-fund in der Ruine und das Gesprach, das er oben im Ahornbaum belauscht hatte, war sogar Anders beeindruckt.

»Wahrhaftig, der Junge wird Detektiv, wenn er gro? ist«, sagte er billigend. »Zum Krieg der Rosen haben wir jetzt keine Zeit.«

»Naa, jetzt wei? ich es«, sagte Eva-Lotte. »Das ist der Grund, weshalb ich die Kuchenbuchsen nicht in Ruhe lassen kann. Ich bin ein Langfinger, genau wie Onkel Einar. So ist das, wenn man mit einem Verbrecher verwandt ist. Aber aus dem Hause soll er, und das sofort! Denkt blo?, wenn er das Silber-zeug klaut!«

»Du mu?t dich noch eine Weile gedulden«, sagte Kalle. »Im ubrigen hat er an wichtigere Sachen zu denken als an Silberzeug, das kannst du mir glauben. Er ist in einer verdammten Klemme, denn Krok und Redig bewachen ihn wie ihren Augen-stern.«

»Also deswegen hat er sich nach dem Essen hingelegt! Er sagte, da? er krank sei.«

»Du kannst dich darauf verlassen, er hat sich wirklich krank gefuhlt«, sagte Anders. »Aber jetzt mussen wir vor allen Dingen mit den Roten Frieden schlie?en. Du, Eva-Lotte, kannst die Parlamentarfahne hissen und hingehen und die Sache ordnen.
        Die werden naturlich glauben, da? wir verruckt geworden sind.«
        Eva-Lotte band gehorsam ein wei?es Taschentuch an einen Stock und marschierte zu Sixtus’ Garage hin, wo ihr Angebot bedingungsloser Kapitulation sowohl mit Verwunderung als auch mit Mi?vergnugen entgegengenommen wurde.

»Seid ihr nicht gesund?« fragte Sixtus. »Jetzt, wo wir gerade so schon in Gang gekommen sind!«

»Wir ubergeben uns bedingungslos«, sagte Eva-Lotte. »Ihr habt gewonnen. Aber wir werden euch bald wieder beleidigen, und dann sollt ihr mal sehen, wie die Funken fliegen!«
        Sixtus setzte widerwillig einen Friedensvertrag mit au?erst harten Bedingungen fur die Wei?en auf: Sie sollten bei Ausbe-zahlung des wochentlichen Taschengeldes auf die Halfte verzichten, zwecks Einkaufs von gemischten Bonbons fur die Roten. Wenn sie einem der Roten auf der Stra?e begegneten, sollten sich au?erdem die Wei?en dreimal tief verbeugen und sagen: »Ich wei?, da? ich nicht wurdig bin, den gleichen Boden zu betreten wie du, o Herr!«
        Eva-Lotte unterzeichnete den Vertrag im Auftrag der Wei-
        - en, druckte feierlich dem Chef der Roten die Hand und rannte zum Backereiboden zuruck. Als sie durch die Gartentur lief, konnte sie nicht vermeiden, einen von Onkel Einars »Freun-den« zu sehen, der gegenuber auf dem Burgersteig stand.

»Der Wachtdienst ist in vollem Gang«, rapportierte sie.

»Das hier wird sicher ein Krieg, der besser ist als der der Rosen«, sagte Anders zufrieden. »Du, Kalle, was wollen wir jetzt machen?«
        Obwohl Anders sonst der Chef war, sah er ein, da? er sich in diesem speziellen Fall Kalle unterordnen mu?te.

»Vor allen Dingen die Juwelen ausfindig machen! Wir mussen zur Schlo?ruine. Aber einer mu? zu Hause bleiben und Onkel Einar und die andern beiden uberwachen.«
        Kalle und Anders sahen Eva-Lotte auffordernd an.

»Niemals!« sagte Eva-Lotte bestimmt. »Ich will mitgehen und die Juwelen suchen. Im ubrigen liegt Onkel Einar im Bett und tut so, als ob er krank ware. Es wird also wohl nichts passieren, wahrend wir weg sind.«

»Wir wollen eine Streichholzschachtel vor seine Tur legen«, schlug Kalle vor.
»Wenn sie noch genauso daliegt, wenn wir nach Hause kommen, dann wissen wir, da? er nicht fort gewesen ist.«

»Mit Hacke und mit Spaten, so ziehn wir frohlich aus«, sang Anders, als sie eine Weile spater die schmale Treppe zur Ruine hinaufeilten.

»Wenn wir jemand treffen, dann sagen wir, da? wir nach Regenwurmern graben wollen«, sagte Kalle.
        Aber sie trafen niemand, und die Ruine lag einsam und verlassen da wie immer. Es war kein anderer Laut zu horen als das Summen der Hummeln.
        Plotzlich fiel Anders etwas ein. »Wie in aller Welt sollen wir in den Keller runterkommen? Du hast ja gesagt, da? dort die Juwelen sein mussen, Kalle. Wie bist du damals reingekommen, als du die Perle gefunden hast?«
        Das war Kalles gro?er Augenblick. »Ja, wie pflegt man durch geschlossene Turen zu kommen?« sagte er uberlegen und holte den Dietrich hervor.
        Das imponierte Anders mehr, als er eigentlich zugeben wollte.

»Kreuzdonnerwetter!« sagte er, und Kalle fa?te das als Kompliment auf.
        Die Tur drehte sich in ihren Angeln - der Durchgang war frei. Und wie eine Koppel Jagdhunde sturzten Kalle, Anders und Eva-Lotte die Treppe hinunter.
        Nachdem sie zwei Stunden gegraben hatten, legte Anders den Spaten fort.

»Ja, jetzt sieht der Fu?boden hier wie ein besseres Kartoffel-feld aus. Aber ich habe niemals irgendwo so wenig Diamanten gesehen wie hier. Woran das nun liegen mag!«

»Du kannst doch wohl nicht erwarten, da? wir sie sofort finden!« sagte Kalle. Aber auch er war entmutigt. Sie hatten jeden Zoll des Fu?bodens in dem gro?en Kellerraum, der unter der Treppe lag, umgegraben. Dies war der eigentliche Keller. Aber von da aus zweigten lange, dunkle, zum Teil eingefallene Gange ab, die in Krypten, Gewolbe und Gefangnishohlen fuhrten. Diese Gange sahen nicht so besonders verlockend aus, aber es war naturlich moglich, da? Onkel Einar aus reiner Vorsicht seinen Schatz irgendwo weiter hinten im Keller vergraben hatte. Und da konnten sie ein ganzes Jahr danach suchen. Wenn er ihn uberhaupt in der Schlo?ruine versteckt hatte. In Kalle fing leiser Zweifel an zu keimen.

»An welcher Stelle hast du die Perle gefunden?« fragte Eva-Lotte.

»Dort, bei der Treppe«, sagte Kalle. »Aber da haben wir ja alles umgegraben.«

 Eva-Lotte sank gedankenvoll auf die unterste Treppenstufe nieder. Die Steinplatte, die die unterste Treppenstufe bildete, war offenbar nicht befestigt, denn sie wackelte etwas, als sie sich darauf setzte. Eva-Lotte flog wieder hoch.

»Man kann wohl nicht annehmen …« fing sie an und griff mit eifrigen Handen um die Steinplatte. »Sie ist lose, seht doch blo?!«
        Zwei Paar Arme kamen ihr zu Hilfe. Die Steinplatte wurde zur Seite geschoben, und eine Menge Mauerasseln krochen schnell nach allen Seiten hin fort.

»Grab hier!« sagte Kalle aufgeregt zu Anders. Anders nahm den Spaten und stie? ihn mit aller Kraft da nieder, wo die Steinplatte gelegen hatte. Etwas leistete Widerstand.

»Das ist naturlich ein Stein«, sagte Anders, und er zitterte etwas, als er seinen Finger hinunterstreckte, um nachzufuhlen.
        Aber es war kein Stein. Es war … Anders betastete mit erdigen Handen den Gegenstand - es war ein Blechkasten. Er hob ihn auf - es war genau der gleiche wie der Reliquienschrein der Wei?en Rose.
        Kalle brach das atemlose Schweigen.

»Nu schlagt’s dreizehn«, sagte er. »Er hat unsern Kasten geklaut, der Dieb!«
        Anders schuttelte den Kopf. »Nein, das ist nicht unsrer. Den habe ich vor einer Weile mit meinen eigenen Handen verschlossen.«

»Aber es ist genau der gleiche«, sagte Eva-Lotte.

»Dann - hat er ihn im Eisengeschaft gekauft, gleichzeitig mit der Taschenlampe«, sagte Kalle. »Sie haben solche Kasten im Eisenwarengeschaft.«

»Ja, da haben wir auch unseren gekauft«, sagte Eva-Lotte.

»Mach ihn auf, bevor ich einen Anfall bekomme«, sagte Kalle.
        Anders befuhlte den Kasten. Er war verschlossen. »Ob der gleiche Schlussel fur alle diese Blechkasten pa?t?« Er ri? den Schlussel hoch, der an einer Schnur um seinen Hals hing.

»Oh«, sagte Eva-Lotte. »Oh!«
        Kalle atmete, als ob er zerspringen wollte. Anders steckte den Schlussel hinein und drehte um. Er pa?te.

»Oh«, sagte Eva-Lotte. Und als Anders den Deckel hob: »Nein, nein - das ist ja … das ist ja wie in Tausendundeiner Nacht!«

»Ja, also so sieht das aus - Smaragden und Platin«, sagte Kalle andachtig. Da lag alles genauso, wie es in der Zeitung gestanden hatte. Broschen und Ringe und Armbander und ein zerris-senes Perlenkollier mit Perlen, ganz genau wie die, die Kalle gefunden hatte.

»Hunderttausend Kronen!« flusterte Anders. »Junge, das ist beinahe unheimlich!«
        Eva-Lotte lie? die Juwelen zwischen ihren Fingern durch-gleiten. Sie nahm ein Armband und zog es uber ihren Arm, und sie steckte eine Diamantbrosche an ihr blaues Baumwollkleid.
        Sie zog einen Ring uber jeden ihrer zehn Finger, und so geschmuckt stellte sie sich vor die kleine Luke, durch die die Sonne hereinstromte. Es glanzte und funkelte um sie herum.

»Oh, wie wunderbar! Bin ich nicht wie die Konigin von Saba?«

»Wir haben jetzt keine Zeit mehr fur so was«, sagte Kalle.

»Wir mussen eiligst von hier weg. Nehmt mal an, Onkel Einar kommt plotzlich auf die Idee, sich hierherzuschleichen und den Schrein auszugraben! Nehmt an, er kommt jetzt gleich! Das ware ungefahr ebenso angenehm, wie einem bengalischen Tiger zu begegnen, was?«

»Ich wurde den Tiger vorziehen«, sagte Anders. »Aber Onkel Einar wagt nicht auszugehen, wie du wei?t. Denn Krok und Redig stehen da und lauern ihm auf.«

»Fur alle Falle«, sagte Kalle, »mussen wir sofort zur Polizei.«

»Polizei!« Anders’ Stimme druckte hochstes Mi?vergnugen aus. »Du denkst wohl nicht, da? wir die Polizei einmischen wollen, jetzt, wo es gerade interessant wird!«

»Das hier ist kein Krieg der Rosen«, sagte Kalle nuchtern.

»Wir mussen augenblicklich zur Polizei gehen. Die Schurken mussen verhaftet werden, das mu?t du doch begreifen!«
        Anders kraulte sich hinterm Ohr. »Konnten wir sie nicht in eine Falle locken und dann zur Polizei sagen: Hier, bitte, habt ihr drei prima Banditen, die wir fur euch gefangen haben!«
        Kalle schuttelte den Kopf. Ach, wie viele Male hatte nicht der Meisterdetektiv Blomquist auf eigene Faust Dutzende von groben Verbrechern unschadlich gemacht! Aber Meisterdetektiv Blomquist war die eine Person und Kalle die andere. Und mitunter war Kalle ein praktischer und verstandiger junger Mann.

»Wie du willst!« Anders beugte sich widerwillig der Sach-kenntnis, die Kalle immerhin auf kriminalistischem Gebiet reprasentierte.

»Aber dann«, sagte Eva-Lotte, »wollen wir mit Bjork sprechen. Er und niemand anders soll uns helfen. Dann wird er danach vielleicht Wachtmeister!«
        Anders betrachtete das Resultat der Ausgrabungen. »Was wollen wir damit machen? Kartoffeln setzen oder alles wieder zuschaufeln?«
        Kalle meinte, da? es wohl am klugsten ware, die Spuren ihres Besuches im Keller notdurftig zu verwischen.

»Aber beeile dich«, sagte er. »Es macht einen ganz nervos, hier zu stehen und einen Blechkasten mit hunderttausend Kronen in den Handen zu halten. Ich will so schnell wie moglich fort von hier.«

»Wie wollen wir es mit dem Kasten machen?« fragte Eva-Lotte.

»Wir konnen doch nicht ohne weiteres mit ihm angeschleppt kommen. Wo wollen wir ihn verstecken, bis wir mit Bjork gesprochen haben?«
        Nachdem man eine Weile beratschlagt hatte, wurde bestimmt, da? Anders den kostbaren Kasten ins Hauptquartier der Wei?en Rose auf dem Backereiboden bringen sollte, wahrend Kalle und Eva-Lotte losgingen, um Schutzmann Bjork aufzusuchen.
        Anders zog sein Hemd aus und wickelte es um den Kasten.
        Nur in Hosen, mit dem Spaten in der Hand und dem in das Hemd eingewickelten Kasten in der anderen, trat er den Ruckzug an. »Die glauben sicher, da? ich Regenwurmer ausgegraben habe, wenn ich jemand treffe«, sagte er hoffnungsvoll.
        Kalle schlug die Tur zu. »Etwas ist schade«, sagte er.

»Was denn?« fragte Eva-Lotte.

»Da? man nicht sehen kann, was Onkel Einar fur ein Gesicht macht, wenn er kommt, um den Kasten zu holen.«

»Ja, das ware funfundzwanzig Ore wert!«
        Auf der Polizeiwache herrschte Ruhe und Frieden. Ein Schutzmann sa? da und loste Kreuzwortratsel, als ob es keine Verbrechen in der Welt gabe. Aber es war nicht Bjork.

»Ist Schutzmann Bjork zu sprechen?« Kalle verbeugte sich hoflich.

»Er ist auf Dienstreise und kommt morgen zuruck. Aber wei?t du ein mythologisches Wunder mit acht Buchstaben?«
        Der Schutzmann bi? in den Bleistift und sah Kalle an.

»Nein, ich komme in einer ganz anderen Angelegenheit«, sagte Kalle.

»Ja, wie gesagt, Bjork kommt morgen wieder. Aber einen weiblichen Krieger mit sieben Buchstaben?«

»Eva-Lotte«, sagte Kalle. »Naturlich, das sind acht Buchstaben! Danke, wir kommen morgen wieder!«
        Kalle zog Eva-Lotte mit sich hinaus. »Man kann uber solche Sachen nicht mit einem Hanswurst reden, der sich nur fur mythologische Wunder interessiert«, sagte er.
        Eva-Lotte war derselben Meinung. Sie einigten sich dahin, da? es wohl kein Risiko ware, mit der polizeilichen Anzeige bis zum nachsten Tag zu warten. Onkel Einar lag ja in sicherem Gewahrsam in seinem Bett.

»Und da steht Krok vor dem Uhrengeschaft«, flusterte Kalle Eva-Lotte zu. »Hast du je im Leben so eine Visage gesehen?«

»Das ist fein, da? die Schurken sich gegenseitig bewachen«, sagte Eva-Lotte. »Das ist genauso, wie das Sprichwort sagt: Wenn die Unschuld schlaft, halten Engel Wache!«
        Kalle befuhlte seine Armmuskeln. »Aber morgen, Eva-Lotte!
        Da gibt es Kampf auf Leben und Tod!«
        ZWOLFTES KAPITEL
        Der Tag versprach, ungewohnlich hei? zu werden. Die Levkojen auf dem Beet in Backers Garten lie?en schon am Morgen die Kopfe hangen. Nicht ein Luftchen bewegte sich, und sogar Tusse zog es vor, im Schatten auf der Veranda zu bleiben, wo Frida vollauf damit beschaftigt war, den Fruhstuckstisch zu dek-ken. Eva-Lotte kam, nur mit dem Nachthemd bekleidet, angelaufen, noch mit dem Muster des Kopfkissens auf der Wange.

»Wissen Sie, Frida, ob Onkel Einar schon wach ist?«
        Frida sah geheimnisvoll aus.

»Frag lieber, ob er geschlafen hat! Gerade das hat er eben nicht! Ich will dir was sagen, Eva-Lotte: Herr Lindeberg hat heute nacht gar nicht in seinem Bett gelegen.
        Eva-Lotte sperrte die Augen auf. »Wie meinen Sie das, Frida? Wie konnen Sie das denn wissen?«

»Ja, ich war drin und wollte ihm Rasierwasser bringen. Und da war das Zimmer leer, und das Bett war genauso, wie ich es gestern abend zurechtgemacht hatte, nachdem er fortgegangen war. Denn gegen Abend, da wurde er wieder gesund.«

»Ist er gestern abend ausgegangen? Als ich schon im Bett war?« Eva-Lotte wurde so eifrig, da? sie Fridas Arm ergriff.

»Ja, ja doch! Wahrscheinlich wegen des Briefes, den er bekommen hat. Himmel, ich hab’ ja Salz und Zucker vergessen!«

»Was fur ein Brief, Frida? Nein, gehen Sie nicht! Was war das fur ein Brief?« Eva-Lotte schuttelte Fridas Arm.

»Schrecklich, wie neugierig du bist, Eva-Lotte! Ich wei? nicht, was das fur ein Brief war, denn ich lese nicht andrer Leute Briefe. Aber vor der Gartentur standen zwei Manner, als ich gestern abend vom Milchholen kam. Und die haben mich gebeten, Herrn Lindeberg einen Brief zu geben, und das hab’ ich naturlich getan, und da war er auf einmal gesund. So war die Sache!«
        Eva-Lotte brauchte eine Minute, um sich anzuziehen, und ungefahr ebensoviel Zeit, um zu Kalle ruberzurennen. Anders war schon da.

»Was sollen wir anfangen? Onkel Einar ist verschwunden!
        Und wir haben ihn noch nicht verhaftet!«
        Die Nachricht schlug ein wie ein Blitz.

»Habe ich mir das nicht gleich gedacht?« sagte Anders wutend. »Das ist geradeso wie damals im Fruhjahr, als ich den Hecht am Haken hatte und er sich im letzten Augenblick los-ri?!«

»Ruhe! Besinnung!« mahnte Kalle - ja, das war eigentlich Meisterdetektiv Blomquist, der ein kleines Gastspiel gab. »Me-thodische Arbeit, das ist das einzig Vernunftige! Wir wollen erst mal eine Haussuchung bei Lindeberg - ich meine Onkel Einar -vornehmen!«
        Der Ordnung halber kontrollierte Kalle, ob keiner der Herren Krok und Redig auf dem Burgersteig Posten stand. Der Wachtdienst hatte offenbar aufgehort.

»Das Bett unberuhrt, der Reisekoffer noch hier«, summierte Kalle, nachdem sie sich in Onkel Einars Zimmer hineingeschli-chen hatten. »Es sieht so aus, als ob er die Absicht hat zuruckzukommen. Aber das kann naturlich auch eine Finte sein.«
        Anders und Eva-Lotte setzten sich auf die Bettkante und blickten duster vor sich hin.

»Nein, er kommt sicher niemals wieder«, sagte Eva-Lotte.

»Aber die Juwelen haben wir wenigstens gerettet.«
        Kalle schnuffelte mit Stielaugen im Zimmer herum. Der Papierkorb naturlich! Reine Routinearbeit! Da lagen ein paar leere Zigarettenschachteln, einige abgebrannte Streichholzer und eine alte Zeitung. Und dann ein ganzer Haufen kleine, kleine Papierstuckchen!
        Kalle stie? einen Pfiff aus. »Jetzt wollen wir Puzzle spielen«, sagte er. Er sammelte die kleinen Papierstuckchen und legte sie vor sich auf den Schreibtisch. Anders und Eva-Lotte ruckten interessiert naher.

»Glaubst du, da? das der Brief sein kann?« fragte Eva-Lotte.

»Das werden wir gleich sehen!« Kalle hantierte mit den Papierstuckchen - er bekam hier ein Wort und da ein Wort zusammen.
        Es war der Brief. Bald hatte er sein Puzzlespiel fertig. Drei Kopfe beugten sich eifrig daruber und lasen:

»Einar, alter Freund!
        Wir haben uns die Sache uberlegt, Tjomme und ich. Wir wollen teilen! Allerdings hast du dich wie ein Schwein benommen, und wenn wir nur ein bi?chen mehr Zeit hatten, dann wurden wir bestimmt das Ganze aus dir rausquetschen. Aber, wie gesagt, wir teilen! Das ist fur uns alle das beste, besonders fur dich. Ich hoffe, da? du das begreifst. Aber merke dir: keine Tricks! Versuchst du noch einmal, uns zu begaunern, dann bist du fertig mit diesem Erdenleben, darauf geb’ ich dir mein Wort! Reines Spiel diesmal! Wir warten auf dich vor der Gartentur. Beeil dich und bring den Kram mit, dann verschwinden wir sofort.
        Artur.«

»Aha, die Schurken haben sich wieder zusammengetan«, sagte Kalle. »Aber nach dem Kram konnen sie jetzt lange suchen!«

»Ich mochte wissen, wo sie jetzt sind«, sagte Anders. »Ob sie vielleicht schon aus der Stadt abgehauen sind? Ich kann mir denken, da? sie wutend sind wie Hornissen.«

»Und wie die sich den Kopf daruber zerbrechen werden, wer die Juwelen weggeholt hat!« Eva-Lotte sah ordentlich aufgelebt aus bei dem Gedanken.

»Ob wir uns zur Ruine raufschleichen und nachsehen, ob sie noch hier sind und suchen? Wenn ja, dann hetzen wir augenblicklich die Polizei auf sie«, sagte Anders. Doch jetzt fiel ihm etwas ein. »Aber wie konnen sie in den Keller kommen, wenn Onkel Einar seinen Dietrich nicht mehr hat?«

»Ach, solche Kerle wie Krok und Redig sind sicher von Kopf bis Fu? mit Dietrichen behangt, das kannst du dir doch denken«, sagte Kalle.
        Er sammelte sorgfaltig alle Papierstuckchen zusammen und legte sie in eine Zigarettenschachtel, die er in seine Tasche steckte. »Das ist ein Indizium - versteht ihr?« sagte er erklarend zu Anders und Eva-Lotte.
        Es war druckend hei? in der Sonne. Anders, Kalle und Eva-Lotte keuchten. Sie wagten nicht, die gewohnliche Treppe wie sonst zu benutzen, um zur Ruine hinaufzugehen, weil sie nicht riskieren wollten, die drei Juwelendiebe zu treffen.

»Das ware wirklich unangenehm«, sagte Kalle. »Sie konnten uns verdachtigen, und das ware das Schlimmste, was uns passieren konnte. Denn der Redig sieht nicht so aus, als ob er dulden wurde, da? jemand sich in seine Angelegenheit mischt.«

»Nee, ich glaube nicht, da? sie noch da sind«, sagte Anders.

»Ich glaube, die kriegten’s mit der Angst zu tun, als sie sahen, da? die Juwelen fort waren. Wenn Onkel Einar sie nicht auf eine falsche Spur gefuhrt hat!«
        Es war muhsam, den steilen Abhang hinaufzuklettern. Aber es war notwendig, wenn man nicht die Treppe benutzen wollte.
        Man mu?te klettern und kriechen und sich am Gebusch festhal-ten und sich gegen Steine stemmen. Und warm war es, schrecklich warm! Eva-Lotte begann hungrig zu werden. Sie hatte keine Zeit gehabt, etwas zu essen, bevor sie von zu Hause fortging, sie hatte nur ein paar Brotchen in ihre Kleidertasche gesteckt.
        Da lag die Ruine. Es war einer der Vorteile, wenn man nicht die Treppe benutzte, da? man oben hinter der Ruine ankam und sich vorwarts schleichen und vorsichtig um die Ecke sehen konnte, falls sich etwas Gefahrliches zeigte. Aber alles war ruhig. Die Hummeln summten wie immer, die Heckenrosen duf-teten wie immer, die Tur zum Keller war verschlossen wie immer.

»Was ich gesagt habe! Sie sind weg! Da? wir sie nicht gestern abend verhaftet haben, wird mich bis an mein Lebensende argern«, sagte Anders.

»Wir mussen in den Keller runtergehen und sehen, ob wir Spuren von ihnen finden«, sagte Kalle und holte den Dietrich hervor.

»Du gehst mit dem Dietrich um wie der schlimmste Einbrecher«, sagte Anders voller Bewunderung, als die Tur aufging.
        Alle drei drangten sich auf einmal die Treppe hinunter. Im selben Augenblick horte man einen gellenden Schrei, der die ganze Ruine erfullte. Wer schrie, das war Eva-Lotte. Und weshalb schrie sie? Da lag jemand auf dem Fu?boden. Onkel Einar lag dort. Seine Hande waren nach hinten gebunden und fest zu-sammengeschnurt. Seine Beine waren mit starken Stricken gefesselt. Und in den Mund war ein Taschentuch hineingepre?t.
        Der erste Impuls der Kinder war, die Flucht zu ergreifen.
        Onkel Einar war ja jetzt ihr Feind, das war ihnen klar. Aber ihr Feind war in seinem jetzigen Zustand vollstandig wehrlos. Er starrte sie mit blutunterlaufenen Augen an. Kalle ging hin und befreite ihn von dem Taschentuch.
        Onkel Einar stohnte. »Oh, diese Lumpen, was die mit mir gemacht haben! Himmel, meine Arme! Nehmt mir die Stricke ab!«
        Eva-Lotte wollte zu ihm hin. Aber Kalle hielt sie auf. »Einen Augenblick«, sagte er. Er sah au?erst verlegen aus. »Entschuldige, Onkel Einar, aber wir mussen wohl erst die Polizei holen.«
        Er fand, da? es etwas ganz Unerhortes war, da? er es wagte, so etwas zu einem Erwachsenen zu sagen.
        Onkel Einar fluchte einen langen Fluch. Dann stohnte er wieder. »Ach so, das seid ihr, denen ich das kleine Vergnugen hier zu verdanken habe! Das hatte ich mir denken konnen. Meisterdetektiv Blomquist!« Es war unangenehm, sein Stohnen mit anzuhoren. »Zum Teufel, steht nicht da und glotzt!« schrie er.

»Holt doch die Polizei, ihr Schnuffler! Aber ihr konnt mir wenigstens etwas Wasser geben!«
        Anders lief, so schnell ihn seine Beine trugen, hinauf zu dem alten Brunnen auf dem Burghof. Da gab es klares, frisches Wasser und eine gro?e eiserne Kelle, aus der man trinken konnte.
        Onkel Einar trank, als ob er niemals vorher in seinem Leben Wasser gesehen hatte, als Anders die Kelle an seinen Mund fuhrte. Aber dann fing er wieder an zu jammern.

»Oh, meine Arme!«
        Das war mehr, als Kalle aushalten konnte. »Wenn du bestimmt versprichst, da? du nicht versuchst, dich zu drucken, dann konnen wir vielleicht den Strick von deinen Armen losmachen.«

»Ich verspreche, was ihr wollt«, sagte Onkel Einar.

»Und im ubrigen hat es keinen Zweck, es zu versuchen, denn wenn einer von uns nach der Polizei geht, dann sind wir immer noch zwei, die Wache halten. Und deine Beine sind ja gebunden.«

»Dein Beobachtungsvermogen verdient alles Lob«, sagte Onkel Einar.
        Es gelang Anders, wenn auch mit etwas Muhe, den Strick aufzubinden, mit dem Onkel Einars Arme festgeschnurt waren.
        Als der Strick gelockert war, schienen die Schmerzen noch starker zu sein als vorher, denn Onkel Einar sa? eine ganze Weile da und wiegte seinen Oberkorper hin und her, indem er laut jammerte.

»Wie lange hast du hier so gelegen?« fragte Eva-Lotte, und ihre Stimme zitterte.

»Seit gestern abend, meine schone junge Dame«, sagte Onkel Einar. »Und das dank eurer Einmischung.«

»Ja, das ist unangenehm«, sagte Kalle. »Entschuldige, bitte, aber jetzt mussen wir die Polizei holen!«

»Konnten wir nicht uber die Sache reden?« fragte Onkel Einar. »Wie zum Teufel habt ihr es ubrigens fertiggebracht, die Sache hier herauszuschnuffeln? Ganz gleich, wie, aber es ist klar, da? ihr es seid, die die Juwelen genommen haben, und es ist vor allen Dingen das wichtigste, da? sie wieder zum Vorschein kommen. Herr Meisterdetektiv, konnten Sie nicht einen armen Sunder um unserer alten Freundschaft willen loslassen?«
        Die Kinder standen stumm da.
        Onkel Einar wandte sich an Eva-Lotte. »Du willst doch nicht, da? einer aus der Familie im Gefangnis landet?«

»Wenn man etwas verbrochen hat, dann mu? man auch seine Strafe haben«, sagte Eva-Lotte.

»Das einzige, was wir machen konnen, ist, die Polizei zu holen. Willst du gehen, Anders?«

»Ja«, sagte Anders.

»Verdammte Goren!« schrie Onkel Einar. »Hatte ich euch blo? die Halse umgedreht, solange noch Zeit war!«
        Anders nahm die Treppe in ein paar Sprungen. Und jetzt schnell durch die Tur! Aber da stand jemand im Wege. Zwei waren es, die da standen und den Tureingang versperrten. Der eine, der mit dem blassen Gesicht, hielt einen Revolver in der Hand.
        DREIZEHNTES KAPITEL

»Ich glaube, wir kommen mitten in eine Familienfestlichkeit rein!« Der Blasse lachte. »Der Kinderfreund Einar im Kreise seiner Lieben! Das ist so reizend, da? man es fotografieren und in die Zeitung setzen sollte. Mi?versteh mich nicht, lieber Einar, ich meine nicht unter Polizeinachrichten. Es gibt ja andere Veroffentlichungen!«
        Er machte eine Pause und betrachtete seinen Revolver.

»Wie schade, da? wir gestort haben«, fuhr er fort. »Wenn wir noch etwas gewartet hatten, so warst du bald durch deine kleinen Freunde befreit worden, und dann ware es dir vielleicht etwas leichter als gestern abend gefallen, den Kram zu finden.«

»Artur, hor mich an!« sagte Onkel Einar. »Ich schwore, da? …«

»Das hast du gestern abend genugend getan«, unterbrach ihn der Blasse. »Wenn du Lust bekommst, zu sagen, wo du das Zeug versteckt hast, dann kannst du den Mund aufmachen. Bis dahin - halt’s Maul. Und bis dahin wirst du wie eine Weinfla-sche liegend aufbewahrt. Ich hoffe, deine kleinen Freunde haben nichts dagegen, da? ich dir die Arme wieder festbinde? Und du bist wohl nicht allzu hungrig und durstig, alter Junge? Denn ich kann dir leider nichts anderes geben als dieses Taschentuch, an dem du bis auf weiteres kauen kannst. Bis du Vernunft angenommen hast!«

»Artur«, rief Onkel Einar ganz verzweifelt, »du mu?t mich anhoren! Wei?t du, wer es an sich genommen hat? Ja, diese Brut hier hat es!« Er zeigte auf die Kinder.
»Und sie waren gerade dabei, die Polizei zu holen, als ihr reinkamt. Himmel, ich hab’ niemals gedacht, da? ich mich mal freuen wurde, dich und Tjomme zu sehen! Aber gerade jetzt kommt ihr wie gerufen.«
        Es blieb eine Weile still. Das blasse Gesicht mit den unsteten Augen wandte sich den Kindern zu. Kalle bekam das Gefuhl einer bevorstehenden unerhorten Gefahr. Das war etwas anderes und viel Unheimlicheres als das damals, da er vor Onkel Einars Revolver stand.
        Der Unangenehme, der, der Tjomme genannt wurde, brach das Schweigen. »Vielleicht sagt er ausnahmsweise doch mal die Wahrheit, Artur!«

»Das ist moglich«, antwortete Artur »Das werden wir bald heraushaben.«

»La? mich mit den Balgern reden«, sagte Onkel Einar. »Ich werde schon aus ihnen rauspressen, was wir wissen wollen.«
        Anders, Kalle und Eva-Lotte wurden eine Spur blasser. Kalle hatte recht gehabt, das hier war etwas anderes als der Krieg der Rosen.

»Artur«, sagte Onkel Einar, »wenn du endlich eingesehen hast, da? ich nicht mehr versuche, euch hinters Licht zu fuhren, dann siehst du wohl auch ein, da? wir jetzt mehr als je zusam-menhalten mussen. Schneide das hier auf« - er zeigte auf den Strick um seine Beine -, »und la? uns die Sache in Ordnung bringen. Ich habe das Gefuhl, da? es hochste Zeit fur uns ist, von hier wegzukommen!«
        Artur ging ohne ein Wort zu ihm hin und schnitt den Strick durch. Onkel Einar erhob sich mit Muhe und rieb seine schmerzenden Glieder. »Das war die langste Nacht, die ich jemals erlebt habe«, sagte er.
        Sein Freund Artur lachte - ein boshaftes Lachen! -, und Tjomme lie? ein glucksendes Gelachter horen.
        Onkel Einar ging zu Kalle und fa?te ihn unters Kinn. »Wie war das, Herr Meisterdetektiv, wolltest du nicht die Polizei holen lassen?«
        Kalle antwortete nicht. Das Spiel war verloren, und er wu?te es.

»Ich will dir sagen, Artur«, fuhr Onkel Einar fort, »diese Kinder hier sind unglaublich verstandig. Es sollte mich sehr wundern, wenn sie nicht nett und bescheiden dem Onkel Einar erzahlen wurden, wo die Juwelen sind, deren Versteck sie tatsachlich herausgeschnuffelt haben.«

»Wir haben sie nicht hier, und wir sagen nicht, wo sie sind«, sagte Anders trotzig.

»Hort mich mal an, Kinderchen«, sagte Onkel Einar. »Diese beiden netten Onkels, die ihr hier seht, haben sich gestern abend geirrt. Sie haben geglaubt, da? ich wei?, wo die Juwelen sind, und nicht sagen wollte, wo ich sie versteckt habe. Und deshalb haben sie mir eine Nacht lang Zeit gegeben, daruber nachzudenken. Und, wie gesagt, das war die langste Nacht, die ich je in meinem Leben verbracht habe. In den Nachten ist es hier im Keller ganz dunkel, kohlschwarz und auch kalt. Und man schlaft so schlecht, wenn Arme und Beine festgebunden sind. Und dann wird man hungrig und durstig, das kann ich euch versichern. Sicher ist es angenehmer, zu Hause bei der Mutter zu schlafen, was, Eva-Lotte?«
        Eva-Lotte sah Onkel Einar an, und sie hatte genau den gleichen Ausdruck in ihren Augen wie damals, als er ihre geliebte Tusse gequalt hatte.

»Herr Meisterdetektiv«, fuhr Onkel Einar fort, »wie wurde es dir gefallen, eine Nacht - oder sagen wir: zwei Nachte hier in der Ruine zu verbringen? Oder vielleicht sogar all deine zukunf-tigen Nachte?«
        Kalle fuhlte einen kleinen, unheimlichen Schreck uber seinen Rucken kriechen.

»Wir haben es eilig«, unterbrach Artur Redig. »Diese ganze Geschichte hier ist schon allzusehr in die Lange gezogen worden. Hort zu, Kinder! Ich bin kinderlieb, das bin ich bestimmt; aber Kinderchen, die es sich in den Kopf gesetzt haben, gleich zur Polizei zu laufen, fur die habe ich nichts ubrig. Wir werden gezwungen sein, euch hier in den Keller einzuschlie?en. Aber es hangt von euch ab, ob ihr wieder lebendig hier rauskommt oder nicht. Entweder ruckt ihr mit den Juwelen raus, und dann braucht ihr hier nicht langer als eine oder vielleicht zwei Nachte zu bleiben. Sobald wir in Sicherheit sind, schreibt euer lieber Onkel Einar und berichtet, wo ihr seid.« Er machte eine Pause.

»Oder aber ihr wollt nicht sagen, wo ihr die Juwelen versteckt habt. Und da wurden mir eure lieben Mutter so leid tun, da? ich gar nicht wage, daran zu denken.«
        Anders und Kalle und Eva-Lotte wagten auch nicht, daran zu denken. Kalle sah die beiden anderen fragend an. Anders und Eva-Lotte nickten zustimmend. Da war nichts anderes zu machen. Sie mu?ten erzahlen, wo der Blechkasten war.

»Na, Herr Meisterdetektiv«, sagte Onkel Einar aufmunternd.

»Werden wir bestimmt herausgelassen, wenn wir es sagen?«
        fragte Kalle.

»Selbstverstandlich«, sagte Onkel Einar. »Verla?t du dich nicht auf Onkel Einar, mein Junge? Ihr braucht nur so lange zu bleiben, bis wir einen etwas gemutlicheren Ort als diese Stadt hier gefunden haben. Ich werde sogar Onkel Artur bitten, euch nicht festzubinden, und da konnt ihr es richtig nett hier haben.«

»Der Blechkasten steht in der wei?en Kommode auf dem Backereiboden«, sagte Kalle, und es sah aus, als ob es ihn eine unerhorte Anstrengung kostete, die Worte herauszukriegen.

»Da, wo der Zirkus Kalottan war.«

»Ausgezeichnet«, sagte Onkel Einar.

»Bist du sicher, da? du wei?t, wo das ist, Einar?« fragte Artur Redig.

»Absolut! Und da kannst du sehen, Artur, da? es am klugsten fur uns alle ist, zusammenzuhalten. Keiner von euch kann auf den Backereiboden gehen, ohne Mi?trauen zu erwecken, aber ich kann es!«

»All right!« sagte Artur. »Wir wollen jetzt gehen.« Er betrachtete die Kinder, die stumm nebeneinander dastanden. »Ich hoffe, ihr habt die Wahrheit gesagt! Ehrlich wahrt am langsten, meine jungen Freunde, das ist ein guter Wahlspruch hier im Leben. Habt ihr gelogen, dann kommen wir nach einer Weile wieder, und dann wird es unangenehm, sehr unangenehm!«

»Wir haben nicht gelogen«, sagte Kalle und blickte ihn wutend von der Seite an.
        Jetzt kam Onkel Einar zu ihm hin. Kalle weigerte sich, seine ausgestreckte Hand zu sehen.

»Lebwohl, Herr Meisterdetektiv«, sagte er. »Ich glaube, es ware am klugsten, die Kriminalistik in Zukunft an den Nagel zu hangen. Ubrigens: Kann ich meinen Dietrich wiederbekommen? Denn das warst doch du, der ihn mir weggenommen hat?«
        Kalle steckte die Hand in die Hosentasche und holte den Dietrich hervor. »Es gibt wohl allerlei, was du auch besser an den Nagel hangen solltest, Onkel Einar«, sagte er murrisch.
        Onkel Einar lachte. »Lebwohl, Anders, und danke fur die schone Zeit hier. Lebwohl, Eva-Lotte! Du bist ein liebes Kind, das habe ich immer gefunden. Gru? deine Mutter, falls ich keine Zeit mehr haben sollte, mich von ihr zu verabschieden.« Er ging mit seinen zwei Kumpanen die Treppe hinauf. An der Tur drehte er sich um und winkte. »Ich verspreche euch, da? ich bestimmt schreiben und berichten werde, wo ihr seid. Wenn ich es nur nicht vergesse!« Die schwere Tur schlug mit einem Krach zu.
        VIERZEHNTES KAPITEL

»Es ist meine Schuld«, sagte Kalle nach einem, wie es schien, endlosen Schweigen.
»Es ist absolut meine Schuld. Ich hatte euch nicht in diese Geschichte mit hineinziehen sollen. Und vielleicht auch nicht mich selbst.«

»Ach was, Schuld«, sagte Eva-Lotte. »Du konntest doch nicht ahnen, da? die Sache so laufen wurde.«
        Es wurde wieder still - unheimlich still. Es war, als ob die Au?enwelt nicht mehr existierte. Es gab nur diesen Keller hier mit der unerbittlich verschlossenen Tur.

»Es ist ein Jammer, da? Bjork gestern nicht da war«, sagte Anders schlie?lich.

»Sprich nicht davon«, sagte Kalle.
        Dann sagte eine Zeitlang niemand mehr etwas. Man dachte.
        Und alle dachten wohl ungefahr das gleiche. Alles war fehlge-schlagen. Die Juwelen waren verloren, die Diebe wurden ins Ausland entkommen.
        Aber in diesem Augenblick wog alles das leicht gegen die Tatsache, da? sie hier eingesperrt waren und nicht herauskommen konnten und da? sie nicht wu?ten, ob sie uberhaupt jemals wieder herauskommen wurden. Dieser furchtbare Gedanke war nicht zu Ende zu denken. Wenn nun Onkel Einar nichts daran gelegen war zu schreiben? Im ubrigen - wie lange braucht ein Brief vom Ausland? Und wie lange kann man ohne Essen und Trinken leben? Und war es nicht so, da? es fur diese Banditen am besten war, wenn die Kinder fur immer hier unten im Keller blieben? Es gab ja auch im Ausland Polizei, und wenn die Kinder erzahlten, wer die Diebe waren, konnten Onkel Einar und seine Kumpane sich nicht so sicher fuhlen, wie es der Fall ware, wenn Kalle und Anders und Eva-Lotte niemals Gelegenheit haben wurden, ihre Namen zu verraten.

»Ich werde schreiben, wenn ich es nur nicht vergesse« - das war das letzte, was Onkel Einar gesagt hatte, und das klang unheilverkundend.

»Ich habe drei Brotchen«, sagte Eva-Lotte und steckte die Hand in ihre Kleidertasche. Das war immerhin ein kleiner Trost.

»Dann werden wir bis zum Nachmittag nicht den Hungertod erleiden«, sagte Anders.
»Wir haben auch noch eine halbe Kelle Wasser ubrig.«
        Drei Brotchen und eine halbe Kelle Wasser! Und dann?

»Wir mussen um Hilfe schreien«, sagte Kalle. »Vielleicht kommt ein Tourist, um sich die Ruine anzusehen.«

»Ich erinnere mich, da? im vorigen Sommer zwei Touristen hier waren«, sagte Anders. »Warum sollte da nicht heute einer kommen?«
        Sie stellten sich an die kleine Luke, durch die ein Sonnenstrahl hereinfiel.

»Eins, zwei drei - jetzt!« kommandierte Anders.

»Hilfe - - H-i-l-f-e!«
        Die Stille hinterher war fuhlbarer als vorher.

»Nach Gripsholm und Alvastra und wer wei? wohin, da konnen sie fahren«, sagte Anders bitter. »Aber um die Ruine hier kummert sich kein Mensch.«
        Nein, kein Tourist horte ihren Notruf und auch sonst niemand. Die Minuten gingen und wurden zu Stunden.

»Wenn ich wenigstens zu Hause gesagt hatte, da? ich zur Ruine gehe«, sagte Eva-Lotte. »Dann waren sie wohl schlie?lich hergekommen, um uns zu suchen.«
        Sie verbarg ihr Gesicht in den Handen. Kalle schluckte ein paarmal und stand vom Fu?boden auf. Es war nicht auszuhalten, still dazusitzen und Eva-Lotte anzusehen. Die Tur - gab es keine Moglichkeit, sie kaputtzuschlagen? Man brauchte sie nur anzusehen, um festzustellen, wie zwecklos ein Versuch sein wurde.
        Kalle beugte sich hinunter, um etwas aufzuheben, was neben der Treppe lag. Es war Onkel Einars Taschenlampe. Die hatte er vergessen - was fur ein Gluck! Bald wurde es Nacht werden, dunkle, kalte Nacht - es war ein Trost, zu wissen, da? man die Dunkelheit fur ein paar Augenblicke vertreiben konnte, wenn man wollte. Eine Batterie reichte ja nicht ewig, aber man konnte wenigstens leuchten, um zu sehen, wie spat es schon war.
        Nicht, da? es irgendeine Bedeutung hatte, ob es drei oder vier oder funf war - bald wurde nichts mehr etwas bedeuten. Kalle fuhlte eine dumpfe Verzweiflung in sich aufsteigen. Er wanderte umher, »ein Raub dusterer Gedanken«, wie es immer in Buchern steht. Alles war besser, als dazusitzen und zu warten. Alles war besser. Es ware sogar besser, zu versuchen, die dunklen Irrgange zu erforschen, die in die inneren Regionen des Kellers fuhrten.

»Anders, du hast einmal gesagt, du wolltest den ganzen Keller durchforschen und kartographieren und wir konnten ihn zu unserem Hauptquartier machen. Warum nicht jetzt die Gelegenheit wahrnehmen?«

»Habe ich wirklich so was Dummes gesagt? Ich mu? wohl an dem Tag einen Sonnenstich gehabt haben. Wenn ich hier blo? rauskommen konnte, dann wei? ich einen, der niemals mehr seinen Fu? in die Nahe dieser alten Bruchruine setzt!«

»Ich mochte aber doch wissen, wo diese Gange hier hinfuhren«, sagte Kalle.
»Vielleicht ist es nicht ausgeschlossen, da? es noch einen anderen Ausgang gibt, den niemand kennt!«

»Ja, und es ist nicht ausgeschlossen, da? eine Versammlung von Archaologen heute nachmittag kommt und uns ausgrabt!
        Das ist genauso wahrscheinlich.«
        Eva-Lotte sprang auf. »Ja, aber wenn wir hier stillsitzen, dann werden wir bald verruckt«, sagte sie. »Ich finde, wir sollten tun, was Kalle sagt. Die Taschenlampe haben wir ja, mit der wir uns vorwarts leuchten konnen.«

»Meinetwegen gern«, sagte Anders. »Aber wollen wir nicht erst essen? Drei Brotchen sind in jedem Fall nur drei Brotchen, ganz gleich, wie wir es machen.«
        Eva-Lotte gab jedem ein Brotchen, und alle drei a?en schweigend. Es war ein eigentumliches und unheimliches Gefuhl, zu denken, da? es vielleicht das letzte Mal in ihrem Leben war, da? sie etwas a?en. Sie spulten die Brotchen mit dem Wasser hinunter, das noch in der Kelle war. Dann fa?ten sie einander an den Handen und traten den Weg ins Dunkel an. Kalle ging voran und leuchtete mit der Taschenlampe.
        Genau im selben Augenblick bremste ein Auto vor der Polizeiwache der kleinen Stadt. Zwei Manner sprangen heraus, zwei Polizisten. Sie gingen eilig hinein, wo sie von Schutzmann Bjork empfangen wurden. Er sah etwas erstaunt aus uber den unerwarteten Besuch. Die zwei Manner stellten sich vor: »Kriminal-kommissar Stenberg, Kriminalpolizist Santesson von der Stockholmer Kriminalpolizei.«
        Dann sagte der Kriminalkommissar schnell: »Kennen Sie hier in der Stadt einen Privatdetektiv mit Namen Blomquist?«

»Privatdetektiv Blomquist?« Schutzmann Bjork schuttelt den Kopf. »Habe ich nie gehort!«

»Das ist merkwurdig«, fuhr der Kriminalkommissar fort. »Er wohnt Hauptstra?e 14. Sehen Sie selbst!«
        Der Kriminalkommissar zog einen Brief hervor, den er Bjork reichte. Wenn Kalle dabeigewesen ware, hatte er den Brief wiedererkannt. »An die Kriminalpolizei Stockholm« stand zuoberst. Und die Unterschrift war ganz richtig »Karl Blomquist, Privatdetektiv«.
        Schutzmann Bjork fing an zu lachen. »Das kann niemand anderes sein als mein Freund Kalle Blomquist. Privatdetektiv, ja, ich danke! Er ist ungefahr zwolf oder dreizehn Jahre alt, der Privatdetektiv!«

»Aber Menschenskind, wie konnen Sie es erklaren, da? er uns einen Fingerabdruck schicken konnte, der genau mit dem ubereinstimmt, den wir nach dem Einbruch in der Banerstra?e Anfang Juni festgestellt haben? Der gro?e Juwelendiebstahl, Sie wissen doch! Und wem gehort dieser Fingerabdruck? Das ist das, was die Stockholmer Kriminalpolizei vor allen Dingen gerade jetzt wissen mochte. Das ist namlich der einzige Anhaltspunkt, den wir haben.
        Wir sind uns vollkommen daruber klar, da? es mehrere Personen gewesen sein mussen, die den schweren Geldschrank fortrucken konnten, aber nur einer hat Fingerabdrucke hinterlassen. Die anderen haben offenbar Handschuhe angehabt.«
        Schutzmann Bjork fing an nachzudenken. Er erinnerte sich an Kalles vorsichtige Fragen, als sie sich kurzlich auf dem Marktplatz getroffen hatten. »Was macht man, wenn man wei?, da? ein Mensch ein Verbrecher ist, es aber nicht beweisen kann?« Wie es nun auch zugegangen sein mochte, offenbar war Kalle Blomquist den Tatern des gro?en Juwelendiebstahls auf die Spur gekommen.

»Ich wei? keinen anderen Rat, als da? wir sofort hinfahren und Kalle selbst fragen«, sagte Schutzmann Bjork.

»Ja, und das schneller als schnell«, sagte der Kriminalkommissar.

»Hauptstra?e 14«, sagte der Kriminalpolizist und setzte sich ans Steuer. Das Polizeiauto sauste davon.
        Die Roten Rosen langweilten sich erbarmlich. Was war das aber auch fur eine Art von den Wei?en, sich zu ergeben und Frieden zu schlie?en, gerade als der Kampf so vielversprechend begonnen hatte? Was in aller Welt hatten sie eigentlich vor, da? sie freiwillig auf so ein Vergnugen verzichteten?

»Ich glaube, wir gehen zu ihnen hin und versuchen, sie ein bi?chen zu beleidigen«, sagte Sixtus. »Dann nehmen sie vielleicht Vernunft an.«
        Benka und Jonte fanden den Vorschlag gut.
        Aber das Hauptquartier der Wei?en lag verlassen da.

»Wo mogen sie blo? sein?« fragte Jonte.

»Wir warten auf sie«, sagte Sixtus. »Einmal werden sie ja wiederkommen.«
        Worauf sich die Roten auf dem Backereiboden bequem ein-richteten. Da waren eine ganze Menge alter Wochenzeitschriften, mit denen sich die Wei?en unterhielten, wenn schlechtes Wetter war. Auch allerlei Spiele waren da und der ausgezeichnete Tisch, auf dem man Ping-Pong spielen konnte. An Zer-streuungen fehlte es also nicht.

»Verdammt feines Hauptquartier«, sagte Benka.

»Ja«, sagte Sixtus, »ich wunschte, ich hatte in meiner Garage Platz fur einen Ping-Pong-Tisch.«
        Sie spielten Ping-Pong, und zwischen den einzelnen Runden rutschten sie am Seil runter und kletterten wieder rauf und lasen die Bilderserien in den Zeitschriften, und es machte ihnen gar nichts aus, da? die Wei?en durch Abwesenheit glanzten.
        Sixtus stand an der offenen Luke und hatte das Seil in der Hand. »Sieh mal an, da kommt ja der Kerl, der mit Eva-Lotte verwandt ist - wie hei?t er doch gleich? Onkel Einar! Gott, hat der es eilig!« dachte Sixtus.
        Jetzt sah Onkel Einar hinauf und erblickte Sixtus. »Suchst du Eva-Lotte?« fragte er einen Augenblick spater.

»Ja«, sagte Sixtus. »Wissen Sie, wo sie ist?«

»Nein«, sagte Onkel Einar, »das wei? ich nicht.«

»Ach so«, sagte Sixtus und rutschte am Seil runter.
        Onkel Einar sah zufrieden aus. Sixtus fing wieder an raufzuklettern.

»Willst du wieder da rauf?« fragte Onkel Einar.

»Ja«, sagte Sixtus und kletterte mit schnellen Griffen weiter.
        Er hatte eine 1-2 im Turnen, und das sah man.

»Was willst du da oben?« fragte Onkel Einar.

»Auf Eva-Lotte warten«, sagte Sixtus.
        Onkel Einar ging eine Weile auf und ab. »Wenn ich es mir richtig uberlege«, rief er zu Sixtus hinauf, »so fallt mir ein, da? Eva-Lotte und die Jungen heute einen Ausflug machen wollten.
        Sie werden wohl nicht vor dem Abend zuruckkommen.«

»Soso«, sagte Sixtus und rutschte am Seil herunter.
        Onkel Einar sah zufrieden aus. Sixtus ergriff das Seil und fing wieder an raufzuklettern.

»Hast du nicht gehort, was ich gesagt habe?« fragte Onkel Einar ungeduldig.
»Eva-Lotte kommt den ganzen Tag nicht nach Hause.«

»Soso«, sagte Sixtus. »Das ist schade«. Er kletterte weiter.

»Was willst du denn da oben machen?« rief Onkel Einar.

»Bilderserien ansehen«, sagte Sixtus.
        Onkel Einar sah nicht mehr eine Spur zufrieden aus. Er ging ungeduldig auf und ab.

»Du da oben«, rief er nach einer Weile. »Willst du eine Krone verdienen?«
        Sixtus steckte den Kopf aus der Luke. »Ja, naturlich. Wie denn?«

»Lauf ins Zigarrengeschaft und kauf mir eine Schachtel Lucky Strike!«

»Gern«, sagte Sixtus und rutschte am Seil herunter. Onkel Einar gab ihm einen Funfkronenschein.
        Sixtus nahm die Beine in die Hand und verschwand. Und jetzt sah Onkel Einar zufriedener aus als je zuvor.
        Da steckte Benka seinen Kopf durch die Luke, der prachtige kleine Benka mit dem blonden Lockenkopf und der lustigen Stupsnase. Niemand hatte Anla? gehabt, beim Anblick eines so netten Kerlchens zu fluchen. Aber Onkel Einar fluchte - einen langen Fluch!
        Nach einer Weile kam Sixtus zuruck. In der einen Hand hatte er eine gro?e Tute. Er gab Onkel Einar die Zigaretten und rief zu den Roten hinauf: »Seht blo?, ich habe bei Eva-Lottes Vater Schnecken fur die ganze Krone gekauft, und er ist ja nie geizig. Jetzt haben wir so viel zu essen, da? es den ganzen Tag reicht, da brauchen wir nicht nach Hause zu gehen.«
        Da fluchte Onkel Einar einen noch langeren Fluch still vor sich hin und ging mit langen Schritten davon.
        Und die Roten sahen Bilderserien an und spielten Ping-Pong und a?en Schnecken und rutschten das Seil runter und kletterten wieder rauf, und es machte ihnen gar nichts aus, da? die Wei?en durch Abwesenheit glanzten.

»Glaubt ihr, da? der Kerl da ganz richtig im Kopf ist?« fragte Sixtus, als Onkel Einar zum viertenmal vor der Backerei auftauchte. »Was lauft er hier rum wie ein angstliches Huhn? Kann er sich nicht eine nutzlichere Beschaftigung suchen?«
        Die Stunden vergingen. Und die Roten spielten Ping-Pong und besahen Bilder und rutschten das Seil runter und kletterten wieder rauf und a?en noch mehr Schnecken und machten sich nicht eine Spur daraus, da? die Wei?en durch Abwesenheit glanzten.
        Dunkel, Dunkel uberall! Hier und da findet ein Lichtstreifen den Weg durch eine Luke. Noch leuchtet die Taschenlampe, und das ist auch notig! Es ist schwer, vorwarts zu kommen. Mitunter liegen gro?e Steine da und versperren den Weg. Es ist feucht und glatt und kalt. Nicht auszudenken, da? man die Nacht hier verbringen soll! Viele Nachte!
        Anders und Kalle und Eva-Lotte haben sich gegenseitig an den Handen gefa?t. Kalle leuchtet an den Steinwanden entlang, wo die Feuchtigkeit hervorsickert.

»Die Armsten, die fruher mal hier eingesperrt waren!« sagt Eva-Lotte. »Viele Jahre vielleicht!«

»Aber die bekamen wenigstens was zu essen«,knurrt Anders.
        Ein kleines Brotchen halt nicht lange vor, und er ist schon wieder sehr hungrig. Um diese Zeit essen sie zu Hause Mittagbrot!

»Heute sollte es bei uns Fleischklopse geben«, seufzt Eva-Lotte.
        Kalle sagt nichts. Er ist wutend auf sich selbst, da? er sich jemals auf diese Detektivarbeit eingelassen hat. Sie hatten jetzt zu Hause auf dem Backereiboden sitzen konnen, sie hatten mit den Roten Krieg fuhren konnen, sie hatten radfahren und baden und Fleischklopse zu Mittag essen konnen und alles mogliche andere. Anstatt hier in Dunkel und Elend herumzulaufen.
        Und man kann nicht einmal wagen, daran zu denken, wie das enden soll!

»Das beste ist, wir gehen wieder zum Ausgangspunkt zuruck«, sagt Eva-Lotte. »Jetzt haben wir sicher alles gesehen, was zu sehen ist, und es ist uberall das gleiche, den ganzen Weg lang. Dunkel und unheimlich uberall.«

»Wir wollen blo? noch diesen Gang hier zu Ende gehen«, schlagt Anders vor. »Dann konnen wir wieder umkehren.«
        Eva-Lotte hatte unrecht. Es ist nicht uberall das gleiche. Dieser Gang hier endet mit einer Treppe. Und eine Treppe bedeutet eine Verbindung zwischen zwei Stockwerken. Es ist eine kleine, schmale Wendeltreppe, deren Steinstufen durch viele Fu?e abgenutzt sind.
        Anders und Kalle und Eva-Lotte stehen ganz still. Sie konnen ihren Augen nicht trauen. Kalle leuchtet mit der Taschenlampe.
        Dann rennt er die Treppe hinauf. Aber die Treppe ist oben zu-genagelt. Es soll niemand in den Keller hinunterkommen. Und offenbar auch nicht hinauf. Kalle wunscht, da? er mit dem Kopf durch das Holz konnte, so da? die Splitter herumflogen.

»Wir mussen raus! Wir mussen raus, sage ich!« Anders ist vollkommen wild. »Ich halte es nicht eine Minute langer aus!«
        Er hebt einen gro?en Stein auf. Kalle hilft ihm.

»Eins, zwei, drei - jetzt!« kommandiert Anders. Das Holz kracht. Noch einmal! »Du wirst sehen, es geht, Kalle!« Anders keucht formlich vor Aufregung.
        Ein Gluck, da? das Holz nicht so dick ist. Ein letztes Mal mit voller Kraft! Peng - die Holzsplitter fliegen nach allen Seiten.
        Es macht keine Muhe, das Zeug wegzuraumen. Anders reckt den Kopf hoch und sto?t ein Freudengeheul aus. Die Treppe fuhrt zum Erdgescho? der Ruine.

»Kalle und Eva-Lotte, kommt!« ruft er.
        Aber Kalle und Eva-Lotte sind bereits gekommen. Sie stehen da und starren zum Licht, zur Sonne hinauf, als ob es ein gro?es Wunder ware.
        Eva-Lotte rennt zur Fensteroffnung. Da unten liegt die stille Stadt. Sie kann den Flu? sehen und den Wasserturm und die Kirche. Und dort, weit weg, sieht sie das rote Dach der Backerei. Da lehnt sie sich gegen die steinerne Wand und bricht in lautes Weinen aus.

»Madels sind schon komisch«, denken Anders und Kalle.
        Vorhin, im Keller unten, da hat sie nicht geweint, aber jetzt, da alle Gefahr voruber ist, da lauft ihr das Wasser raus wie ein Springbrunnen.
        Ungefahr um diese Zeit haben die Roten alle Bilderserien durchgesehen, und sie haben keine Lust mehr, Ping-Pong zu spielen. Im ubrigen soll bald ein Fu?ballmatch auf der Prarie stattfinden.

»Nee, jetzt warten wir nicht langer«, sagt Sixtus. »Ich glaube, sie sind nach Amerika ausgewandert. Kommt, wir hauen ab!«
        Sie rutschen am Seil runter, Sixtus und Benka und Jonte, und marschieren auf Eva-Lottes Steg uber den Flu?. Und nun bekommt Onkel Einar endlich die Gelegenheit, auf die er schon so viele Stunden gewartet hat.
        Ein schwarzer Ford parkt einige hundert Meter weiter auf der Stra?e. Zwei Manner sitzen darin, zwei ungeduldige und nervose Manner. Sie haben so lange hier in der Hitze gesessen.
        Die Stunden haben sich hingeschlichen, und in gleichma?igen Zwischenraumen war ihr alter Freund Einar mit dem Bericht gekommen: »Die Brut ist immer noch da! Ja, was soll ich machen? Ich kann ihnen doch nicht gut die Halse umdrehen, so gern ich auch mochte!«
        Aber jetzt endlich kommt Einar, beinahe im Laufschritt. Er tragt etwas unter dem Jackett. »Alles klar«, flustert er und springt rein.
        Tjomme druckt den Gashebel ganz runter, und der Ford braust mit hochster Geschwindigkeit davon. Die drei im Auto haben keinen anderen Gedanken, als so schnell wie moglich die kleine Stadt hinter sich zu lassen. Sie sehen nur vorwarts, sie sehen nur den Weg, der sie zu Reichtum und Freiheit und Unabhangigkeit fuhren soll. Wenn sie einen Blick zur Seite geworfen hatten, dann wurden sie vielleicht drei Kinder gesehen haben, Anders und Kalle und Eva-Lotte, die gerade um die Stra?enecke bogen und mit Erstaunen und Entsetzen ihren verschwindenden Feinden nachstarrten.
        FUNFZEHNTES KAPITEL

»Du Ungluckskind, wo bis du gewesen?« fragte Lebensmittelhandler Blomquist. »Und was hast du gemacht? Hast du schon wieder Fensterscheiben kaputtgeschlagen?«
        Zum hundertsten Male war der Lebensmittelhandler vor die Tur gegangen und hatte nach seinem Spro?ling ausgespaht.
        Und jetzt endlich sah er ihn an der Stra?enecke, zusammen mit Anders und Eva-Lotte, und ging ihm entgegen.

»Vater, la? mich los! Ich mu? sofort zur Polizei!«

»Das wei? ich«, sagte sein Vater. »Die Polizei sitzt bei uns zu Hause und wartet auf dich. Das wird kein Spa? fur dich werden, Kalle!«
        Kalle konnte nicht verstehen, warum die Polizei auf ihn wartete. Aber es genugte ihm, da? sie wartete. Und er lief, wie er niemals vorher in seinem jungen Leben gelaufen war. Anders und Eva-Lotte folgten. Da sa? Schutzmann Bjork auf dem grunen Schaukelbrett. Gott segne ihn! Und neben ihm zwei andere Polizisten.

»Verhaftet sie, verhaftet sie!« schrie Kalle. »Beeilt euch!«
        Bjork und die beiden andern sprangen auf. »Wo? Wen?«

»Die Juwelendiebe!« Kalle war so aufgeregt, da? er kaum die Worte herausbringen konnte. »Sie sind eben im Auto wegge-fahren! Um Himmels willen, beeilt euch!«
        Er brauchte es nicht zweimal zu sagen. Lebensmittelhandler Blomquist kam gerade die Stra?e entlanggetrabt, rechtzeitig genug, um Kalle und seine beiden Kameraden in das Polizeiauto hineinsturzen zu sehen, mit drei Polizisten auf den Fersen. Herr Blomquist fa?te sich an den Kopf. Der Sohn in so jungen Jahren verhaftet, das war ja schrecklich! Der einzige Trost war, da? das Madchen vom Backer offenbar nicht eine Spur besser war! Und der Schuhmacherjunge auch nicht.
        Das Polizeiauto sauste mit einer Fahrt nordwarts, die die ge-setzestreuen Burger der kleinen Stadt entrustet die Kopfe schutteln lie?. Kalle, Anders und Eva-Lotte sa?en im Rucksitz mit Kommissar Stenberg. Sie wurde zur Seite gedruckt, je nachdem wie das Auto die Kurve nahm. Eva-Lotte sa? da und fragte sich, wieviel man an einem einzigen Tag aushalten konnte, ohne da? man ohnmachtig wurde. Kalle und Anders sprachen beide zu gleicher Zeit, bis der Kommissar sagte, da? er nur einen auf einmal horen wollte. Kalle gestikulierte wild und rief mit gellender Stimme:
»Einer ist bla?, und einer sieht unheimlich aus, und einer ist Onkel Einar, aber der Blasse ist eigentlich unheimlicher als der Unheimliche, und Onkel Einar ist auch unheimlich.«
        Der Kommissar sah etwas verwirrt aus.

»Der Blasse nennt sich Ivar Redig, aber er hei?t sicher Artur, und den Ha?lichen nennen sie Tjomme, aber vielleicht hei?t er Krok, und Onkel Einar hat zwei Namen, Lindeberg und Brane, und er schlaft mit einem Revolver unter dem Kopfkissen, und er hat die Juwelen unter der Treppe in der Schlo?ruine vergraben, und als ich einen Fingerabdruck von ihm genommen hatte, da fiel der Blumentopf runter - Pech, was? -, und da hat er mit dem Revolver auf mich gezielt, und dann sa? ich im Ahornbaum und hab’
        gehort, wie Tjomme und Redig ihn mit dem Tode bedrohten, und dann haben sie ihn im Keller in der Schlo?ruine gefesselt, denn er war so dumm, mit ihnen hinzugehen, aber da waren die Juwelen schon weg, denn wir haben sie auf dem Backereiboden versteckt, aber jetzt haben sie sie leider wiedergenommen, denn sie haben uns im Keller eingeschlossen, und Himmel, so viele Gange wie da sind, aber raus sind wir gekommen, ja, jetzt wissen Sie alles, aber fahrt um Himmels willen schneller!«
        Der Kommissar sah nicht so aus, als ob er alles wu?te, aber er dachte, da? man wohl spater Einzelheiten klarstellen konnte.
        Der Kriminalpolizist sah auf den Geschwindigkeitsmesser.
        Der war jetzt auf hundert Kilometer, und er wagte nicht, noch schneller zu fahren, obwohl Kalle meinte, da? es zu langsam ginge.

»Eine Wegscheide, Kommissar, nach rechts oder links?« Er bremste das Auto, da? es schleifte. Anders und Kalle und Eva-Lotte bissen sich in den Daumen vor Nervositat uber die Verzogerung.

»Argerlich«, sagte der Kommissar. »Schutzmann Bjork, Sie kennen doch die Wege hier. Welchen, glauben Sie, konnen sie genommen haben?«

»Das kann man unmoglich sagen«, antwortete Bjork. »Sie konnen zum gro?en Kontinentalweg hinkommen, ganz gleich, welchen Weg sie nehmen.«

»Einen Augenblick«, sagte Kalle und stieg aus dem Auto. Er nahm sein Notizbuch aus der Hosentasche und ging zum linken Weg. Er besah aufmerksam die Erde. »Sie sind diesen Weg hier gefahren!« schrie er voller Eifer.
        Bjork und der Kommissar waren auch ausgestiegen.

»Woher wei?t du das?« fragte der Kommissar.

»Ja, ihr Auto hat einen neuen Reifen aus Gislaved auf dem rechten Hinterrad, und ich hab’ hier das Muster abgezeichnet.
        Sehen Sie her!« Er zeigte auf einen deutlichen Abdruck in dem losen Fahrweg.
»Genau das gleiche!«

»Du bist sehr pfiffig«, sagte der Kommissar, wahrend sie zum Auto zuruckrannten.

»Ach, das ist reine Routinearbeit«, sagte Meisterdetektiv Blomquist. Aber dann fiel ihm ein, da? er viel lieber nur Kalle sein wollte. »Ach, das war mir geradeso eingefallen«, fugte er ganz bescheiden hinzu.
        Die Fahrt war jetzt beinahe lebensgefahrlich. Niemand sagte etwas. Aller Augen starrten durch die Windschutzscheibe. Sie rutschten um eine Kurve.

»Da!« rief Schutzmann Bjork. Hundert Meter vor ihnen sah man ein Auto.

»Das ist es«, sagte Kalle. »Ein A-Auto! Schwarzer Ford!«
        Der Kriminalpolizist Santesson tat sein Au?erstes, um die Fahrgeschwindigkeit noch hoher hinaufzupressen. Aber der schwarze Ford jagte vorwarts und behielt seinen Vorsprung.
        Man sah ein Gesicht durch die hintere Fensterscheibe heraussehen. Sie hatten offenbar begriffen, da? ihnen Verfolger auf den Fersen waren.

»Es dauert sicher nur noch ein paar Minuten, bis ich ohnmachtig werde«, dachte Eva-Lotte. »Ich war noch nie ohnmachtig.«
        Hundertzehn Kilometer! Jetzt kam das Polizeiauto langsam, aber sicher dem schwarzen Ford naher.

»Legt euch hin, Kinder!« schrie der Kommissar plotzlich.

»Sie schie?en!« Er druckte die drei Kinder auf den Boden des Autos nieder. Es war hochste Zeit. Eine Kugel kam pfeifend durch die Windschutzscheibe.

»Bjork, Sie sitzen besser, nehmen Sie meinen Revolver und geben Sie den Schweinehunden Antwort.« Der Kommissar reichte seinen Revolver dem Kollegen auf dem Vordersitz.

»Die schie?en, pfui Teufel, wie die schie?en«, flusterte Kalle unten auf dem Fu?boden.
        Schutzmann Bjork streckte den Arm aus dem Seitenfenster hinaus. Er war nicht nur ein guter Turner, er war auch ein guter Schutze. Er zielte sorgfaltig auf den rechten Hinterreifen des Fords. Der hatte jetzt nicht mehr als funfundzwanzig Meter Abstand. Der Schu? ging ab, und eine Sekunde spater schleifte der schwarze Ford und fuhr in den Graben. Das Polizeiauto fuhr hin und hielt daneben an.

»Jetzt schnell, bevor sie aus der Karre raus konnen!« schrie der Kommissar »Ihr bleibt liegen, Kinder!«
        Im Augenblick hatten die Polizeileute den Ford umringt.
        Nichts in dieser Welt hatte Kalle dazu kriegen konnen, lie-genzubleiben. Er mu?te aufstehen und zusehen.

»Onkel Bjork und der, der am Steuer sa?, halten ihre Revolver in hochster Bereitschaft«, rapportierte er an Anders und Eva-Lotte. »Und der dicke Kommissar rei?t die Autotur auf Junge, wie die losschlagen! Jetzt kommt Redig, er hat auch seinen Revolver - pang - jetzt bekommt er einen Schlag von Onkel Bjork, so da? er den Revolver verliert, hort blo? - ach, ist das fein - und da ist Onkel Einar, aber er hat keinen Revolver, er haut blo? um sich, aber jetzt, wahrhaftig, jetzt legen sie dem Kerl Handschellen an und auch dem Redig. Aber wo ist Tjomme? Jetzt ziehen sie ihn raus. Er ist sicher ohnmachtig geworden. Ach, ist das spannend! Und jetzt, wahrhaftig …«

»Hor auf«, sagte Anders. »Wir haben wohl Augen im Kopf, wir konnen selbst sehen!«
        Der Kampf war zu Ende. Da standen Onkel Einar und der Blasse vor dem Kommissar. Tjomme lag daneben auf der Erde.
        Er fing wohl langsam an, wieder zu sich zu kommen.

»Was sehe ich!« sagte der Kommissar. »Ist das nicht Artur Berg? Das ist wirklich eine freudige Uberraschung!«

»Die Freude ist ganz und gar auf Ihrer Seite«, sagte der Blasse mit einem bosen Blick.

»Das kann man wohl sagen«, meinte der Kommissar. »Was sagst du dazu, Santesson, wir haben Artur Berg in der Zange!«

»Man mu? ein gutes Gedachtnis haben, wenn man alle Namen behalten will«, dachte Kalle.

»Kalle, komm mal her!« rief der Kommissar. »Es wird dich vielleicht freuen zu horen, da? es uns gelungen ist, einen der gefahrlichsten Verbrecher zu fangen, die wir hier im Lande haben, und das haben wir dir zu verdanken!«
        Sogar Artur Berg zog die Augenbrauen etwas hoch, als er Kalle und Anders und Eva-Lotte erblickte.

»Ich hatte meinem ersten Gedanken folgen und die Bande da niederschie?en sollen«, sagte er ruhig. »Es lohnt sich nicht, Menschenfreund zu sein. Das bringt einen blo? ins Elend.«
        Tjomme schlug die Augen auf.

»Und hier haben wir noch einen alten Bekannten und treuen Polizeikunden! Wie war das, Tjomme, haben Sie nicht gesagt, da? Sie ein anstandiger Kerl werden wollten, als wir uns das letzte Mal trafen?«

»Ja«, sagte Tjomme, »aber ich wollte mir erst ein bi?chen Startkapital verschaffen. Es kostet Geld, Herr Kommissar, wenn man anstandig sein will.«

»Und Sie?« Der Kommissar wandte sich an Onkel Einar.

»Ist es das erste Mal, da? Sie sich auf solche Wege begeben haben?«
        Onkel Einar schlug den Blick nieder. »Ja«, sagte er. Dann sah er Kalle wutend an.
»Ich bin jedenfalls bis jetzt noch nicht rein-geschlittert! Und es ware auch diesmal gutgegangen, wenn nicht der Meisterdetektiv hier ware! Meisterdetektiv Blomquist!« Er pre?te etwas hervor, was wohl ein Lacheln darstellen sollte.

»Und jetzt wollen wir sehen, wo wir das Diebesgut haben, Santesson! Ich vermute, es liegt im Auto.«
        Ja, da war der Blechkasten!

»Wer hat den Schlussel?« fragte der Kommissar. Onkel Einar reichte ihn widerstrebend hin. Alle standen in gespannter Erwartung da. »Jetzt wollen wir mal sehen«, sagte der Kommissar und drehte den Schlussel um. Der Deckel schlug auf.
        Zuoberst lag ein Stuck Papier. »Die heimliche Urkunde der Wei?en Rose« stand mit gro?en Buchstaben da. Der Kommissar sperrte den Mund auf vor Erstaunen. Das taten die anderen auch, nicht zum mindesten Onkel Einar und seine beiden Kumpane. Artur Berg warf Onkel Einar einen ha?erfullten Blick zu.
        Der Kommissar wuhlte in dem Kasten. Aber da lag nichts anderes als Papier, Steine und allerlei anderer Kram.
        Eva-Lotte war es, die zuerst anfing zu lachen, ein lautes, ubermutiges Lachen. Das war das Signal fur Kalle und Anders. Sie brachen in Gelachter aus, sie lachten, ja, sie lachten derartig, da? sie sich bogen, alle drei. Sie lachten, bis sie beinahe heulten und sich den Bauch halten mu?ten.

»Was ist denn nur mit den Kindern los?« fragte der Kommissar verwirrt. Dann wandte er sich an Artur Berg: »Ach so, ihr habt bereits das Diebesgut beiseite schaffen konnen! Aber das werden wir schon aus euch rauspressen!«

»Das - das - das braucht nicht rausgepre?t zu werden«, brachte Anders muhsam hervor, wahrend er vor Lachen schluckte. »Ich wei?, wo es ist. Es ist im untersten Kommodenschubfach auf dem Backereiboden.«

»Aber wo haben sie das hier her?« fragte der Kommissar und zeigte auf den Blechkasten.

»Aus dem obersten Schubfach!«
        Eva-Lotte hatte plotzlich aufgehort zu lachen. Sie war am Grabenrand zusammengesunken.

»Ich glaube wahrhaftig, das Madel ist ohnmachtig geworden«, sagte Schutzmann Bjork und hob Eva-Lotte auf. »Das ist auch kein Wunder.«
        Da schlug Eva-Lotte muhsam ihre blauen Augen auf. »Nein, das ist kein Wunder«, flusterte sie. »Ich habe heute noch nichts weiter gegessen als ein Brotchen.«
        SECHZEHNTES KAPITEL
        Meisterdetektiv Blomquist lag auf dem Rucken unter dem Birnbaum. Ja, er war jetzt Meisterdetektiv und nicht nur Kalle. Das stand sogar in der Zeitung, die er in der Hand hatte. »Meister-detektiv Blomquist« stand da als Uberschrift, und darunter war seine Fotografie. Die Fotografie stellte ganz gewi? nicht den reifen Mann mit den scharf geschnittenen Zugen und dem durchdringenden Blick dar, wie man es hatte erwarten konnen.
        Das Gesicht, das einem aus der Zeitung entgegenblickte, war auffallend Kalle-artig, aber da war nichts zu machen. Eva-Lottes und Anders’ Fotografien waren auch dabei, wenn auch etwas weiter unten.

»Haben Sie bemerkt, junger Mann«, fragte Herr Blomquist seinen eingebildeten Zuhorer, »da? die ganze erste Seite nur von diesem kleinen Fall mit den gestohlenen Juwelen handelt, den aufzuklaren mir kurzlich gelungen ist, als ich gerade etwas Zeit ubrig hatte?«
        O ja, das hatte sein eingebildeter Zuhorer wohl bemerkt, und er konnte seiner Bewunderung nicht genug Ausdruck geben.

»Da hat es wohl eine ordentliche Belohnung fur Sie gegeben, Herr Blomquist?« vermutete er.

»Tja«, sagte Herr Blomquist, »naturlich bekam ich eine schreckliche Masse Moneten - hm, ich meine, selbstverstandlich bekam ich eine nicht unbetrachtliche Summe Geld, aber das habe ich mit Fraulein Lisander und Herrn Bengtsson geteilt, die mir bei den Forschungsarbeiten keine geringe Hilfe geleistet haben. Um die Wahrheit zu sagen: Wir konnten uns zehntausend Kronen teilen, die Bankier Ostberg uns als Belohnung zur Verfugung gestellt hat.«
        Sein eingebildeter Zuhorer schlug vor Erstaunen die Hande zusammen.

»Na ja«, sagte Herr Blomquist und zupfte mit uberlegener Miene an einem Grashalm,
»immerhin, zehntausend Kronen sind auch Geld. Aber ich will Ihnen sagen, junger Mann, ich arbeite nicht des schnoden Goldes wegen. Ich habe ein einziges Ziel: die Bekampfung des Verbrechens in unserer Gesellschaft.
        Hercule Poirot, Lord Wimsey und der Unterzeichnete, ja, wir bleiben weiterhin auf dem Posten und haben nicht die Absicht, es zuzulassen, da? die Kriminalitat die Oberhand gewinnt.«
        Der eingebildete Zuhorer betonte ganz richtig, da? die Gesellschaft den Herren Poirot, Wimsey und Blomquist fur ihre aufopfernde Arbeit im Dienste des Guten zu gro?em Dank verpflichtet sei.

»Bevor wir uns trennen, junger Mann«, sagte der Meisterdetektiv und nahm die Pfeife aus dem Mund, »eins will ich Ihnen sagen: Verbrechen lohnt sich nicht! Ehrlich wahrt am langsten, das hat sogar Artur Berg einmal zu mir gesagt. Und ich hoffe, er sieht es jetzt ein, wo er nun sitzt. In jedem Fall hat er viele Jahre Zeit, daruber nachzudenken. Und dann - Onkel Einar! - hm, Einar Lindeberg, ein so junger Mann schon auf der Bahn des Verbrechens! Moge seine Strafe ihm zur Besserung gereichen!
        Denn - wie ich schon sagte - Verbrechen lohnt sich nicht!«

»Kalle!!!« Eva-Lotte steckte den Kopf durch die Zaunoffnung.

»Kalle, warum liegst du hier und starrst in die Luft? Komm ruber! Anders und ich wollen in die Stadt.«

»Leben Sie wohl, junger Mann«, sagte Meisterdetektiv Blomquist. »Fraulein Lisander hat mich gerufen, und - nebenbei gesagt - sie ist die junge Dame, mit der ich die Ehe einzugehen beabsichtige.« Sein eingebildeter Zuhorer begluckwunschte Fraulein Lisander zur Wahl ihres Gatten. »Ja, Fraulein Lisander wei? naturlich noch nichts davon«, sagte der Meisterdetektiv wahrheitsgema? und hupfte auf einem Bein zum Zaun hin, wo das besagte Fraulein mitsamt Herrn Bengtsson auf ihn wartete.
        Es war Samstag abend. Alles atmete tiefsten Frieden, als Kalle, Anders und Eva-Lotte die Hauptstra?e entlanggeschlendert kamen. Die Kastanien hatten schon langst zu bluhen aufgehort, aber in den kleinen Garten prunkten Rosen und Levkojen und Lowenmaul. Sie gingen zur Gerberei hinunter. Friedrich mit dem Fu? war bereits betrunken und stand da und wartete auf Schutzmann Bjork. Kalle, Anders und Eva-Lotte blieben eine Weile stehen, um Friedrichs Geschichten aus seinem Leben mit anzuhoren. Aber dann gingen sie weiter zur Prarie hinaus.

»Seht mal, da sind Sixtus und Benka und Jonte«, sagte Anders plotzlich, und seine Augen fingen an zu blitzen. Kalle und Eva-Lotte gingen dichter zu ihrem Chef hin. Und die Wei?en marschierten direkt auf die Roten zu.
        Nun trafen sie sich. Nach dem Friedensvertrag hatte der Chef der Wei?en sich jetzt dreimal vor den Roten verbeugen sollen und sagen: »Ich wei?, da? ich nicht wurdig bin, den gleichen Boden zu betreten wie du, o Herr!« Der rote Chef sah den wei?en auch besonders herausfordernd an. Da offnete der wei?e Chef seinen Mund, er sprach und sagte: »Rotzbengel!«
        Der rote Chef sah zufrieden aus. Er ging jedoch entrustet einen Schritt ruckwarts.
»Das bedeutet Kampf!« sagte er.

»Ja«, sagte der wei?e Chef und schlug sich dramatisch an die Brust. »Jetzt herrscht Kampf zwischen der Wei?en und der Roten Rose!«
        BAND ZWEI. 
        KALLE BLOMQUIST LEBT GEFAHRLICH
        ERSTES KAPITEL

»Du kannst nicht normal sein«, sagte Anders. »Du kannst einfach nicht normal sein. Liegst da herum und traumst!«
        Er, der nicht normal sein sollte, sprang hastig aus dem Grase auf und blinzelte unter einem flachsgelben Haarschopf gekrankt auf die beiden am Zaun.

»Lieber, kleiner, su?er Kalle«, sagte Eva-Lotte, »du wirst ein Liegegeschwur bekommen, wenn du nicht endlich damit aufhorst, unter dem Birnbaum zu liegen und zu glotzen - jeden Tag, den ganzen Sommer lang.«

»Ich liege aber nicht den ganzen Tag und glotze«, wider-sprach Kalle verargert.

»Nein, Eva-Lotte, ubertreibe nun mal nicht«, meinte Anders.

»Besinnst du dich nicht auf den Sonntag Anfang Juni - da lag Kalle nicht ein einziges Mal unter dem Birnbaum. Er war den ganzen Tag lang nicht Detektiv. Diebe und Morder waren un-bewacht und konnten tun, was sie wollten.«

»Ach ja, jetzt erinnere ich mich«, sagte Eva-Lotte. »Die Diebe und Morder hatten ja tatsachlich Anfang Juni einen ungestorten Sonntag.«

»Haut ab!« brummte Kalle.

»Genau das wollten wir«, gab Anders zu. »Aber wir wollten dich mithaben. Naturlich nur, wenn du glaubst, da? die Morder eine Stunde ohne Aufsicht auskommen.«

»Oh, das konnen sie sicher nicht«, stichelte Eva-Lotte. »Die mussen gewartet werden wie Sauglinge.«
        Kalle seufzte. Es war hoffnungslos, absolut hoffnungslos.
        Meisterdetektiv Blomquist - das war er. Und er verlangte Achtung vor seiner Tatigkeit. Aber bekam er, was er verlangte? Bestimmt nicht von Anders und Eva-Lotte. Dabei hatte er doch nachweislich im vorigen Sommer drei Juwelendiebe festgesetzt
        - er ganz allein! Gewi?, Anders und Eva-Lotte hatten ihm nachher dabei geholfen, aber es war doch er, Karl Blomquist, gewesen, der durch Scharfsinn und Beobachtungsgabe den Schurken auf die Spur gekommen war. Damals hatten Anders und Eva-Lotte begriffen, da? er wirklich ein Detektiv war, der seinen Beruf verstand; aber nun neckten sie ihn wieder, als ware das alles nie gewesen. Als gabe es uberhaupt keine Verbrecher auf der Welt, die beobachtet werden mu?ten. Als ware er ein uberspannter Narr, der den Kopf voll Einbildungen hatte.

»Im vorigen Sommer wart ihr ziemlich stolz«, sagte er und spuckte verdrie?lich ins Gras. »Damals, als wir die Juwelendiebe festsetzten, gab es niemand, der sich uber Meisterdetektiv Blomquist beklagte.«

»Es gibt auch jetzt niemand, der sich uber dich beklagt«, meinte Anders. »Aber du begreifst doch wohl, da? das Dinge waren, die einmal passieren und nie wieder. Seit dem Jahre 1200 liegt diese Stadt nun hier, und bis heute hat es, soviel ich wei?, keine anderen Verbrecher gegeben als gerade deine Juwelendiebe. Das ist nun ein Jahr her. Du aber liegst noch immer unter dem Birnbaum und walzt Kriminalprobleme. Gib es auf, Kalle, gib es auf. Glaub mir, fur die nachste Zeit kommen keine Schurken mehr zum Vorschein, und wenn du sie auch mit der Lupe suchst.«

»Alles hat seine Zeit, das wei?t du doch«, sagte Eva-Lotte.

»Strolche jagen hat seine Zeit, und Fleischklo?e machen hat seine Zeit.«

»Ja, eben«, sagte Anders. »Und jetzt hat die Rote Rose wieder den Krieg erklart. Benka kam vor einer Weile mit ihrer Kriegserklarung. Lies selbst!« Er zog ein gro?es Plakat aus der Tasche und gab es Kalle. Und Kalle las:

»Krieg! Krieg!
        An den wahnsinnigen Chef der verbrecherischen Sippschaft, die sich ›Die Wei?e Rose‹ nennt.
        Hiermit tun wir kund und zu wissen, da? es in ganz Schweden keinen Bauern gibt, der ein Schwein hat, das auch nur andeutungsweise so dumm ist wie der Chef der Wei?en Rose.
        Das erwies sich, als dieser Abschaum der Menschheit gestern auf dem Gro?en Markt dem hochherzigen und allgemein ge-achteten Chef der Roten Rose entgegentrat. Fiel es da doch besagtem Abschaum ein, nicht zur Seite zu gehen, sondern erfrechte er sich in seiner greulichen Dummheit nicht noch, unsern edlen, hochberuhmten Chef zu puffen und dabei in widerliche Schmahungen auszubrechen! Dieser Schimpf, diese Schmach kann nur mit Blut abgewaschen werden. Nun herrscht Kampf zwischen der Roten Rose und der Wei?en Rose, und tausend und aber tausend Seelen werden in den Tod gehen - hinein in die Nacht des Todes.
        Sixtus,
        Edelmann
        und Chef der Roten Rose«

»Und jetzt«, sagte Anders, »wollen wir ihnen eins auf die Qua-ste geben. Machst du mit?«
        Kalle grinste zufrieden. Der Krieg der Rosen, der mit kurzen Unterbrechungen nun schon seit Jahren tobte, war nicht etwas, wovon man sich freiwillig ausschlo?. Das gab Spannung und Inhalt fur die Sommerferien, die sonst vielleicht etwas eintonig gewesen waren. Radfahren und baden, Erdbeerbeete begie?en, Besorgungen machen fur Vaters Lebensmittelgeschaft, angelnd am Flu? sitzen, in Eva-Lottes Garten Ball spielen - das alles reichte nicht, die Tage auszufullen. Die Sommerferien waren ja so lang.
        Ja, Sommerferien waren glucklicherweise lang. Und sie waren die beste Erfindung, die jemals gemacht worden war, fand Kalle.
        Seltsam zwar, sich vorzustellen, da? Erwachsene so was erdacht hatte. Da lie?en sie einen tatsachlich so einfach zehn Wochen lang im Sonnenschein herumlaufen, ohne da? man sich uber den Drei?igjahrigen Krieg oder so etwas den Kopf zerbrach.
        Man konnte sich statt dessen mit dem Krieg der Rosen beschaftigen, und das war viel schoner.

»Ob ich mitmache? Mu?t du das uberhaupt fragen?«
        Dunn gesat waren sie ja, die Verbrecher, in letzter Zeit.
        Konnte sich Meisterdetektiv Blomquist da nicht gut etwas Urlaub gonnen, um seine Freizeit der hoheren Kriegfuhrung zu widmen und zu sehen, was die Roten diesmal wieder zusam-mengebraut hatten?

»Ich glaube, ich begebe mich erst mal auf einen kleinen vor-bereitenden Kundschaftergang«, sagte Anders.

»Tu das«, sagte Eva-Lotte. »Und wir starten dann in etwa einer halben Stunde. Ich will nur erst die Messer schleifen.«
        Das horte sich imponierend und gefahrlich an. Anders und Kalle nickten einverstanden mit dem Kopf. Ja, Eva-Lotte war schon ein Krieger, auf den man sich verlassen konnte! Die Messer, die geschliffen werden sollten, waren freilich nur Backermeister Lisanders Brotmesser - aber trotzdem! Eva-Lotte hatte ihrem Vater versprochen, ihm den Schleifstein zu drehen, bevor sie wegging. In der brennenden Julisonne den schweren Schleifstein drehen war schon eine hei?e Arbeit. Aber es kuhlte ein wenig ab, wenn man sich vorstellte, da? das, womit man sich ab-rackerte, notwendige Waffen fur den Krieg der Rosen waren.

»Tausend und aber tausend Seelen werden in den Tod gehen - hinein in die Nacht des Todes«, murmelte Eva-Lotte vor sich hin, wahrend sie drehend am Schleifstein stand und ihr der Schwei? von der Stirn tropfte.

»Was sagst du?« fragte Backermeister Lisander und sah vom Schleifstein auf.

»Nichts.«

»Das war wohl genau das, was ich gehort habe«, sagte der Backermeister und fuhr prufend mit dem Finger uber die Schneide eines Brotmessers. »Du kannst laufen!«
        Und Eva-Lotte lief. Sie schlangelte sich durch den Zaun, der ihren Garten von Kalles trennte. An einer Stelle fehlte ein Brett.
        Solange sich Menschen entsinnen konnten, fehlte dort das Brett, und es wurde dort fehlen, solange Eva-Lotte und Kalle etwas zu sagen hatten. Sie brauchten diesen Durchgang.
        Es konnte passieren, da? Lebensmittelhandler Blomquist, der ein ordentlicher Mann war, zum Backermeister Lisander, wenn sie an Sommerabenden in des Backermeisters Laube sa?en, sagte: »Hor mal, Freund, wir sollten vielleicht den Zaun in Ordnung bringen. Sieht recht liederlich aus, finde ich.«

»Ach, wir warten wohl, bis die Kleinen so gro? geworden sind, da? sie in der Offnung festklemmen«, erwiderte der Bak-kermeister dann. Aber Eva-Lotte blieb unterdessen trotz hartnackigster Milchbrotchenvertilgung weiterhin schmal wie ein Stock, und es bereitete ihr vorlaufig absolut keine Schwierigkeiten, durch die enge Offnung zu schlupfen.
        Ein Pfiff war von der Stra?e zu horen. Anders, Chef der Wei?en Rose, war von seinem Kundschaftergang zuruckge-kehrt. »Sie halten sich in ihrem Hauptquartier auf«, schrie er.

»Vorwarts zu Kampf und Sieg!«
        Kalle hatte seinen Platz unter dem Birnbaum wieder bezogen, als Eva-Lotte zum Schleifstein und Anders auf seinen Kundschaftergang verschwunden waren. Er benutzte die kurze Atem-pause, bevor der Krieg der Rosen ausbrach, zu einem wichtigen Gesprach. Ja, er hatte ein Gesprach, obwohl kein lebendes Wesen in der Nahe zu sehen war. Meisterdetektiv Blomquist sprach mit seinem erdachten Zuhorer. Seit Jahren schon hatte er diesen lieben Begleiter. Oh, das war ein wunderbarer Mensch, dieser Zuhorer! Er behandelte den beruhmten Detektiv mit der hohen Achtung, die er so oft verdiente und so selten bekam, am wenigsten von Anders und Eva-Lotte. Gerade jetzt sa? er, andachtig auf jedes Wort lauschend, zu des Meisters Fu?en.

»Herr Bengtsson und Fraulein Lisander sind von wahrhaft beklagenswerter Interessenlosigkeit gegenuber den Verbrechen in unserer Gemeinde«, versicherte Herr Blomquist und sah seinem erdachten Zuhorer ernst in die Augen. »Eine kleine Ruhe-pause nur - und sie verlieren alle Wachsamkeit. Sie verstehen nicht, da? gerade die Ruhe gefahrlich ist.«

»Tatsachlich?« sagte der erdachte Zuhorer und sah ganz ver-dattert aus.

»Die Ruhe ist trugerisch«, fuhr der Meisterdetektiv mit Nachdruck fort. »Diese kleine friedliche Stadt, diese strahlende Sommersonne, diese idyllische Ruhe - bah! In einer Minute kann das alles verandert sein. Ganz plotzlich kann das Verbrechen seinen dusteren Schatten uber uns werfen!«
        Der erdachte Zuhorer keuchte. »Herr Blomquist, Sie erschrecken mich«, flusterte er und warf scheue Blicke um sich, als wollte er sehen, ob das Verbrechen nicht schon hinter einer Ecke stand und lauerte.

»Uberlassen Sie das alles nur mir«, sagte der Meisterdetektiv.

»Beunruhigen Sie sich nicht. Ich wache.«
        Jetzt konnte der erdachte Zuhorer kaum noch sprechen, so geruhrt und dankbar war er. Seine gestammelten Dankesworte wurden au?erdem durch Anders’ Kriegsruf vom Zaun her unterbrochen: »Vorwarts zu Kampf und Sieg!«
        Als hatte ihn eine Biene gestochen, fuhr Meisterdetektiv Blomquist in die Hohe. Man durfte ihn nicht noch einmal unter dem Birnbaum finden.

»Leben Sie wohl!« rief er dem erdachten Zuhorer zu und hatte dabei selbst das Gefuhl, als ware es ein Abschied fur ziemlich lange. Der Krieg der Rosen wurde ihm wohl kaum Zeit lassen, im Gras zu liegen und uber Kriminalistik zu diskutieren.
        Und das war eigentlich gut. Ehrlich gesagt: Es war schon ein Kreuz, in dieser Stadt Verbrecher fangen zu mussen. Ein ganzes Jahr seit dem letzten Mal - kann man sich das uberhaupt vorstellen? Nein, der Krieg der Rosen war sicherlich herzlich willkommen.
        Sein erdachter Zuhorer sah ihm lange und angstlich nach.

»Leben Sie wohl!« rief der Meisterdetektiv noch einmal.

»Ich bin nun eine Weile zum Militardienst einberufen. Aber seien Sie nicht beunruhigt. Ich denke nicht, da? gerade jetzt irgend etwas Besonderes passieren wird.«
        Ich denke nicht … Ich denke nicht …! Da lauft der Meisterdetektiv, der eigentlich uber die Sicherheit der Stadt wachen sollte! Da lauft er nun, frohlich pfeifend, und seine nackten braunen Fu?e trommeln auf den Gartenweg, wie er Anders und Eva-Lotte entgegensaust. Ich denke nicht … Diesmal dachten Sie falsch, Herr Meisterdetektiv!
        ZWEITES KAPITEL

»In dieser Stadt gibt es nur eine Stra?e und eine Querstra?e«, pflegte Backermeister Lisander zu den Leuten zu sagen, die aus einer anderen Gegend zu Besuch hierherkamen. Und der Bak-kermeister hatte recht. Hauptstra?e und Kleine Stra?e, das war alles, was es gab - und den Gro?en Markt naturlich. Der Rest waren winzige kopfsteingepflasterte, bucklige Gassen und Stra-
        - enstummel, die zum Flu? hinunterfuhrten oder auch ganz plotzlich vor einem baufalligen alten Haus aufhorten, das mit dem Recht des Alters dort stand und den Weg versperrte und sich eigensinnig jeder modernen Stadtplanung widersetzte. Gewi? fand sich am Rande der Stadt die eine oder andere moderne Villa in einem schon gepflegten Garten; aber das waren Aus-nahmen. Die meisten Garten waren wie der des Backermeisters: wild gewachsen mit alten knotigen Apfel- und Birnbaumen und verwilderten Grasmatten, die nie geschnitten wurden. Auch die Hauser ahnelten meist dem des Backermeisters: gro?e Holzka-sten, die ein Baumeister langst vergangener Zeit in wildem Schonheitssinn mit ganz unerwarteten Vorsprungen, Turmchen und Zinnen geschmuckt hatte.
        Eine schone Stadt war es also, strenggenommen, nicht, aber sie hatte die altvaterliche gemutliche Ruhe.
        Kalle und Anders und Eva-Lotte, die gerade am Ufer des Flusses entlang dem Hauptquartier der Roten Rose entgegentrabten, fragten auch nicht viel danach, ob ihre Stadt schon war oder nicht.
        Sie wu?ten nur, da? sie einen ausgezeichneten Kriegsschauplatz im Krieg der Rosen abgab. Da konnte man in schmalen, winkligen Gassen die Verfolger abschutteln, Zaune gab es zum Ubersprin-gen und Dacher, auf die zu klettern sich lohnte, Holzschuppen, in denen man sich verbarrikadieren konnte, und au?erdem noch tau-sendundeine Gelegenheit, sich zu verstecken. Solange eine Stadt diese au?erordentlichen Vorzuge besa?, brauchte sie nicht schon zu sein. Es war vollauf genug, da? die Sonne schien und die Pfla-stersteine sich unter den nackten Fu?en so warm und behaglich anfuhlten. Das war wie Sommer im ganzen Korper. Der leicht muffige Geruch vom Flu?, der sich ab und zu mit verirrtem Ro-senduft aus irgendeinem Garten mischte, war auch sommerlich und angenehm. Und die Eisbude hinten an der Stra?enecke verschonerte das Stadtbild gerade genug, fanden Kalle und Anders und Eva-Lotte. Mehr Schonheit war hier gar nicht notig.
        Sie kauften sich jeder eine Funfundzwanzig-Ore-Portion und liefen weiter die Stra?e entlang.
        Hinten von der Flu?brucke her kam ihnen Schutzmann Bjork langsam patrouillierend entgegen. Seine Uniformknopfe blitz-ten im Sonnenschein.

»Hallo, Onkel Bjork«, rief Eva-Lotte.

»Hallo«, erwiderte der Schutzmann. »Hallo, Meisterdetektiv«, setzte er noch hinzu und legte Kalle freundlich den Arm um den Nacken. »Keine neuen Falle fur heute?«
        Kalle sah argerlich aus. Onkel Bjork war doch wohl damals dabeigewesen und hatte die Fruchte von Kalles Verbrecherjagd im vorigen Sommer geerntet. Er brauchte doch nun gewi? nicht faule Witze zu machen.

»Nein, keine neuen Falle fur heute«, antwortete Anders fur Kalle. »Alle Diebe und Morder haben den Befehl bekommen, ihre Arbeit bis morgen aufzuschieben. Kalle hat namlich heute keine Zeit fur sie.«

»Nein, heute wollen wir den Roten Rosen die Ohren ab-schneiden«, sagte Eva-Lotte und lachelte Schutzmann Bjork freundlich an. Sie konnte ihn gut leiden.

»Eva-Lotte, manchmal habe ich so das Gefuhl, als mu?test du etwas madchenhafter sein«, sagte Schutzmann Bjork und sah bekummert auf die schlanke, sonnenverbrannte Amazone, die da an der Bordkante stand und spielerisch mit dem gekrummten gro?en Zeh einen Zigarettenstummel aufzuheben versuchte. Es gluckte, und mit kraftigem Schwung schleuderte sie den Stummel in den Flu?.

»Madchenhafter? Ja, an den Montagen«, versicherte Eva-Lotte, und ein helles, strahlendes Lachen lag auf ihrem Gesicht.

»Hej, Onkel Bjork, nun mussen wir aber flitzen!«
        Schutzmann Bjork schuttelte den Kopf und wanderte weiter.
        Wenn man uber die Brucke ging, wurde man einer schweren Versuchung ausgesetzt. Naturlich konnte man auf die allgemein ubliche Weise hinubergehen. Aber da gab es Gelander, recht schmale Gelander. Und wenn man uber die Brucke ging, indem man uber diese Gelander balancierte, hatte man ein Weilchen einen angenehmen Kitzel in der Magengrube. Es konnte ja passieren, da? man runterfiel. Gewi?, es war trotz ausfuhrlicher Versuche auf diesen Gelandern noch nie geschehen, aber ganz sicher war man ja nicht. Und wenn auch das Ab-schneiden der Ohren der Roten Rosen eine recht eilige Angelegenheit war, fanden sowohl Kalle als Anders und Eva-Lotte doch, da? immer noch etwas Zeit fur einen kleinen Balanceakt ubrig sein mu?te. Es war naturlich verboten; aber Schutzmann Bjork war schon verschwunden, und auch sonst war kein Mensch zu sehen.
        Doch, einer war zu sehen. Gerade als sie, nach allen Seiten sichernd, auf die Gelander geklettert waren und das angenehm kitzelnde Gefuhl im Magen sich wieder einzustellen begann, kam auf der anderen Seite der Brucke Gren, der Alte, angetrottet.
        Aber um ihn kummerte man sich nicht. Gren, der Alte, blieb vor den Kindern stehen, seufzte wie gewohnlich und sagte in seiner ublichen abwesenden Art: »Ja, ja, der Kindheit gluckliche Spiele.
        Der Kindheit gluckliche, unschuldige Spiele. Ja, ja!«
        So sagte Gren, der Alte, immer. Die Kinder pflegten ihn nachzuahmen. Selbstverstandlich nie so, da? er es horen konnte.
        Aber wenn Kalle aus Versehen den Fu?ball genau in Vater Blomquists Schaufensterscheibe setzte oder Anders vom Fahrrad fiel und dabei haargenau mit dem Gesicht in einem Bren-nesselgestrupp landete, konnte es sein, da? Eva-Lotte seufzte und sagte: »Ja, ja, der Kindheit gluckliche Spiele. Ja, ja.«
        Sie erreichten glatt das andere Ende der Brucke. Auch diesmal wieder war keiner ins Wasser gefallen. Anders sah sich um, ob jemand ihr Tun beobachtet hatte. Die Kleine Stra?e aber war nach wie vor leer. Nur Gren, der Alte, ging dort ganz hinten. Seinen trottenden Gang konnte man nicht verkennen.

»Ich wei? niemand, der so seltsam geht wie Gren«, sagte Anders.

»Gren ist durch und durch seltsam«, meinte Kalle. »Aber vielleicht wird man seltsam, wenn man so allein ist.«

»Der Armste«, sagte Eva-Lotte. »Stellt euch vor, in solch einer alten Baracke wohnen zu mussen und keinen Menschen zu haben, der auffegt oder mal Essen kocht und so.«

»Tja, Fegen ist ja nicht unbedingt wichtig«, fand Anders nach kurzem uberlegen.
»Ein Weilchen allein sein, fande ich auch nicht schlecht. Da schafft man wenigstens etwas an seinen Basteleien.«
        Fur einen, der wie Anders mit einer Menge von kleinen Geschwistern auf knappem Wohnraum zusammenleben mu?te, war es kein ubler Gedanke, ein ganzes Haus fur sich zu haben.

»Ach, du wurdest dabei in einer Woche wunderlich werden«, sagte Kalle, »noch wunderlicher, als du jetzt schon bist, meine ich. Genauso wunderlich wie Gren.«

»Vater kann diesen Gren nicht leiden«, rief Eva-Lotte. »Er sagt, Gren ist ein Prozenter!« Weder Anders noch Kalle wu?ten, was ein Prozenter ist, aber Eva-Lotte erklarte es schon: »Vater sagt, ein Prozenter ist so einer, der Geld ausleiht - an Leute, die es notig haben.«

»Ja, aber das ist doch nett von ihm«, staunte Anders.

»Nein, das ist es nicht«, sagte Eva-Lotte. »Das ist so - versteh doch … Nimm doch einmal an, du mu?t dir funfundzwanzig Ore leihen, du mu?t die funfundzwanzig Ore unbedingt fur etwas haben …«

»Fur ein Eis«, schlug Kalle vor.

»Du nimmst mir das Wort aus dem Mund. Ich fuhle direkt schon, wie ich es unbedingt haben mu?!« bestatigte Anders.

»Na ja, dann gehst du eben zu Gren«, sagte Eva-Lotte, »oder zu irgendeinem anderen Prozenter. Und der gibt dir dann die funfundzwanzig Ore …«

»Macht er?« fragte Anders, vollig erschlagen von dieser Moglichkeit.

»Klar. Aber du mu?t dich verpflichten, sie in einem Monat zuruckzuzahlen«, sagte Eva-Lotte. »Und es reicht nicht, wenn du ihm funfundzwanzig Ore zuruckgibst. Du mu?t ihm funfzig Ore geben.«

»Auf keinen Fall!« emporte sich Anders. »Warum mu? ich das?«

»Kindchen«, sagte Eva-Lotte. »Hast du denn noch nie in der Schule Prozentrechnen gehabt? Gren will Prozente fur sein Geld haben. Versteh mich doch!«

»Aber er kann sich doch wohl etwas ma?igen«, meinte Kalle.

»Das tun die Prozenter aber nun einmal nicht«, sagte Eva-Lotte. »Die ma?igen sich nicht. Die nehmen immer zuviel Prozente. Und im Gesetzbuch steht, da? man das nicht darf. Wucher hei?t es da, glaube ich. Ja, und deshalb kann Vater den Gren nicht leiden.«

»Ja, aber warum sind die Leute denn so vernagelt, da? sie Geld von Prozentern leihen?« wunderte sich Kalle. »Konnen die sich das Geld fur ihr Eis nicht woanders borgen?«

»Dummchen«, sagte Eva-Lotte. »Vielleicht handelt es sich nicht nur um funfundzwanzig Ore fur ein Eis, sondern um Tausende von Kronen. Da gibt es vielleicht Menschen, die mussen durchaus funftausend Kronen haben und gerade jetzt in dieser Sekunde, und kein Mensch ist da, der sie ihnen borgen will.
        Keiner, nur so ein Prozenter, so ein Wucherer wie Gren.«

»Jetzt pfeifen wir auf Gren«, sagte Anders, der Chef der Wei?en Rose. »Vorwarts zu Kampf und Sieg!«
        Da lag des Postdirektors Haus und im Garten dahinter ein Schuppen, der als Garage diente. Als Garage und als Hauptquartier der Roten Rose. Denn des Postdirektors Sixtus war der Chef dieser streitsuchtigen Bande. Augenblicklich schien die Garage verlassen und leer. Schon von weitem konnte man sehen, da? da ein wei?es Plakat an der Tur festgemacht war.
        Der Chef der Wei?en Rose gab seinen Truppen Anweisung:

»Kalle, du schleichst an der Hecke entlang, bis du hinter dem Hauptquartier au?er Sicht fur den Feind bist. Dann hinauf auf das Dach! Schaff sie herbei, die Bekanntmachung, tot oder lebendig!«

»Die Bekanntmachung - tot oder lebendig? Was meinst du damit?« fragte Kalle.

»Halt den Schnabel«, sagte Anders. » Du sollst tot oder lebendig sein, kannst du doch wohl begreifen, nicht? Eva-Lotte, du liegst hier still hinter der Hecke und spahst. Wenn du irgendeine Gefahr fur Kalle merkst, pfeifst du unser Signal.«

»Und du? Was willst du machen?« fragte Eva-Lotte.

»Ich gehe rein und frage Sixtus’ Mutter, ob sie wei?, wo Sixtus ist«, antwortete Anders.
        Sie setzten sich in Bewegung. Kalle hatte schnell das Hauptquartier erreicht. Auf das Dach zu kommen war kein Kunststuck. Das hatte Kalle schon oft geschafft. Man brauchte nur vorher auf die Mulltonne zu klettern, die hinter der Garage stand. Er kroch uber das Dach, ungemein leise, damit der Feind ihn nicht horen konnte. Naturlich wu?te Kalle ganz genau, da? die Garage leer war. Das wu?te auch Eva-Lotte - Anders ubrigens auch. Aber der Krieg der Rosen hatte seine besonderen Regeln. Und deshalb kroch Kalle uber das Dach, als galte es das Leben. Und deshalb lag Eva-Lotte hinter der Hecke und verfolgte jede seiner Bewegungen, gespannt wie ein Tiger, jederzeit bereit, einen Warnpfiff auszusto?en, wenn es wider Erwarten notig sein sollte.
        Anders kam zuruck. Sixtus’ Mutter wu?te nicht, wo ihr geliebter Junge gerade residierte.
        Kalle aber beugte sich au?erst vorsichtig uber die Dachkante, und nach reichlichem Strecken gelang es ihm, das Plakat von der Tur zu rei?en. Dann kehrte er auf demselben Weg genauso leise zuruck. Eva-Lotte hielt bis zuletzt scharf Ausguck.

»Gut gemacht, mein Tapferer«, sagte Anders anerkennend, als Kalle ihm das Plakat ubergab. »Wollen doch mal sehen.«
        Sixtus, »Edelmann und Chef der Roten Rose«, hatte die bemerkenswerte Bekanntmachung verfa?t. Aber man mu?te zugeben, fur einen Edelmann war die Sprache merkwurdig saf-tig. Von einem Edelmann hatte man wohl mit Recht etwas Vor-nehmeres erwarten konnen.

»Ihr widerlichen Lausepudel, ja, gerade Ihr, Ihr Wei?en Rosen, die Ihr mit Eurer stinkenden Anwesenheit diese Stadt ver-pestet! Hiermit tun wir Euch kund und zu wissen, da? wir, die noblen Edelmanner der Roten Rose, uns auf das Schlachtfeld der Prarie begeben haben. Kommt sofort dorthin, damit wir das ha?liche Unkraut, das sich Wei?e Rose nennt, ausrotten konnen und dessen Asche auf Johannssons Misthaufen streuen, wohin es schon lange gehort. Kommt nur, Lausepudel!!«
        Niemand, der diese herzlichen Worte las, hatte glauben konnen, da? die Roten und Wei?en Rosen in Wahrheit die allerbesten Freunde waren. Abgesehen von Kalle und Eva-Lotte, kannte Anders keinen prachtigeren Kameraden als Sixtus, hochstens noch Benka und Jonte, auch sie beide wunderbare Rote Rosen.
        Und wenn Sixtus und Benka und Jonte in dieser Stadt jemand hoch und heilig anerkannten, so waren das die Lausepudel Anders, Kalle und Eva-Lotte.

»Das war das«, sagte Anders, als er die Bekanntmachung vor-gelesen hatte. »Zur Prarie! Vorwarts zu Kampf und Sieg!«
        DRITTES KAPITEL
        Die Prarie war eine gro?e Gemeindewiese, die direkt am Au-
        - enrand der Stadt lag, auf der schon Eltern und Gro?eltern als Kinder gespielt hatten. Sie war mit kurzem Schafgras bewachsen, diesem Gras, uber das mit nackten Fu?en zu laufen besonders Spa? macht. Kalle, Anders und Eva-Lotte, die eilig der freundlichen Einladung von Sixtus gefolgt waren, starrten mit von der Sonne geblendeten Augen uber das Schlachtfeld und versuchten, ihre Feinde zu entdecken. Aber die Roten Rosen waren nicht zu sehen. Gro?e Teile der Prarie waren mit Haselstrauchern und Wacholderbuschen bewachsen, zwischen denen sich ein schleichender Ritter der Roten Rose leicht verstecken konnte. Die Wei?en lie?en ihr entsetzliches Kriegsgeschrei ertonen und drangen zwischen die Busche. Sie durchsuchten jedes Gestrupp, aber kein Feind wurde gefunden. Sie suchten weiter, bis sie die au?erste Kante der Prarie, dicht beim Herrenhof, erreicht hatten, aber es nutzte nichts.

»Was ist das fur ein ubler Scherz?« sagte Anders. »Sie sind ja nicht zu finden.«
        Da ertonte uber die Stille der Prarie aus drei Kehlen ein schneidendes, hohnisches Gelachter.

»He!« Eva-Lotte zuckte zusammen und sah sich unruhig um.

»Ich glaube fast, sie sind im Herrenhof.«

»Ja, sie sind bestimmt da drinnen«, sagte Kalle, und seine Stimme war voller Bewunderung.
        Am Rand der Prarie stand zwischen zitternden Espen ein altes Haus. Das war der Herrenhof. Ein vornehmes altes Haus aus dem siebzehnten Jahrhundert, das einst bessere Tage gesehen hatte. Und dort guckten nun aus einem Fenster an der Ruckseite drei triumphierende Jungengesichter heraus.

»Wehe dem, der sich dem neuen Hauptquartier der Roten Rose nahert!« schrie Sixtus.

»Wie in aller Welt seid ihr …« staunte Anders.

»Ja, das mochtet ihr wohl wissen«, hohnte Sixtus. »Die Tur war offen. Ganz einfach, nicht?«
        Der Herrenhof war lange Jahre unbewohnt gewesen und sehr verfallen. Es war beabsichtigt, ihn zu restaurieren und ein Hei-matmuseum daraus zu machen. Jetzt quietschten die alten Dielen angstvoll unter den lebenslustigen Fu?en, die unbeherrscht in rasenden Freudensprungen durch das neue Hauptquartier tobten.

»Wir werden die Lausepudel gefangennehmen und hier einsperren. Sollen sie doch verhungern!« schrie Sixtus entzuckt.
        Seine solcherma?en bedachten Opfer liefen erwartungsvoll ihrem Schicksal entgegen. Die Roten versuchten nicht, sie zu hindern. Sixtus hatte namlich beschlossen, das obere Stockwerk, das leichter zu verteidigen war, unter Einsatz von Blut und Leben zu halten. Auf der prunkvollen Treppe, die nach oben fuhrte, standen die Roten und gaben mit kriegerischen Gebarden zu verstehen, da? nichts ihnen lieber sei, als sich auf den Feind zu sturzen. Die Wei?en gingen ruhmvoll zum Angriff uber. Die Stadtvater hatten sich die Haare ausgerissen, wenn sie den Krach und Donner hatten horen konnen, der entstand, als die beiden streitenden Heere aufeinanderprallten. Ihr angehendes Museum zitterte in allen Fugen, und die zierlichen Holzgelander der Treppe bogen sich. Heulende Schreie stiegen zu der schonen Stuckdecke empor. Der Chef der Wei?en Rose sauste, einem Unwetter gleich, ruckwarts die Treppe hinunter.
        Das Kriegsgluck wechselte. Entweder trieben die Wei?en ihre Gegner fast die ganze Treppe hinauf, oder sie befanden sich selbst unter dem ungeheuren Druck von oben in ungeordnetem Ruckzug zum Erdgescho?. Als der Kampf so gut und gern eine halbe Stunde hin und her gewogt hatte, sehnten sich alle Parteien nach etwas Abwechslung. Die Wei?en zogen sich einen Augenblick zuruck, um den letzten rasenden Angriff vorzubereiten.
        Da gab Sixtus seinen Truppen schnell einen leisen Befehl. Sekunden spater verlie?en die Roten ohne vorherige Warnung ihren Standort auf der Treppe und zogen sich blitzschnell in das obere Stockwerk zuruck. Dort gab es viele Moglichkeiten, argli-stig in Zimmern und Wandschranken zu verschwinden. Das wu?ten Sixtus und seine Getreuen; denn sie hatten das Haus vorher grundlich untersucht. Als nun Anders, Kalle und Eva-Lotte die Treppe heraufgesturmt kamen, waren die Roten Rosen wie weg-geblasen. Sie hatten den Vorsprung von wenigen Sekunden aus-genutzt. Gerade jetzt waren sie hinter einer geschickt verborgenen Tapetentur verschanzt und beobachteten durch einen Spalt die hastige Beratung der Wei?en, die ahnungslos genau davor-standen.

»Schwarmt aus«, sagte der Wei?e Chef. »Sucht den Feind, in welchem Loch er auch, um sein Leben zitternd, liegen mag.
        Macht kurzen Proze? mit ihm, wenn ihr ihn findet.«
        Die Roten Rosen hinter der Tur horten voller Befriedigung zu. »Schwarmt aus«, hatte der Chef der Wei?en gesagt. Etwas Dummeres hatte er sich nicht ausdenken konnen. Das besiegelte sein Schicksal. Er selbst setzte sich unmittelbar danach in Bewegung und schwarmte aus, das hei?t er verschwand hinter einer Ecke. Kaum war er au?er Sicht, schlichen Kalle und Eva-Lotte in der entgegengesetzten Richtung los. Dort befand sich eine Tur, die sie offneten. Sie fanden ein schones sonniges Zimmer, und obwohl sie deutlich sehen konnten, da? es von Feinden leer war, gingen sie auf jeden Fall hinein und gonnten sich eine kleine Kriegspause, um aus dem Fenster zu sehen. Das aber erwies sich als ein absoluter Fehlgriff. Sie kehrten gerade noch rechtzeitig zur Tur zuruck, um zu horen, wie au?en ein Schlussel im Schlo? umgedreht wurde. Sie horten auch das rohe Lachen des Roten Chefs und seine greulichen Triumphworte:

»Ha, ihr Lausepudel, nun habt ihr eure letzten Kartoffeln gesetzt! Hier kommt ihr lebend nicht mehr heraus!« Und dann Benkas gellende Stimme: »Nein, hier durft ihr hocken, bis ihr Moos ansetzt. Aber wir konnen ja ab und zu mal vorbeikommen und guten Tag sagen. Heiligabend zum Beispiel.« Und Jonte:

»Ja, macht euch keine Sorgen. Wir kommen am Heiligabend.
        Was wollt ihr zu Weihnachten haben?«

»Eure Kopfe auf einer Schussel!« schrie Eva-Lotte von innen.

»Und garniert, wie man Schweinskopfe immer garniert«, half Kalle nach.

»Unverschamt bis zum letzten«, sagte der Rote Chef besorgt zu seinen Waffenbrudern. Dann erhob er seine Stimme und rief: »Adieu, ihr Lausepudel. Schreit, wenn ihr Hunger habt.
        Dann kommen wir und rupfen etwas Gras fur euch.« Danach wandte er sich an Benka und Jonte und rieb sich zufrieden die Hande: »Und nun, meine tapferen Waffengefahrten: Irgendwo in diesem Haus befindet sich in diesem Augenblick eine kleine erbarmliche Ratte, die sich Chef der Wei?en Rose nennt. Einsam und wehrlos! Sucht sie! Sucht sie, sage ich!«
        Die Roten taten ihr Bestes. Den Chef der Gegner zu fangen, das war im Krieg der Rosen ein einzigartiges Bravourstuck.
        Der Wei?e Chef hatte sich gut versteckt. Wie die Roten auch umherschnuffelten, sie fanden nicht soviel wie eine Feder von ihm. Bis Sixtus plotzlich ein schwaches Knarren uber seinem Kopf horte.

»Er ist oben auf dem Boden«, flusterte er.
        Nun ging alles sehr schnell. Wohl stand Anders kampfbereit auf dem Boden und warnte in den hochsten Tonen jeden, der noch nicht sein Testament gemacht hatte, in seine Nahe zu kommen; aber es half nichts. Sixtus, der fur sein Alter au?ergewohnlich gro? und stark war, ging an die Spitze, Benka und Jonte halfen nach Bedarf, und bald wurde Anders, wild zap-pelnd, die Treppe hinuntergefuhrt, einem unbekannten Schicksal entgegen.
        Kalle und Eva-Lotte schrien ihm durch die verschlossene Tur trostende Worte zu:

»Wow i ror kok o mom mom e non bob a lol dod u non dod ror e tot tot e non dod i choch!« schrien sie. »Wir kommen bald und retten dich«, hie? das in der heimlichen Sprache der Wei?en Rosen.
        Etwas Besseres, die Roten zu reizen, gab es nicht. Lange hatten diese versucht, hinter das Geheimnis dieser Sprache zu kommen, die die Wei?en bis zur Vollendung beherrschten und so wahnsinnig schnell sprechen konnten, da? es fur den Laien wie ein absolutes Sammelsurium klang. Weder Sixtus noch Benka oder Jonte hatten etwas in dieser Sprache Geschriebenes gesehen. Sonst hatten sie bestimmt keine Schwierigkeiten gehabt, das Ratsel zu losen. Jeder Konsonant wurde verdoppelt und ein o dazwischen eingefugt. So wurde zum Beispiel aus Kalle »Kok a lol lol e« und aus Anders »A non dod e ror sos«.
        Eva-Lotte hatte diese Sprache, die sogenannte Raubersprache, von ihrem Vater
»geerbt«. Der Backermeister hatte eines Abends rein zufallig davon gesprochen, wie er und seine Spielkameraden in ihrer Jugend auf diese Weise zu sprechen pflegten, wenn sie verhindern wollten, da? sie von all und jedem verstanden wurden.
        Eva-Lottes Vater war einigerma?en erstaunt gewesen uber die wilde Begeisterung seiner Tochter fur die Raubersprache. Ein ahnliches Entzucken hatte er jedenfalls stets bei ihr vermi?t, wenn es sich um unregelma?ige deutsche Verben oder derglei-chen handelte. Trotzdem hatte er den ganzen Abend stillgesessen und mit Eva-Lotte geubt, und am nachsten Tag schon konnte sie ihre neue Weisheit an Kalle und Anders weitergeben.
        Den Wei?en den Schlussel zu ihrer Geheimsprache zu entrei?en, war eines der Kriegsziele der Roten. Ein anderes und noch wichtigeres war, den Gro?mummrich zuruckzuerobern.

»Gro?mummrich« war der achtunggebietende Name fur einen recht unbedeutenden Gegenstand. Der Gro?mummrich war einfach ein Stein, ein eigentumlich geformter Stein, den Benka einmal gefunden hatte. Mit etwas gutem Willen konnte man sich einbilden, da? der Stein wie ein Mann geformt war, wie ein nachdenklicher kleiner Mann, der ahnlich wie ein Buddha dasa? und seinen Nabel betrachtete. Die Roten Rosen hatten ihn sofort zu ihrem speziellen Talisman erklart und schrieben ihm eine Reihe au?erordentlicher Eigenschaften zu.
        Es brauchte nicht lange, bis die Wei?en Rosen herausgefun-den hatten, da? es eine erhabene Pflicht war, den Gro?mummrich zu besitzen. Die heftigsten Kampfe hatten schon um den Gro?mummrich stattgefunden. Es klingt unglaubhaft, da? einem kleinen Stein so gro?e Bedeutung beigemessen wurde.
        Aber warum sollten die Roten Rosen ihren Gro?mummrich nicht ebenso lieben wie beispielsweise die Schotten ihren Kronungsstein und innerlich genauso aufgeruhrt sein, wenn die Wei?en ihn voller Tucke entwendet hatten, wie die Schotten, als die Englander den Kronungsstein nach Westminster Abbey gebracht hatten?
        Es war eine traurige Wahrheit, da? die Wei?en zur Zeit den Gro?mummrich besa?en und an einem unbekannten Ort versteckt hielten. Es ware naturlich leicht gewesen, ihn so zu verstecken, da? keine menschliche Macht an ihn herangekonnt hatte. Aber zu den erstaunlichen Regeln, die im Krieg der Rosen galten, gehorte es auch, da? diejenigen, die den Gro?mummrich gerade in ihrer Hand hatten, verpflichtet waren, dem Gegner zumindest einen Anhaltspunkt uber den derzeitigen Aufbewahrungsort des Kleinods zu geben. Der Anhaltspunkt konnte ein Lageplan sein, ein schwer deutbarer und teilweise irrefuhrender, oder ein Bilderratsel, einfach auf einen Zettel hingeschmiert.
        Dieser Fingerzeig mu?te in einer dunklen Nacht in einen Briefkasten des Feindes gesteckt werden, der dann unter Aufbietung seines ganzen Scharfsinnes herausfinden konnte, da? der Gro?mummrich in einem leeren Krahennest oder unter einer Dachsparre auf Schuhmachermeister Bengtssons Holzspeicher lag.
        Zur Zeit befand er sich an keiner der genannten Stellen. Zur Zeit befand er sich an einem ganz anderen Platz. Und einer der Hauptgrunde fur das neue Auflodern der Kampfe der Rosen war, da? die Roten genau zu wissen wunschten, wo dieser Platz nun eigentlich war. Mit dem Chef der Wei?en als Geisel war es sicher leicht, diesen Platz zu erfahren.

»Wir kommen bald und retten dich!« hatten sie geschrien, Eva-Lotte und Kalle. Ihr Chef konnte diese Aufpulverung bestimmt gut brauchen. Denn er wurde von starken Armen zur Folter geschleppt. Wegen des Gro?mummrichs und wegen der Geheimsprache.

»I choch vov e ror ror a tot e non i choch tot sos«, versicherte der Wei?e Chef laut und heroisch, als man ihn an der Tur vorbeifuhrte, hinter der seine Waffengefahrten gefangen waren.

»Warte nur, bald hast du ausgerort«, sagte Sixtus gehassig und packte ihn noch fester am Arm. »Wir werden es schon aus dir herauspressen, was das bedeutet. Keine Sorge!«

»Sei standhaft! Sei stark!« schrie Kalle.

»Halt aus! Halt aus! Wir kommen bald«, unterstutzte ihn Eva-Lotte.
        Und durch die Tur horten sie die letzten stolzen Worte ihres Chefs: »Lang lebe die Wei?e Rose!« Und dann: »La? meinen Arm los! Ich folge auf Ehrenwort! Ich bin bereit, meine Herren!«
        Danach horten sie nichts mehr. Das gro?e Schweigen breitete sich uber ihr Gefangnis. Der Feind hatte das Haus verlassen -und ihren Chef hatte er mitgenommen.
        VIERTES KAPITEL
        Sicher hatten die Roten angedeutet, Kalle und Eva-Lotte konnten bleiben, wo sie waren, bis Moos auf ihnen wuchse. Aber das war nicht buchstablich gemeint. Auch im Krieg der Rosen war man gezwungen, gewisse Rucksichten auf das beschwerliche und storende Element, das Eltern genannt wurde, zu nehmen. Naturlich war es argerlich, wenn edle Krieger ihren Kampf auf dem Hohepunkt abbrechen mu?ten, um nach Hause zu gehen und Koteletts und Rhabarbergrutze zu essen. Aber Eltern waren nun einmal der Meinung, Kinder mu?ten Mahlzeiten innehal-ten. Es war mit einberechnet im Krieg der Rosen, da? man sich diesen narrischen Elternwunschen zu fugen habe. Tat man es nicht, bestand die Gefahr bedeutend ernsterer Storungen in der Kriegfuhrung. Eltern besa?en ein schlechtes Unterscheidungs-vermogen. Sie konnten leicht gerade an dem Abend ein Ausgeh-verbot verhangen, der ausschlaggebend fur eine Schlacht um den Gro?mummrich war. Eltern wu?ten im gro?en und ganzen erschreckend wenig uber Gro?mummriche, wenn auch eine Kindheitserinnerung von der Prarie manchmal wie ein zufalliger Lichtstrahl ihren verdunkelten Verstand
erleuchtete.
        Wenn also die Roten mit Anders loszogen und Kalle und Eva-Lotte im leeren Zimmer eines unbewohnten Hauses ein-sperrten, um sie dort Hungers sterben zu lassen, so bedeutete das nur, da? sie ungefahr zwei Stunden, namlich bis gegen sieben Uhr, schmachten mu?ten. Um sieben Uhr gab es Abendbrot beim Lebensmittelhandler Blomquist, beim Backermeister Lisander und in all den andern Familien in der Stadt. Eine gute Weile vor diesem kritischen Stundenschlag schickte Sixtus entweder Benka oder Jonte, um in aller Stille den Eingeschlossenen die Tur wieder zu offnen. Darum sahen Kalle und Eva-Lotte dem Hungertod mit Fassung und Wurde ins Auge. Aber es war eine Schmach, auf diese Weise eingesperrt worden zu sein. Au-
        - erdem bedeutete es einen erdruckenden Punktsieg fur die Roten. Und dieser Vorsprung war, nachdem sie auch den Wei?en Chef gefangen und abgefuhrt hatten, in Wahrheit katastrophal.
        Nicht einmal der Gro?mummrich in der Hand der Wei?en konnte ihn ausgleichen.
        Eva-Lotte sah den Fortziehenden verbittert aus dem Fenster nach. »Ich mochte wissen, wohin sie ihn fuhren«, sagte sie.

»Naturlich in Sixtus’ Garage«, antwortete Kalle und fugte hinzu: »Wenn man doch nur eine Zeitung hatte!«

»Eine Zeitung?« fragte Eva-Lotte irritiert. »Jetzt Zeitung lesen, wo wir versuchen mussen, hier herauszukommen?«

»Du hast ja recht«, sagte Kalle. »Wir mussen hier heraus.
        Deshalb mochte ich ja auch eine Zeitung haben.«

»Glaubst du, da steht etwas drin uber die beste Art, an Hauswanden hinunterzuklettern?« Eva-Lotte beugte sich aus dem Fenster, um den Abstand vom Boden zu schatzen. »Wir brechen uns naturlich den Hals«, fuhr sie fort. »Aber es hilft ja nichts.«
        Kalle stie? einen zufriedenen Pfiff aus. »Die Tapete! Daran hatte ich nicht gedacht. Die wird genugen.«
        Rasch ri? er einen Fetzen von der herabhangenden Tapete ab.
        Eva-Lotte sah ihm verwundert zu. Kalle buckte sich und schob das gro?e Papierstuck durch die fingerbreite Ritze unter der Tur.

»Reine Routinearbeit«, murmelte er und holte sein Taschenmesser heraus. Das kleinste und dunnste Messer klappte er hoch und stocherte vorsichtig damit im Schlusselloch herum. Man horte ein Klirren auf der Au?enseite der Tur. Es war der Schlussel, der dort zu Boden fiel. Kalle zog die Tapete wieder herein, und richtig, darauf lag der Schlussel. »Wie gesagt, reine Routinearbeit«, sagte der Meisterdetektiv, damit andeutend, da? seine Tatigkeit als Detektiv es eben mit sich brachte, jeden Tag verschlossene Turen auf die eine oder andere knifflige Art zu offnen.

»O Kalle, du bist unschlagbar!« stellte Eva-Lotte bewundernd fest.
        Kalle schlo? auf. Sie waren frei. »Aber wir wollen nicht gehen, ohne die Rotlichen um Verzeihung zu bitten«, sagte Kalle.
        Er fischte einen Bleistiftstummel aus seiner inhaltsreichen Hosentasche und reichte ihn Eva-Lotte. Und sie schrieb auf die Ruckseite der Tapete:

»An die Hohlschadel der Roten Rose!
        Eure Moosanpflanzungsversuche sind klaglich gescheitert.
        Genau funf Minuten und dreiunddrei?ig Sekunden haben wir gewartet, da? etwas hervorsprie?en sollte. Jetzt warten wir nicht langer. Kleine Rotzbengelchen, wu?tet ihr noch nicht, da? Wei?e Rosen durch Wande gehen konnen?«
        Sie schlossen das Fenster sorgfaltig und legten den Fensterha-ken um. Dann schlossen sie die Tur von au?en ab und lie?en den Schlussel im Schlo? stecken. Den Abschiedsbrief hangten sie an den Turgriff.

»Das wird ihnen etwas zu denken geben: das Fenster von innen und die Tur von au?en verschlossen! Die werden sich wundern, wie wir herausgekommen sind«, sagte Eva-Lotte und lief rot an vor Begeisterung.

»Ein Punkt fur die Wei?e Rose«, sagte Kalle und lachte.
        Anders war in Sixtus’ Garage nicht zu finden. Die Garage lag still und leer da wie vorher. Sixtus’ Mutter war dabei, im Garten Wasche aufzuhangen.

»Wissen Sie wohl, wo Sixtus ist?« fragte Eva-Lotte.

»Hm, vor einer halben Stunde war er noch hier«, sagte die Frau Postdirektor, »mit Benka und Anders und Jonte.«
        Es war klar, die Roten hatten ihren Gefangenen an einen Platz gebracht, der sicherer war. Aber wohin? Die Antwort befand sich dicht bei ihnen. Kalle sah sie zuerst. In das Gras ge-bohrt stand da ein Finnenmesser, die scharfe Spitze durch einen kleinen Zettel getrieben. Es war Anders’ Messer. Kalle und Eva-Lotte erkannten es sofort. Und auf dem Zettel stand ein einziges Wort: »Jonte«.
        Es war dem Wei?en Chef offenbar gelungen, in einem unbewachten Augenblick diese lakonische Mitteilung fur seine Waffenbruder zu hinterlassen.
        Kalle legte die Stirn in tiefsinnige Falten. »Jonte«, sagte er, »das kann nur eins bedeuten: Anders sitzt zu Haus bei Jonte gefangen.«

»Ja, was dachtest du denn sonst, was es bedeuten konnte?« hohnte Eva-Lotte. »Wenn er wirklich bei Jonte ist, so ist es naturlich schlauer, auch ›Jonte‹ zu schreiben und nicht etwa zum Beispiel ›China‹.« Darauf sagte Kalle kein Wort.
        Jonte wohnte in dem Teil der Stadt, der Rackerberg genannt wurde. Es waren nicht gerade die Vornehmsten, die dort in den kleinen Hutten wohnten. Jonte erhob aber gar nicht den An-spruch, zu den Vornehmen der Stadt zu gehoren. Er war vollauf zufrieden mit der baufalligen Wohnung seiner Familie, die aus Stube und Kuche im Erdgescho? und einer kleinen Kammer unter dem Dach bestand. Letztere war nur im Sommer be-wohnbar. Im Winter war es dort zu kalt. Aber im Juli herrschte in der Bodenkammer eine Hitze wie unter den Bleidachern von Venedig, weshalb dort der beste Platz fur ein Verhor war. Jonte hatte das alleinige Verfugungsrecht uber die Bodenkammer.
        Hier schlief er auf einem einfachen Zeltbett, hier hatte er ein selbstgebautes Regal aus Kistenbrettern, wo er seine Detektiv-magazine und die Briefmarkensammlung, oder was ihm sonst kostbar war, aufbewahrte. Kein Konig konnte in seinem Palast zufriedener sein als Jonte in seiner Kammer, wo die warme Luft stillstand und die Fliegen an der Decke summten.
        Hierher hatten die Roten Anders gebracht. Glucklicherweise waren Jontes Eltern gerade heute au?erhalb der Stadt in ihrem Schrebergarten. Sie hatten zu essen mitgenommen. Jonte sollte zu Hause fur sich selber sorgen und sich Wurst und Kartoffeln braten, falls er Hunger bekam. Und weil Sixtus’ Mutter direkt vor dem Hauptquartier der Roten Rose ihre Wasche aufhangte und weil es so wunderbar elternfrei bei Jonte zu Hause war, hatte Sixtus den gro?artigen Einfall gehabt, das peinliche Verhor in Jontes Kammer stattfinden zu lassen.
        Kalle und Eva-Lotte beratschlagten. Selbstverstandlich konnten sie die Hilfsexpedition sofort starten. Nach einigem uberlegen jedoch fanden sie es besser, damit noch zu warten. Es ware dumm gewesen, sich ausgerechnet jetzt den Roten zu zeigen.
        Bald war Abendbrotzeit. Bald wurde Sixtus Benka oder Jonte zum Herrenhof schicken. Bald wurde dort entweder Benka oder Jonte uber die ratselhafte Flucht von Kalle und Eva-Lotte ganz entgeistert und verstort sein. Das war ein Gedanke voll tiefer Su?e. Es ware sundhaft gewesen, einen so gro?en Triumph zu zerstoren.
        Kalle und Eva-Lotte beschlossen deshalb, die Rettungsaktion bis nach dem Abendbrot zu verschieben. Sie wu?ten ja, da? Anders Urlaub auf Ehrenwort bekommen wurde, um nach Hause zu gehen und Abendbrot zu essen. Und nichts war doch wohl peinlicher fur eine Rettungsexpedition, als dann am Unglucks-platz zu erscheinen, wenn der zu Rettende sich gerade nach Hause begeben hatte, um Abendbrot zu essen.

»Und im ubrigen«, meinte Kalle, »wenn man jemand, der sich in einer Wohnung aufhalt, zu beobachten gedenkt, soll man immer dann beobachten, wenn es dunkel wird und die Leute das Licht anmachen. Bevor sie die Jalousien herunterlassen. Das wei? jeder, der nur die geringste Ahnung von Kriminalistik hat.«

»Jonte hat keine Jalousien«, stellte Eva-Lotte fest.

»Um so besser«, sagte Kalle.

»Aber wie sollen wir durch ein Fenster im Dach beobachten?«
        wunderte sich Eva-Lotte. »Gewi? habe ich sehr lange Beine, aber …«

»Man merkt, da? du noch nie Kriminalistik studiert hast. Was zum Beispiel glaubst du, macht wohl die Kriminalpolizei in Stockholm? Wenn die eine Wohnung, drei Treppen hoch, beobachten wollen, weil dort Verbrecher wohnen, dann verschaffen sie sich Zutritt zu einer Wohnung auf der gegenuberliegenden Stra?enseite, am besten vier Treppen hoch, damit sie etwas uber den Verbrechern sind. Und dann stehen sie da, die Polizisten, mit ihren Fernglasern und sehen haargenau zu den Verbrechern hinein, bevor diese die Jalousien herunterlassen.«

»Wenn ich Verbrecher ware, wurde ich zuerst die Jalousie herunterlassen und dann Licht anmachen«, sagte die praktisch veranlagte Eva-Lotte, »Ubrigens, was denkst du: Zu welcher Wohnung sollen wir uns Zutritt verschaffen, um bei Jonte zu beobachten?«
        Daruber hatte Kalle noch nicht nachgedacht. Fur die Krimi-nalbeamten in Stockholm war es sicher ganz einfach, sich Zutritt zu einer Wohnung zu verschaffen. Sie brauchten ja nur ihre Polizeiausweise vorzuzeigen. Aber es war kaum anzunehmen, da? es hier fur Kalle und Eva-Lotte genauso einfach sein wurde.
        Au?erdem stand gegenuber von Jontes Haus gar kein Haus.
        Da war der Flu?. Aber es war ein Haus dicht daneben. Das Haus von Gren, dem Alten. Eine Baracke von zwei Stockwerken. Gren hatte seine Tischlerwerkstatt zu ebener Erde und hauste selbst in der Wohnung im ersten Stock. Sollte man sich nicht
»Zutritt verschaffen« konnen zu Grens Wohnung? meinte Kalle. Einfach reingehen zu ihm und artig fragen, ob man nicht ein Fenster beschlagnahmen konne, um eine Kleinigkeit zu beobachten? Kalle sah selbst ein, wie dumm dieser Gedanke war. Au?erdem hatte er auch noch einen Haken. Zwar standen die Hauser von Jonte und Gren mit den Giebeln zueinander ge-kehrt, aber gerade auf der Seite zu Jonte hin war bei Gren im oberen Stockwerk kein Fenster.

»Ich habe eine Idee!« rief Eva-Lotte. »Eine Moglichkeit gibt es: Wir klettern bei Gren auf das Dach!«
        Kalle sah sie voller Bewunderung an. »Fur jemand, der noch nie in seinem Leben Kriminalistik studiert hat, ist diese Idee wirklich gut«, sagte er dann.
        Ja, das Dach bei Gren, das war die Losung. Es war im Verhaltnis zu Jontes Dachstubenfenster gerade richtig hoch genug.
        Und Jonte hatte keine Jalousien. Sie wurden einen gro?artigen Beobachtungsplatz haben. Frohen Herzens gingen Kalle und Eva-Lotte nach Hause - zum Abendbrot.
        FUNFTES KAPITEL
        Der Abend war dunkel und still, als sie einige Stunden spater uber den Rackerberg schlichen. Die kleinen Holzbaracken drangten sich dicht aneinander. Etwas von der Hitze des Julita-ges hing noch zwischen den Hauserreihen.

»Hier ist es still wie in einem Grab«, fand Kalle. Und er hatte recht. Nur ab und zu horte man ein Gemurmel von Stimmen hinter einem der Fenster. In der Ferne bellte ein Hund auf, und danach war die Stille noch tiefer als zuvor.
        Bei Jonte aber ging es lebhaft zu. In seiner Bodenkammer war es hell, und gellende Knabenstimmen tonten aus dem offenen Fenster. Kalle und Eva-Lotte stellten mit Befriedigung fest, da? das Verhor in vollem Gange war. Sicher spielte sich dort oben ein spannendes Drama ab, und Kalle und Eva-Lotte waren fest entschlossen, diesem Drama vom besten Platz aus, dem Gren-schen Dach, beizuwohnen.
        Kalle lief noch einmal um das Haus, um die Moglichkeiten zu untersuchen. Argerlich - bei Gren war auch Licht. Warum konnten alte Menschen abends nicht schlafen gehen, sie, die den Schlaf doch so notig hatten! Wie sollte man sonst einigerma?en ungestort auf ihrem Dach herumspazieren? Aber es half nichts.
        Ungestort oder nicht - auf das Dach mu?ten sie.
        Es war gar nicht so schwer. Gren, der Alte, hatte freundlicherweise eine Leiter an den einen Giebel des Hauses gestellt.
        Zwar stand die Leiter dicht neben Grens Fenster, dem Fenster, das erleuchtet war, und das Fenster stand offen hinter einer zur Halfte herabgelassenen Jalousie. Und es war nicht sicher, ob Gren besonders entzuckt sein wurde, wenn er den Kopf aus dem Fenster stecken und zwei Wei?e Rosen sehen wurde, die in voller Fahrt auf sein Dach kletterten. Aber im Krieg der Rosen durfte man sich durch derartige Bagatellen nicht storen lassen.
        Unbeirrt mu?te man den Weg der Pflicht gehen, auch wenn er uber Grens Dachfirst fuhrte.

»Geh du voran«, sagte Eva-Lotte ermunternd. Das tat Kalle.
        Vorsichtig, ganz vorsichtig begann er, die Leiter hinaufzuklettern. Eva-Lotte folgte ihm schnell und leise. Gefahrlich konnte es ja erst werden, wenn sie sich auf gleicher Hohe mit dem er-leuchteten Fenster im oberen Stockwerk befanden.

»Gren hat Besuch«, flusterte Kalle Eva-Lotte zu. »Ich hore, wie sie zusammen sprechen.«

»Steck den Kopf rein und bitte fur uns um ein Stuck Kuchen«, meinte Eva-Lotte und kicherte zufrieden uber ihren eigenen Vorschlag.
        Kalle lie? sich nicht beirren. Er setzte seinen Weg zum Dach fort, so schnell er konnte. Auch Eva-Lotte hatte es eilig, als sie an der Fensteroffnung vorbei mu?te. Ja, Gren hatte Besuch, man konnte es deutlich horen. Kuchen wurde aber nicht serviert. Jemand stand mit dem Rucken zum Fenster, jemand, der mit tiefer Stimme aufgeregt sprach. Eva-Lotte konnte zwar nur ein Stuck von dem Sprechenden sehen, da die Jalousie ja zur Halfte herabgelassen war; aber sie sah, da? der Besuch von Gren dunkelgrune Gabardinehosen anhatte. Und dann horte sie seine Stimme.

»Ja, ja, ja«, sagte er ungeduldig. »Ich werde versuchen. Ich werde bezahlen. Da? ich endlich aus dieser Holle heraus kann!«
        Darauf horte sie Grens weinerliche Greisenstimme: »Das haben Sie schon oft gesagt. Jetzt will ich aber nicht langer warten.
        Sie werden verstehen - ich mu? mein Geld haben.«

»Sie werden es bekommen, sage ich.« Es war der Fremde, der nun wieder sprach. »Wir treffen uns am Mittwoch. An der gewohnten Stelle. Bringen Sie meinen Revers mit, nein, alle Reverse, jeden einzigen. Ich werde sie alle einlosen. Es mu? endlich Schlu? damit sein.«

»Der Herr braucht sich doch nicht so aufzuregen. Sie verstehen doch, da? ich mein Geld haben mu?«, antwortete Gren beruhigend.

»Blutsauger!« sagte der Fremde, und man horte, da? er es auch meinte.
        Eva-Lotte kletterte schnell weiter. Kalle wartete, auf dem Dachfirst sitzend, auf sie.

»Die da unten hatten Krach wegen Geld«, erklarte Eva-Lotte.

»Sicherlich prozentuieren die beiden«, vermutete Kalle.

»Ich mochte wissen, was ein Revers ist«, sagte Eva-Lotte nachdenklich. Dann aber setzte sie hastig hinzu: »Ach, ist ja ganz egal! Komm, Kalle!«
        Um in die Nahe von Jontes Fenster zu kommen, mu?ten sie quer uber das Dach zur gegenuberliegenden Seite balancieren.
        Recht unheimlich war es dort unter einem dunklen Himmel ohne freundliche Sterne, die den gefahrlichen Weg etwas auf-hellten. Nichts zum Festhalten als den Schornstein, und der bot nur einen kurzen Halt, als sie die Halfte des Weges hinter sich hatten. Aber sie gingen weiter auf ihrem gefahrvollen Ba-lancegang, und ihr Mut wurde belohnt durch den Anblick, der sich ihnen in Jontes Kammer bot. Da sa? ihr Chef auf einem Stuhl, umringt von den Roten Rosen, die mit den Armen fuch-telten und ihn anschrien. Er aber schuttelte nur stolz den Kopf.
        Eva-Lotte und Kalle legten sich platt auf den Bauch und bereiteten sich auf eine genu?reiche Stunde vor. Sie konnten alles, was dort druben vor sich ging, horen und sehen. Welch ein Triumph! Welch ein Erfolg! Ihr Chef sollte nur wissen, da? die Rettung so nahe war. Nur zwei Meter von ihm entfernt lagen seine Getreuen, bereit, Blut und Leben fur ihn zu opfern.
        Eine Kleinigkeit nur war noch zu klaren. Wie sollte die Be-freiung vor sich gehen? Es war sicher gut und schon, Blut und Leben opfern zu wollen, aber wie sollte das geschehen? Uber zwei Meter Abstand mit nur Luft dazwischen …

»Irgend etwas wird uns schon einfallen«, meinte Kalle voller Zuversicht und legte sich, den Umstanden entsprechend, so bequem wie moglich zurecht.
        Bei Jonte wurde das Verhor fortgesetzt. »Gefangener, ich gebe dir eine letzte Chance, dein widerliches Leben zu retten«, sagte Sixtus und ri? unbarmherzig an Anders’ Arm. »Wo habt ihr den Gro?mummrich verborgen?«

»Vergeblich erkundigst du dich!« antwortete Anders. »Seit undenklichen Zeiten halten die Wei?en Rosen ihre machtige Hand uber den Gro?mummrich. Nie werdet ihr ihn finden, darauf kannst du springen und dir eins husten«, setzte er weniger hochtrabend hinzu.
        Kalle und Eva-Lotte nickten drau?en auf ihrem Aussichtspo-sten stumm Beifall. Sixtus, Benka und Jonte aber sahen aufrichtig verargert aus.

»Wir werden ihn uber Nacht in meine Garage setzen mussen, damit er weich wird«, meinte Sixtus.

»Hahaha«, lachte Anders. »Wie Kalle und Eva-Lotte, wie?
        Die sind auch in funf Minuten geflohen, wie ich gehort habe.
        Genauso werde ich fliehen.«
        Die Roten Rosen wurden etwas nachdenklich. Es blieb ein Ratsel, wie es Kalle und Eva-Lotte gegluckt war, aus ihrem Gefangnis zu entkommen. Es wirkte beinahe unnaturlich. Anders gegenuber aber tat man ungeruhrt.

»Bilde dir nur nicht ein, da? du ein Ausbrecherkonig bist«, sagte Sixtus. »Wo wir dich einsperren, da bleibst du auch. Zuerst aber mochten wir von dir noch etwas uber diese Geheimsprache wissen. Du bekommst Strafnachla?, wenn du uns die Losung gibst.«

»Kaum«, sagte Anders.

»Sei nun nicht halsstarrig«, versuchte Sixtus. »Du kannst doch wohl etwas sagen. Meinen Namen zum Beispiel. Wie hei?e ich in eurer Sprache?«

»Kok non a lol lol kok o pop pop«, sagte Anders bereitwillig und lachelte ironisch vor sich hin, um Sixtus fuhlen zu lassen, da? es sich um eine Verunglimpfung handelte. So schwer es ihm auch wurde, zu ubersetzen wagte er nicht - sonst hatte er den Schlussel zur Raubersprache preisgegeben. Daher lachelte er nur noch einmal ironisch, und drau?en auf dem Dach stimmten seine Bundesgenossen herzlich und etwas lauter in das Lacheln ein. Es hatte dem Chef Freude gemacht, wenn er es gewu?t hatte. So aber waren er und die Roten vorlaufig noch ohne Wissen um die unsichtbaren Zuschauer.
        Sixtus knirschte in ohnmachtiger Wut mit den Zahnen. Es fing an fur die Roten peinlich zu werden, und dieses Lolen und Koken, das sie nicht begriffen, konnte bei jedem von ihnen krampfartige Zustande hervorrufen. Den Chef der Wei?en Rosen hatten sie zwar gefangen; aber sie wu?ten kaum, was sie mit ihm machen sollten. Geheimnisse wollte er nicht ausplaudern, und die Roten Rosen lie?en sich unter keinen Umstanden dazu herab, korperliche Gewalt anzuwenden, um Gestandnisse zu er-zwingen. Gewi? prugelten sie sich oft, da? es nur so rauchte; aber das war in ehrlichem Kampf drau?en auf dem Schlachtfeld.
        Sich aber drei gegen einen uber einen wehrlosen Gefangenen werfen, das gab es einfach nicht.

»Ubrigens - wo habt ihr den Gro?mummrich gelassen?«
        fragte Sixtus plotzlich wieder in der Hoffnung, Anders zu uberrumpeln.

»Ja, wo habt ihr den Gro?mummrich gelassen?« fragte auch Jonte und piekte Anders auffordernd in die Seite. Anders kicherte auf und krummte sich wie ein Wurm. Er war namlich au?erst kitzlig.
        Als Sixtus das sah, legte sich ein verklartes Lacheln auf sein Gesicht. Er war ein Edelmann der Roten Rose und pflegte seine Gefangenen nicht zu qualen. Wer aber hatte gesagt, da? man sie nicht kitzeln durfte? Versuchsweise stach er einen spielerischen Zeigefinger in Anders’ Magengrube. Es gluckte uber alles Erwarten. Anders prustete los wie ein Flu?pferd und krummte sich doppelt und dreifach. Nun kam Leben in die Roten. Alle auf einmal warfen sie sich uber ihr Opfer. Und der arme Wei?e Chef stohnte, winselte und hatte Schluckauf vor Lachen.

»Wo habt ihr den Gro?mummrich gelassen?« fragte Sixtus noch einmal und tastete prufend zwischen den Rippen von Anders herum.

»Oh … oh … oh … oh …« keuchte Anders.

»Wo habt ihr den Gro?mummrich gelassen?« Benka kitzelte ihn ausgiebig unter der Fu?sohle.
        Als Antwort horte er eine Lachkaskade.

»Wo habt ihr den Gro?mummrich gelassen?« wollte nun auch Jonte wissen und fingerte in Anders’ Kniekehle.

»Ich … gebe … auf …« winselte Anders. »Drau?en auf der Prarie … beim Herrenhof … geht den … kleinen Weg …«

»Und weiter?« fragte Sixtus und hielt warnend seinen Zeigefinger in Bereitschaft.
        Aber es gab kein Weiter. Es geschah etwas vollig Unerwartetes. Man horte ein kurzes Sausen, einen kleinen Knall - und dann lag Jontes Kammer in wahrhaft agyptischer Finsternis da.
        Die Gluhbirne unter der Decke, die einzige Beleuchtung fur Jontes Kammer, war in tausend Stucke gesprungen. Der Wei?e Chef war genauso verblufft wie die Roten. Nur kam er schneller wieder zu sich. Im Schutz der Dunkelheit glitt er wie ein Aal zur Tur und verschwand. Er war frei.
        Oben auf dem Dach steckte Kalle nachdenklich sein Katapult wieder in die Hosentasche.

»Ich werde Geld aus meinem Sparschwein nehmen und eine neue Birne fur Jonte kaufen«, meinte er reumutig. Beschadi-gung von fremdem Eigentum war etwas, was einem edlen Ritter der Wei?en Rose schlecht anstand, und es war deshalb fur Kalle vollkommen klar, da? der Schaden zu ersetzen war.

»Aber du verstehst doch wohl, da? es notwendig wurde«, sagte er zu Eva-Lotte.
        Eva-Lotte nickte zustimmend. »Es war absolut notwendig«, beruhigte sie ihn. »Unser Chef war in gro?er Gefahr. Und der Gro?mummrich auch. Es war also wirklich notig.«
        Bei Jonte hatten sie inzwischen eine Taschenlampe hervorge-kramt. Mit Verbitterung stellten die Roten fest, da? ihr Gefangener entwischt war.

»Verschwunden!« schrie Sixtus und raste zum Fenster.

»Welcher verdammte Lausepudel hat die Lampe zerschossen?«
        Er hatte nicht zu fragen brauchen. Die Sunder standen, zwei schwarze schmale Silhouetten, auf dem Dach gegenuber. Die Silhouetten begannen einen schnellen Ruckzug. Sie hatten soeben Anders’ Pfeifsignal gehort und verstanden, da? er frei war.
        Nun sausten sie in lebensgefahrlicher Hast uber das Dach. Es galt, von dem Dach herunter und in Sicherheit zu kommen, bevor die Roten unten waren, um sie in Empfang zu nehmen. Sie liefen ohne Furcht im Dunkel den Dachfirst entlang und bewegten sich mit der Geschmeidigkeit, die ein wildes und gluckliches Leben ihren mutigen jungen Korpern geschenkt hatte.
        Sie erreichten die Leiter und kletterten in rasender Eile abwarts.
        Eva-Lotte zuerst, danach Kalle, dicht hinterdrein. An Gren dachten sie uberhaupt nicht mehr. Ihre Gedanken waren bei den Roten. Grens Fenster war ohne Licht. Der Fremde schien gegangen zu sein.

»Beeile dich, ich hab’s eilig«, flusterte Kalle instandig uber Eva-Lotte.
        Da fuhr mit einem Knall Grens Jalousie in die Hohe, und der Alte sah heraus. Das geschah so unerwartet und erschreckte sie so furchtbar, da? Kalle plotzlich seinen Halt verlor. Mit kra-chendem Plumps schlug er unten auf und hatte beinahe Eva-Lotte mit sich gerissen.

» So eilig hast du es nun doch wieder nicht«, sagte Eva-Lotte sarkastisch. Sie hielt sich krampfhaft an der Leiter fest, um nicht auch noch hinunterzufallen, und wandte dabei Gren ein bitten-des Gesicht zu.
        Gren aber sah mit seinen traurigen Greisenaugen auf Kalle, der am Boden lag und nach Luft schnappte, und sagte mit noch traurigerer Greisenstimme: »Ja, ja, der Kindheit gluckliche Spiele. Der Kindheit gluckliche, unschuldige Spiele. Ja, ja.«
        SECHSTES KAPITEL
        Eva-Lotte und Kalle hatten keine Zeit, Gren zu erklaren, warum sie seine Leiter benutzten, und er selbst schien nichts sonderlich Bemerkenswertes oder Unnaturliches daran zu finden.
        Wahrscheinlich sah er ein, da? der Kindheit gluckliche, unschuldige Spiele es ab und zu erforderlich machten, hier und dort in der Nachbarschaft auf Leitern und auf Dachern herumzuklettern. Kalle und Eva-Lotte verabschiedeten sich hastig und liefen davon, so schnell sie konnten. Aber Gren schien es nicht zu bemerken. Er seufzte nur still in sich hinein und lie? die Jalousie herunter.
        In der dunklen Gasse hinter Grens Haus vereinigten sich die drei Streiter der Wei?en Rose. Sie druckten sich die Hande, und der Chef sagte: »Gut gemacht, ihr Tapferen!«
        Dann aber galt es zu fliehen. Schon horte man am andern Ende der Gasse einen Larm, der standig an Starke zunahm. Das waren die Roten, die endlich zur Besinnung gekommen waren und nun nach Rache schrien.
        Um diese Zeit waren die Bewohner des Rackerberges schon zu Bett gegangen und schliefen. Nun schossen sie schlaftrunken und aufgescheucht in ihren Betten hoch. War es die Wilde Jagd, die dort drau?en voruberraste? Ach, es waren nur drei edle Ritter der Wei?en Rose, die mit gewaltigen Sprungen uber das Kopfsteinpflaster der Gasse setzten. Und funfzig Meter hinter ihnen taten drei gleich edle Ritter der Roten Rose dasselbe. Deren Sprunge waren nicht minder gewaltig, und deren gellende und giftige Schreie hatten eine Tragweite, die kaum von der modernsten Feuerwehrsirene erreicht wurde.
        Kalle fuhlte ein wildes Entzucken in der Brust, als er so durch das Dunkel lief. Das war ein Leben - oh, fast so spannend wie Verbrecher fangen. Verbrecher fangen konnte man nur in der Phantasie. In Wirklichkeit gab es sicher keine, so wie es zur Zeit hier aussah. Aber das hier war Wirklichkeit: das Drohnen der Fu-
        - e der Verfolger hinter ihm, Anders’ und Eva-Lottes keuchende Atemzuge, das holprige Stra?enpflaster unter seinen Sohlen, die dunklen kleinen Gassen und die duster lockenden Hofe und Schlupfwinkel, wo man sich verstecken konnte - ja, das alles zusammen war herrlich, und es wurde eine spannende Jagd werden.
        Das Allerschonste aber war, zu spuren, wie genau sein Korper ihm gehorchte, wie schnell seine Beine sich bewegten und wie leicht sein Atem ging. So hatte er die ganze Nacht laufen konnen. Er fuhlte sich kraftig genug, einer ganzen Koppel von Bluthunden zu entlaufen, wenn es notig sein sollte. Es fiel ihm ein, da? es noch spannender ware, allein gejagt zu werden.
        Dann konnte man seine Verfolger noch mehr reizen und auf die eine oder andere Weise noch kuhner manovrieren.

»Versteckt euch«, sagte er schnell zu Anders und Eva-Lotte.
        Anders fand diesen Vorschlag gro?artig. Alle Moglichkeiten, die Roten anzufuhren, waren herzlich willkommen. Als sie die nachste Ecke erreicht hatten, tauchten deshalb Anders und Eva-Lotte blitzschnell in einem Torweg unter und blieben dort still, wenn auch heftig atmend, stehen. Es brauchte einige Sekunden, bevor die Roten um die Ecke kamen. Sie liefen so nahe an Anders und Eva-Lotte vorbei, da? man sie beinahe hatte anfassen konnen.

»Anzufuhren wie Kleinkinder«, stellte Anders fest. »Waren wohl noch nie im Kino, um zu sehen, wie man so was macht.«

»Aber fur Kalle wird es schwer werden«, sagte Eva-Lotte und horchte nachdenklich auf das Gerausch der springenden Fu?e, das jetzt in der Dunkelheit davonlief. Drei bose rote Wolfe, die ein armes, zartes wei?es Kaninchen hetzen, dachte sie und war ganz erfullt von plotzlichem Mitleid.
        Eine Weile dauerte es, bis die Roten bemerkten, da? ihnen ein Teil ihrer Beute entging. Aber da war es bereits zu spat. Das einzige, was sie tun konnten, war, ihre Jagd auf Kalle fortzusetzen.
        Keiner kann sagen, da? sie nicht das Au?erste leisteten. Sixtus lief wie ein Besessener, und wahrend er lief, schwor er sich hoch und heilig, da?, wenn Kalle diesmal seinem Schicksal entsprin-gen sollte, er, Sixtus, sich einen knallroten Vollbart stehen lassen wurde als au?eres Zeichen seiner erbarmlichen Niederlage.
        Er dachte allerdings nicht weiter daruber nach, wie er es anstellen sollte, den Bart auf seinem kahlen Jungengesicht zum Sprie-
        - en zu bringen, - er lief und lief.
        Das tat Kalle auch. Hin und her in den Gassen des ganzen Rackerberges und immer in wohluberlegten Winkelsprungen.
        Nie war sein Vorsprung so gro?, da? er seine Verfolger abschutteln konnte. Vielleicht wollte er es auch nicht. Sie folgten ihm dicht auf den Fersen, und die ganze Zeit hatte er seine Freude daran, sie sich so nahe zu halten, da? es gefahrlich schien.
        Es war uberall still. Aber durch diese Stille klang plotzlich das Gerausch eines Automotors, der irgendwo in der Nahe angelas-sen wurde. Das setzte Kalle in Erstaunen; denn Autos waren eine Seltenheit auf dem Rackerberg. Ware der Meisterdetektiv nur nicht so mit dem Krieg der Rosen beschaftigt gewesen und hatte er nicht den Schwarm von Roten Rosen an den Fersen gehabt, so hatte er sicherlich versucht, einen Schimmer von dem Auto zu erwischen. Denn das hatte er seinem erdachten Zuhorer oft genug eingescharft: »Man kann nicht aufmerksam genug sein, wenn es unerwartete Erscheinungen betrifft.« Leider war jetzt der Meisterdetektiv, wie gesagt, zum Militardienst einberufen, und er sturmte blindlings weiter, nur schwach an dem Auto interessiert, das sich deutlich entfernte und verschwand.
        Sixtus fing an ungeduldig zu werden. Jonte, der den Schulre-kord uber hundert Meter hielt, sollte einen gunstigen Augenblick abpassen und versuchen, Kalle zu kreuzen und in Sixtus’ wartende Arme zu treiben.
        Und der gunstige Augenblick kam. Es gab an einer Stelle eine Sackgasse, und da nahm Jonte seine Chance wahr: In diese Richtung sollte Kalle abbiegen. So geschah es zu Kalles Uberraschung, da? er plotzlich in seinem Lauf durch Jonte, der wie aus dem Nichts vor ihm auftauchte, abgestoppt wurde. Er wagte nicht, sich durchzuschlagen, denn selbst wenn ihm dies glucken sollte, wurde es doch so viele kostbare Sekunden kosten, da? Sixtus und Benka es geschafft hatten, zu Jontes Unterstutzung heranzukommen.

»Na«, schrie Sixtus aus weniger als zehn Schritt Entfernung,

»jetzt bist du reingefallen, jetzt knallt es, glaube ich!«

»Denkst du dir so«, sagte Kalle und schwang sich im letzten Bruchteil einer Sekunde uber den Zaun, der die Stra?e nach der einen Seite abgrenzte.
        Er landete in einem dunklen Hof, und schnell wie ein aufgescheuchter Troll rannte er quer hinuber. Die Roten waren ihm auf den Fersen! Er horte dumpf, wie sie uber den Zaun setzten.
        Aber er blieb nicht stehen, um zu horchen. Er war zu sehr damit beschaftigt, nach einer Gelegenheit auszuspahen, wie er wieder auf die Stra?e hinauskommen konnte, ohne hier an der anderen Seite uber den Zaun zu mussen. Denn wie nun auch der Besitzer dieses Zaunes hei?en mochte - er hatte auf jeden Fall eine sehr verkehrte Einstellung zu dem Krieg zwischen den Wei?en und Roten Rosen. Sonst hatte er bestimmt nicht seinen Zaun mit einem so widerlichen Stacheldraht gesichert.

»Lieber Himmel, was tue ich nur?« flusterte Kalle ratlos vor sich hin. Zeit zum Uberlegen hatte er nicht. Was geschehen sollte, mu?te augenblicklich geschehen. Er kroch schnell hinter eine Kehrichttonne und hockte dort mit wild klopfendem Herzen. Vielleicht gab es den Schimmer einer Moglichkeit, da? ihn die Roten nicht entdeckten. Aber sie waren absolut in seiner Nahe. Sie flusterten halblaut miteinander und suchten, suchten nach ihm in der Dunkelheit.

»Uber den Zaun kann er nicht geklettert sein«, sagte Jonte.

»Sonst wurde er noch im Stacheldraht hangen. Das wei? ich genau - ich habe Erfahrung, weil ich es selbst einmal versucht habe.«

»Der einzige Ausgang aus dem Hof ist dort durch die Veranda des Hauses«, sagte Sixtus.

»Die Veranda der alten Karlsson - schrecklich!« stohnte Jonte, der den Rackerberg und seine Bewohner nach Strich und Faden kannte. »Die alte Karlsson ist wie eine giftige Spinne -schrecklich!«
        Was ist schlimmer, dachte Kalle hinter seiner Tonne, von den Roten oder von der Karlsson geschnappt zu werden? Das mochte ich zu gern wissen. Die Roten suchten weiter.

»Ich bin sicher, da? er hier irgendwo auf dem Hof steckt«, beteuerte Benka. Er schnuffelte uberall umher, und schlie?lich entdeckte er Kalles Schatten hinter der Kehrichttonne.
        Benkas Jubelschrei, wild, aber gedampft, erweckte neues Leben in Sixtus und Jonte. Noch mehr: erweckte es auch bei Frau Karlsson! Diese Dame war schon seit geraumer Zeit durch eigenartiges Gepolter in ihrem Hinterhof beunruhigt worden, und sie war nicht gewillt, das eigenartige Gepolter in ihrem Hinterhof zu dulden, wenn sich dagegen etwas tun lie?.
        Kalle hatte sich zu diesem Zeitpunkt dafur entschieden, da? selbst das gro?te Risiko immer noch besser war, als von den Roten gefangengenommen zu werden, und mochte daraus auch ein ausgewachsener Hausfriedensbruch bei der auf dem Rackerberg am meisten gefurchteten Person entstehen. Er entglitt mit einigen Millimetern Zwischenraum Sixtus’ greifenden Fausten und setzte mit einem Hechtsprung in Frau Karlssons Veranda, um von dort weiter auf die Stra?e zu schlupfen. Aber jemand kam ihm in der Dunkelheit entgegen. Und dieser Jemand war Frau Karlsson! Sie war in personlicher Angelegenheit unterwegs: Sie wollte dem geheimnisvollen Gepolter ein Ende bereiten, gleichviel, ob Ratten oder Einbrecher oder seine Majestat der Konig selbst die Urheber waren. Frau Karlsson war namlich der Meinung, da? auf gerade diesem Hinterhof kein anderer berechtigt war, geheimnisvoll zu poltern als nur sie selbst.
        Als Kalle wie ein aufgeschreckter Hase angesaust kam, war Frau Karlsson allerdings so uberrascht, da? sie ihn vor Erstaunen glatt an sich vorbeilie?. Aber ihm auf den Fersen folgten Sixtus und Benka und Jonte, und sie alle landeten in Frau Karlssons ausgebreiteten Armen. Sie pre?te sie an sich und schrie mit der Stimme eines Feldwebels:

»Aha, hier rennen kleine Strolche umher! Auf meinem Grund und Boden! Das geht zu weit! Das geht entschieden zu weit!«

»Verzeihung«, sagte Sixtus, »wir wollten nur …«

» Was wolltet ihr nur?« schrie Frau Karlsson. »Was wolltet ihr nur … nur auf meinem Hof - was?«
        Mit einiger Muhe gelang es den dreien, sich aus ihrer eisernen Umarmung zu befreien.

»Wir wollten nur …« stammelte Sixtus, »wir wollten … Wir haben uns verirrt … Es war so dunkel, ja!«
        Und damit rannten sie weiter, ohne auf Wiedersehen zu sagen.

»So! Versucht es nur, euch noch einmal auf meinem Hof zu verirren!« rief ihnen Frau Karlsson nach. »Dann werde ich euch von der Polizei auf den rechten Weg bringen lassen - damit ihr es wi?t!«
        Aber die Roten Rosen horten nichts mehr. Sie waren schon drau?en auf der Stra?e. Wo war jetzt Kalle? Sie blieben stehen und horchten. In einiger Entfernung horten sie das leichte Tapp-Tapp seiner Fu?e und folgten ihm schnell.
        Zu spat entdeckte Kalle, da? er wieder in einer Sackgasse war. Diese kleine Stra?e endete ja unten am Flu? - das hatte er vergessen! Naturlich konnte er sich ins Wasser sturzen und an das andere Ufer schwimmen, aber das brachte unnotigen Arger wegen der nassen Kleider mit sich, wenn man nach Hause kam.
        Auf jeden Fall wollte er erst andere noch mogliche Auswege bedenken.
        Friedrich mit dem Fu?! Das war der rettende Gedanke.
        Friedrich mit dem Fu? wohnt in dem kleinen Haus. Er wird mich sicher verstecken, wenn ich ihn darum bitte. Friedrich mit dem Fu? war der gutmutigste Strolch der Stadt und ein gro?er Gonner der Wei?en Rosen. Wach war er noch, denn es schien Licht aus seinem Fenster. Ein Auto stand vor der Tur.
        Merkwurdig, wie viele Autos heute abend auf dem Rackerberg waren! Hatte er dieses vorhin gehort? wunderte sich Kalle.
        Lange Zeit zum Uberlegen hatte er aber nicht. Schon horte er, wie seine Feinde die Stra?e entlanggaloppierten. Er besann sich also nicht mehr lange, sondern ri? die Tur zu Friedrichs Wohnung auf und sturzte hinein.

»Guten Abend, Friedrich«, begann er eilig, unterbrach sich aber sofort. Friedrich war nicht allein. Friedrich lag in seinem Bett, und bei ihm sa? Doktor Forsberg und fuhlte Friedrichs Puls. Und Doktor Forsberg, der Stadtarzt, war niemand anders als Benkas Vater.

»Ergebenster Diener, Karlchen«, sagte Friedrich mit dem Fu? matt. »Hier liegt ein fremder Friedrich. Elend und schlechter als schlecht. Sterbe sicher bald. Du solltest nur mal horen, wie es in meinem Bauch rumort.«
        Bei anderer Gelegenheit ware es fur Kalle ein Vergnugen gewesen zu horen, wie es in Friedrichs Bauch rumorte, aber im Augenblick war es das nicht. Doktor Forsberg schien ein wenig nervos uber die Unterbrechung, und Kalle konnte verstehen, da? er mit Friedrich allein sein wollte, wenn er ihn untersuchte.
        Es blieb ihm anscheinend nichts anderes ubrig, als sich erneut in die Gefahren der Stra?e zu sturzen.
        Aber Kalle hatte die Intelligenz der Roten unterschatzt. Sie rechneten sich sofort aus, da? er zu Friedrich geflohen war, und nun kamen sie eilends hinterher. Benka war der erste. »Ha, du Lausepudel, habe ich dich endlich auf frischer Tat ertappt?
        schrie er.
        Doktor Forsberg wandte sich um und sah direkt in das erhitz-te Gesicht seines Sohnes. »Sprichst du mit mir?« fragte er.
        Benkas Kinnlade verlor vor Besturzung ihren Halt - antworten konnte er nicht.

»Handelt es sich um eine Art Stafettenlauf durch Friedrichs Krankenzimmer«, fuhr Doktor Forsberg fort, »oder warum rennst du so spat noch umher?«

»Ich … ich … ich wollte nur sehen, ob du einen Krankenbesuch machst«, sagte Benka endlich.

»Ja, ich mache einen Krankenbesuch«, versicherte ihm sein Vater. »Du hast also tatsachlich, wie du sagtest, den Lausepudel auf frischer Tat ertappt. Aber jetzt ist er fertig, und du gehst mit ihm nach Hause.«

»Nein … aber … Vater!« schrie Benka in hochster Verzweiflung.
        Doktor Forsberg schlo? in aller Ruhe seine Tasche und griff sodann mild, aber fest in Benkas helles Kraushaar.

»Komm nun, mein Kleiner«, sagte er. »Gute Nacht, Friedrichs-son. Vorlaufig sterben Sie noch nicht. Das kann ich Ihnen versprechen.«
        Wahrend des ganzen Gesprachs hatte Kalle abseits gestanden, und uber sein Gesicht legte sich ein Lacheln, das langsam breiter und breiter wurde. Welch ein Pech fur Benka, welch ein gro?artiges Pech! Genau in die Arme seines Vaters zu laufen!
        Nach Hause gefuhrt zu werden wie ein Baby! Gerade jetzt, wo er Kalle schnappen wollte. Das sollte Benka noch oft im Krieg der Rosen schlucken mussen. »Komm nun, mein Kleiner« -mehr brauchte man gar nicht zu sagen.
        Und Benka, als er von starken Vaterarmen zur Tur gefuhrt wurde, empfand dies in seiner ganzen Entsetzlichkeit. Oh, ganz bestimmt, diesmal wurde er einen
»Leserbrief« an die Ortszeitung senden: »Mu? man Eltern haben?« Gewi?, er hatte nichts gegen Vater und Mutter. Er schatzte sie sehr. Aber diese un-wahrscheinliche Punktlichkeit, mit der Eltern stets im unpas-sendsten Augenblick auftauchten, konnte ja das friedlichste Kind zur Raserei bringen.
        Sixtus und Jonte kamen schnaubend die Stra?e entlang, und Benka flusterte ihnen zu: »Er ist dort drinnen.«
        Danach wurde Benka zu dem wartenden Auto gefuhrt - warum, ach, warum hatte er es nicht vorher gesehen? -, und Sixtus und Jonte starrten ihm nach, die Augen angefullt mit einem Mitleid ohnegleichen.

»Armer Kerl«, sagte Jonte und seufzte tief.
        Dann aber war keine Zeit mehr fur Mitleid und Seufzen.
        Dreifache Schmerzen uber die Wei?en Rosen, die sie andau-ernd foppten! Kalle mu?te erwischt werden, und das sofort, auf der Stelle! Sixtus und Jonte flitzten hinein zu Friedrich. Dort aber war kein Kalle zu sehen.

»Hallo, Sixtus! Hallo, kleiner Jonte«, sagte Friedrich schwach. »Ihr solltet nur horen, wie es in meinem Bauch rumort. Krank und schlechter als schlecht …«

»Friedrich, hast du Kalle Blomquist gesehen?« unterbrach ihn Sixtus.

»Den Kalle? Ja, der war eben noch hier. Er ist aus dem Fenster gesprungen«, sagte Friedrich und lachelte verschmitzt.
        So, der Schurke war aus dem Fenster gesprungen! Richtig, Friedrichs beide Fenster waren geoffnet, und die Gardinen flat-terten im Abendwind.

»Komm, Jonte!« schrie Sixtus aufgeregt. »Hinterher! Es geht um Sekunden!« Und mit einem Hechtsprung sauste jeder aus einem Fenster. Es ging, wie gesagt, um Sekunden.
        Im selben Moment horte man Geplansche und Gebrull. Sogar Jonte, der doch auf dem Rackerberg geboren war, hatte vergessen, da? die Ruckwand von Friedrichs Haus direkt am Flu? stand.

»Kalle, komm jetzt raus«, sagte Friedrich matt, »damit du horen kannst, wie es in meinem Bauch rumort.« Und Kalle kletterte aus dem Wandschrank, vor Vergnugen zitternd. Er lief zum Fenster und beugte sich hinaus.

»Seid ihr sicher, da? ihr schwimmen konnt?« rief er. »Oder soll ich euch Korkwesten holen?«

»Es genugt, wenn du uns deinen Korkschadel herschmei?t!«
        Sixtus war wutend und spritzte einen kraftigen Wasserstrahl in Kalles lachendes Gesicht. Kalle wischte sich unbekummert das Wasser ab und sagte:

»Scheint mollig warm zu sein in der Bruhe. Ich denke, ihr solltet eine nervenstarkende Schwimmstunde einlegen.«

»Nee, kommt rein zu mir«, rief Friedrich matt und schwach.

»Kommt rein. Dann konnt ihr horen, wie es bei mir im Bauch rumort.«

»Hej, jetzt haue ich ab«, rief Kalle.

»Ja, hau nur ab, ehe ich dich abhaue«, sagte Jonte bitter und nahm Kurs auf ein Waschhaus in der Nahe. Die Jagd war zu Ende. Sixtus und Jonte wu?ten das wohl.
        Kalle verabschiedete sich von Friedrich und begab sich auf frohen und leichten Fu?en nach Hause und in den Nachbargar-ten zu Eva-Lotte. Auf dem Boden uber der Backerei hatten die Wei?en Rosen noch immer ihr Hauptquartier, und aus einer der Bodenluken am Giebel hing noch immer das Seil herab. Da sich ein Ritter der Wei?en Rose nicht eines so simplen Weges, wie es die Treppe war, bedienen konnte, kletterte Kalle pflicht-gema? am Seil hoch, und als Anders und Eva-Lotte ihn horten, steckten sie eilends die Kopfe durch die offene Bodenluke.

»Aha, du hast es geschafft«, sagte Anders zufrieden.

»Ja, ihr sollt gleich horen«, sagte Kalle.
        Uber das Hauptquartier, wo allerlei Plunder sich an den Wanden drangte, warf eine Taschenlampe ihren durftigen Schein. In diesem Schein sa?en die drei Wei?en Rosen mit gekreuzten Beinen und genossen die Geschichte von Kalles wun-dersamer Rettung.

»Gut gemacht, mein Tapferer«, lobte Anders, als Kalle aufgehort hatte.

»Fur den ersten Kriegstag, finde ich, hat die Wei?e Rose tadellos abgeschnitten«, sagte Eva-Lotte.
        Da horte man eine Frauenstimme: »Eva-Lotte, wenn du nicht augenblicklich hereinkommst und zu Bett gehst, bitte ich Vater, da? er dich holt.«

»Ja, ja, ich komme«, antwortete Eva-Lotte, und ihre treuen Mitkampfer erhoben sich, um zu gehen.

»Also wir sehen uns dann morgen«, sagte Eva-Lotte und lachte zufrieden in sich hinein. »Die Rotlichen dachten, sie konnten den Gro?mummrich erwischen, hahaha!«

»Da haben sie sich aber schon in den Finger geschnitten«, meinte Kalle, ebenfalls lachend.

»Siehe, in dieser Nacht, da fingen sie nichts«, sagte Anders und lie? sich ubertrieben wurdevoll als letzter am Seil herab.
        SIEBTES KAPITEL
        Kann es wohl auf der Welt einen Platz geben, der noch schlafriger, ruhiger und an Sensationen armer ist als diese kleine Stadt?
        dachte Frau Lisander. Aber wie sollte auch in einer solchen Hitze etwas passieren? Sie schlenderte langsam zwischen den Marktstanden umher und wahlte zerstreut unter den Waren, die dort fur die Beschauer ausgebreitet lagen. Es war Markttag, und viele Menschen waren auf den Stra?en und dem Markt, und eigentlich hatte die ganze Stadt vor Leben und Treiben bersten mussen. Aber das tat sie nicht. Sie duselte wie immer. Das Wasser im Springbrunnen vor dem Rathaus rieselte schlafrig und leise aus dem Rachen der Bronzelowen, und die Bronzelowen selbst sahen auch schlafrig aus. Die Musik im Konditoreigarten unten am Flu? spielte schlafrig und leise eine Art Nachtmusik -mitten am hellen Vormittag. Die Sperlinge, die zwischen den Tischen heruntergefallene Kuchenkrumel aufpickten, hupften hier und da mit kleinen aufgedunsenen Sprungen, aber auch sie sahen schlafrig aus.
        Alles schlafrig hier, dachte Frau Lisander.

»Es scheint, als wolle es ein Gewitter geben«, sagten die Menschen zueinander.
        Da kam Eva-Lotte angesprungen. Endlich ein Mensch, der nicht schlafrig aussieht! dachte Frau Lisander. Sie betrachtete ihre kleine Tochter zartlich und fing in ihrem Blick alle Einzelheiten auf: das frohliche Gesicht, die munteren blauen Augen, das blonde zerzauste Haar und die langen braungebrannten Beine, die unter einem hellen, frisch gebugelten Sommerkleid hervorsahen.

»Wo willst du hin?« fragte Frau Lisander und gab ihr eine Handvoll Kirschen.

»Das darfst du nicht wissen«, sagte Eva-Lotte, Kerne aus-spuckend. »Geheimer Auftrag! Ungeheuer geheimer Auftrag!«

»Aha! Na, sieh nur zu, da? du rechtzeitig zum Mittagessen zuruck bist.«

»Fur wen haltst du mich eigentlich?« fragte Eva-Lotte. »Ich bin noch nie zu einem Mittagessen zu spat gekommen, seit ich den Zwiebackbrei versaumte - damals am Tag meiner Taufe!«
        Frau Lisander lachte ihr zu. »Du bist mein Liebes«, sagte sie.
        Eva-Lotte nickte zu dieser selbstverstandlichen Tatsache und setzte ihre Reise uber den Markt fort. Kirschkerne markierten ihren Weg.
        Die Mutter stand noch einen Augenblick und sah ihr nach.
        Und auf einmal hatte sie ein angstliches Gefuhl in der Herzge-gend. Herr Gott, wie schmal war das Madchen im Genick! Wie sah sie auf irgendeine Weise doch so klein und hilflos aus. Es war wirklich nicht allzulange her, seit sie ihren Zwiebackbrei gegessen hatte, und nun lief sie da umher mit »geheimen Auftragen«! War das richtig? Sollte man nicht etwas besser auf sie achten?
        Frau Lisander seufzte und ging langsam heimwarts. Sie hatte das Gefuhl, da? die Warme sie bald verruckt machen wurde, und da war es doch wohl besser, sich in des eigenen Hauses Schutz und Mauern zu befinden.
        Eva-Lotte litt gar nicht unter der Hitze. Sie geno? sie genauso, wie sie das Treiben in den Stra?en und den Saft der herrlichen Kirschen geno?, der durch ihre Kehle rann. Es war Markttag, und sie mochte Markttage gern. Ja, wenn sie genau nachdachte, mochte sie alle Tage - au?er denen, an welchen in der Schule Handarbeitsstunde war. Aber jetzt waren ja Sommerferien!
        Sie bummelte langsam uber den Markt und die Kleine Stra?e hinunter zum Flu?, am Konditoreigarten vorbei und der Brucke zu. Eigentlich hatte sie nicht viel Lust, sich vom Zentrum der Ereignisse zu entfernen; aber da war der geheime Auftrag, und der mu?te ausgefuhrt werden. Der Chef hatte ihr namlich befohlen, den Gro?mummrich zu holen und an einen gunstigeren Platz zu bringen. Bei dem peinlichen Verhor hatte Anders ja beinahe verraten, wo der Gro?mummrich lag. Und man konnte wetten, da? die Roten jeden Quadratmillimeter Boden untersuchen wurden - dort unten am kleinen Pfad hinter dem Herren-haus. Da aber bislang noch kein Jubelschrei aus ihren Kehlen erklungen war, war es doch wohl sicher, da? der Gro?mummrich noch immer dort war, wo ihn die Wei?en hingelegt hatten.
        Oben auf einem gro?en Stein, genau neben dem Pfad, dort lag er in einer kleinen Vertiefung des Steins.
        Eigentlich war es ja schandlich einfach, ihn zu finden, meinte Anders. Es war nur eine Frage der Zeit, wann die Roten ihre Krallen um das kostbare Kleinod schlagen wurden. Da aber heute Markt war, durfte man annehmen, da? Sixtus und Benka und Jonte am Karussell und an der Schie?bude unten auf dem Rummelplatz hinter der Eisenbahnstation festklebten. Heute hatte Eva-Lotte die Chance, den Gro?mummrich ungestort von seinem nunmehr recht unsicheren Aufbewahrungsplatz holen zu konnen. Der Chef hatte au?erdem schon den neuen Platz fur das Kleinod bestimmt: oben in der Schlo?ruine bei dem Brunnen im Burghof. Das bedeutete, Eva-Lotte sollte in der druk-kenden Gewitterschwule zuerst den langen Weg uber die Prarie machen, dann wieder zuruck quer durch die ganze Stadt und danach den steilen Weg zur Ruine empor, die in ansehnlicher Hohe uber der Stadt und genau entgegengesetzt vom Herrenhof lag. Tatsachlich, man mu?te schon ein hingegebener Ritter der Wei?en Rose sein, um sich derartiger Muhsal ohne Murren zu unterziehen. Und Eva-Lotte war hingegeben.
        Warum wurde ubrigens ausgerechnet Eva-Lotte dieser Auftrag erteilt? Hatte der Chef nicht Kalle schicken konnen? Nein, ein Vater ohne Einsicht hatte aus Kalle an diesem wichtigen Tag einen Laufburschen und Aushilfsverkaufer fur das Lebensmittelgeschaft gemacht. Denn heute kamen die Bauern in die Stadt, um ihre Vorrate an Einmachzucker, Kaffee und Salzheringen zu erganzen. Hatte da der Chef der Wei?en Rose nicht selbst gehen konnen? Nein, der Chef mu?te seinen Vater in der Schuhmacherwerkstatt vertreten. Es gefiel dem Schuhmachermeister Bengtsson nicht, an Markttagen zu arbeiten und dadurch den Tag zu entweihen. An solchen Tagen nahm er sich frei und »fei-erte«. Deshalb konnte aber nicht die Werkstatt geschlossen sein.
        Es konnte doch, obwohl Markttag war, jemand kommen und Schuhe bringen, oder es konnte jemand kommen und Schuhe holen. Und deshalb hatte er seinem Sohn fest versprochen, ihn grun und blau zu schlagen, wenn er sich unterstehen wurde, auch nur funf Minuten aus der Werkstatt zu entweichen.
        Eva-Lotte, hingegebener Ritter der Wei?en Rose, ist es also, die den Auftrag bekommen hat, den geheimen und heiligen Auftrag, den verehrten Gro?mummrich von einem Versteck in das andere zu uberfuhren. Das ist nicht irgend so ein Auftrag, das ist eine rituelle Handlung, eine Mission. Was macht es da schon, da? die Sonne verzehrend uber der Prarie brennt und schwarzblaue Wolken sich am Horizont zusammenzuziehen beginnen? Was macht es da schon, da? man nicht am Marktleben teilnehmen kann, da? man »das Zentrum der Ereignisse« verlassen mu? - denn das tat sie doch, als sie bei der Brucke abbog und den Weg zur Prarie nahm …
        Tat sie das? Nein, das Zentrum der Ereignisse liegt nicht immer dort, wo das Markttreiben ist. An diesem Tag liegt das Zentrum der Ereignisse woanders. Und Eva-Lotte wandert gerade jetzt auf ihren nackten braunen Beinen genau hinein.
        Die Wolken dort fangen an, wirklich drohend auszusehen.
        Blauschwarz, ha?lich - sie machen einen geradezu etwas angstlich. Eva-Lotte geht langsam, denn hier drau?en auf der Prarie ist es so hei?, da? die Luft zittert.
        Hu, die Prarie ist so gro? und weit - es kostet ja eine Ewigkeit hinuberzukommen! Aber Eva-Lotte geht nicht allein in dem Sonnenbrand. Sie wird beinahe frohlich, als sie weit vor sich Gren, den Alten, entdeckt. Man kann sich nicht irren, man sieht, da? das Gren ist. Keiner trottet so wie er. Gren ist, wie es scheint, auch auf dem Weg zum Herrenhof. Sieh an, jetzt biegt er in den kleinen Pfad, der zwischen den Haselnu?strauchern entlangfuhrt, und verschwindet Eva-Lotte aus den Augen. Du gro?er Nebukadnezar, er ist doch wohl nicht etwa auch drau-
        - en, um den Gro?mummrich zu suchen - er auch! Eva-Lotte grinst sich eins bei diesem Gedanken.
        Dann aber blinzelt sie aufmerksam durch den Sonnendunst.
        Von der anderen Seite kommt noch jemand, jemand, der gewi? nicht aus der Stadt sein kann, weil er an dem Weg auftaucht, der sich am Herrenhof vorbei in das flache Land hineinschlangelt.
        Ach, das ist ja bestimmt der in den grunen Gabardinehosen!
        Klar, heute ist ja Mittwoch. Heute wollte er doch »seine Reser-ven einlosen« oder was er damals sagte, nein, seine »Reverse«, so hie?en die Dinger.
        Eva-Lotte uberlegt, wie es wohl sein mag, wenn man Reverse einlost. O ja, Prozenterei und Ahnliches, das ist sicher sehr verwik-kelt. Mit was fur Blodsinn sich gro?e Menschen beschaftigen …

»Wir treffen uns an der gewohnten Stelle«, hatte er gesagt, der Gabardinejunge. Hier ist das also, hier drau?en. Mu? es aber durchaus neben dem Gro?mummrich sein, wie? Gibt es keine anderen Straucher, wo die beiden sich treffen konnen, um zu prozenten? Nein, anscheinend nicht. Jetzt verschwinden die Gabardinehosen zwischen den Strauchern, sie auch.
        Eva-Lotte geht noch langsamer. Sie hat keine sonderliche Eile, und es ist wohl besser, wenn der Junge erst in Ruhe und Frieden seine Reverse einlosen kann, bevor sie den Gro?mummrich holt. Sie geht fur ein Weilchen in den Herrenhof hinein.
        Wahrend sie wartet, schnuffelt sie ein wenig in den Winkeln herum. Bald wird sicher der Herrenhof wieder Kriegsschauplatz sein, und dann kann es nur gut sein, hier Bescheid zu wissen.
        Sie sieht aus einem Fenster an der Ruckseite. Oh, der ganze Himmel ist schwarz! Die Sonne ist verschwunden, und von ferne hort man ein gehassiges Grollen. Die ganze Prarie sieht so unheimlich und verlassen aus. Sie mu? sich beeilen, sie mu? den Gro?mummrich holen, sie mu? nach Hause, bevor das Gewitter ausbricht.
        Und sie lauft zur Tur hinaus, sie lauft, so schnell sie kann, sie lauft hinein in den kleinen Pfad zwischen den Haselstrauchern, sie hort die ganze Zeit das gehassige Gewitter grollen, sie lauft weiter, lauft - - nein, jetzt halt sie plotzlich verwirrt an.
        Sie ist genau jemand in die Arme gelaufen, der von der entgegengesetzten Seite kam und es ebenso eilig hatte wie sie. Zuerst sieht sie nur die dunkelgrunen Gabardinehosen und das wei?e Hemd. Dann sieht sie auf und in sein Gesicht. Mein Gott, welch ein Gesicht! So bleich, so voller Angst - kann ein gro?er Kerl wirklich solche Angst vor dem Gewitter haben? Eva-Lotte hat fast Mitleid mit ihm.
        Aber es scheint, als wolle er gar nichts von ihr wissen. Er wirft ihr einen schnellen Blick zu, er sieht erschrocken und bose zugleich aus, und jetzt beeilt er sich, auf dem schmalen Pfad an ihr vorbeizukommen.
        Eva-Lotte mag es nicht, da? man sie auf diese Art ansieht -als sei sie etwas Lastiges. Sie ist es gewohnt, Gesichter aufleuchten zu sehen, wenn sie bemerkt wird. Und sie wunscht nicht, da? der Kerl verschwindet, ohne da? sie ihm irgendwie klarge-macht hat, da? sie ein freundlicher Mensch ist und wie ein solcher behandelt sein will.

»Verzeihung, wie spat ist es?« fragt sie deshalb hoflich, nur um etwas zu sagen und um zu zeigen - ja, da? sie doch eigentlich gut erzogene Menschen sind, wenn sie auch zwischen den Buschen zusammengesto?en sind.
        Der Mann zuckt zusammen und bleibt unwillig stehen. Zuerst scheint es so, als wolle er ihre Frage nicht beantworten; aber dann sieht er doch auf seine Armbanduhr und murmelt undeutlich: »Viertel vor eins.« Dann lauft er weiter. Eva-Lotte sieht ihm nach. Sie bemerkt, da? eine Menge Papier aus seiner Hosentasche heraussieht, aus einer seiner dunkelgrunen Gabar-dinehosentaschen.
        Nun ist der Mann verschwunden. Aber da liegt ein wei?es, zerknittertes Papier auf dem Weg. Er hat es in der Eile verloren. Eva-Lotte hebt es auf und liest neugierig. »Revers« steht ganz zuoberst darauf. Aha, so sehen also die Reverse aus, olala!
        War das nun schon etwas, um so ein Theater darum zu machen?
        Dann kracht es, kracht entsetzlich, und Eva-Lotte springt vor Schreck in die Luft. Eigentlich hat sie vor Gewittern keine Angst. Aber jetzt, gerade jetzt, hier drau?en, ganz allein auf der Prarie! Alles macht plotzlich so einen dusteren, unbehaglichen Eindruck. Zwischen den Strauchern hier ist es so dunkel. Und selbst in der Luft liegt etwas so Unheimliches, etwas so Unheilverkundendes. Ach, wenn man doch nur zu Hause ware! Sie mu? sich beeilen, riesig beeilen!
        Aber zuerst der Gro?mummrich! Ein Ritter der Wei?en Rose tut seine Pflicht, und wenn ihm auch das Herz bis in den Hals hinauf schlagt. Nur noch einige Schritte sind es bis zu dem Stein. Blo? noch an den Buschen vorbei.
        Eva-Lotte rennt …
        Zuerst kommt es nur wie ein Wimmern uber ihre Lippen. Vollkommen steif steht sie da, sieht, sieht und wimmert leise vor sich hin. Vielleicht, oh, vielleicht ist das hier alles nur ein Traum, ein boser Traum. Vielleicht liegt da gar nichts - nichts Zusammengesunkenes - dort - neben dem Stein - -
        Dann schlagt sie die Hande vors Gesicht, dreht sich um und lauft, und seltsam entsetzte Laute kommen aus ihrer Kehle. Sie rennt, obwohl die Beine unter ihr zittern. Sie hort nicht den Donner und spurt nicht den Regen, der ihr das Gesicht peitscht.
        Sie rennt, wie man in schweren Traumen rennt, um der unbekannten Gefahr hinter sich zu entkommen. Uber die Prarie.
        Uber die Brucke. Durch die bekannten Stra?en, die plotzlich leer und verlassen im Gewitterregen liegen.
        Zu Hause! Zu Hause! Endlich! Sie sto?t die Gartentur auf.
        Dort in der Backerei ist Vater. Dort steht er an seinen Blechen in seinem wei?en Backeranzug. Er ist gro? und ruhig wie immer, und man wird mehlig, wenn man in seine Nahe kommt.
        Vater ist immer derselbe, wenn die Welt auch sonst ha?lich und verandert ist, wenn es auch unmoglich geworden ist, in ihr noch zu leben. Wild wirft sich Eva-Lotte in seine Arme, pre?t sich an ihn, schlingt ihre Arme um seinen Hals, ganz fest, ganz fest, versteckt ihr tranenuberstromtes Gesicht an seiner Achsel und wimmert leise:

»Vater, lieber guter Vater! Hilf mir! Der alte Gren …«

»Kindchen, Kleines, was ist mit Gren?«
        Und noch leiser, fast erstickt, kommt es von Eva-Lottes Lippen: »Er liegt drau?en auf der Prarie - tot …«
        ACHTES KAPITEL
        War das die Stadt, die so schlafrig war, so ruhig und so still?
        Jetzt nicht mehr. Innerhalb einer Stunde hatte sich alles verandert. Die ganze Stadt summte wie ein Bienenschwarm, Polizeiautos fuhren hin und her, Fernsprecher klingelten, die Menschen redeten und ratselten herum und waren aufgeregt und wunderten sich und fragten Schutzmann Bjork, ob es wahr sei, da? man den Morder schon gefa?t habe. Und sie schuttelten bekummert die Kopfe und sagten: »Ja, ja, da? es dem armen alten Gren einmal so ergeben wurde …« Oder: »Ja, ja, es wurde so allerhand uber ihn gemunkelt … Wer sich mit dem Teufel abgibt … Jedenfalls kein Wunder, da? ihm das passiert ist …«
        Und: »Auf jeden Fall … eine entsetzliche Sache!«
        Ganze Scharen neugieriger Menschen stromten hinaus zur Prarie. Das ganze Gebiet um den Herrenhof aber war inzwischen durch die Polizei abgesperrt worden. Da kam niemand hindurch. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit hatte die Staatspolizei ihre Leute an den Tatort gebracht. Die Untersuchung war in vollem Gang. Alles wurde fotografiert, jeder Meter Boden wurde untersucht, jede Beobachtung protokolliert. Gab es Spuren des Morders, Fu?spuren oder andere? Nein, nichts! Wenn es jemals welche gegeben hatte, waren sie durch den heftigen Regen zerstort worden. Es fand sich nichts, nicht so viel wie ein weggeworfener Zigarettenstummel, als Spur des Verbrechers.
        Der Gerichtsarzt, der die gerichtsmedizinische Untersuchung der Leiche vornahm, stellte fest, da? Gren durch einen Schu? in den Rucken getotet worden war. Die Brieftasche und die Uhr wurden bei dem Ermordeten gefunden. Ein Raubmord schien nicht vorzuliegen.
        Der Kriminalkommissar hatte versucht, die »Kleine, die das Verbrechen entdeckt hatte«, zu sprechen; aber Doktor Forsberg lie? es nicht zu. Sie hatte einen Nervenschock erlitten und mu?te Ruhe haben. Der Kommissar war uber diese Verzogerung enttauscht; aber er mu?te sich dem arztlichen Verbot fugen.
        Doktor Forsberg konnte ihm allerdings erzahlen, da? das Madchen geweint und mehrere Male gesagt habe: »Er hat grune Gabardinehosen an.« Sie konnte damit nur den Morder meinen.
        Aber man konnte doch wohl nicht den Fahndungsdienst uber das ganze Land in Bewegung setzen - nur wegen ein Paar gruner Gabardinehosen. War es wirklich der Morder gewesen, den das Madchen gesehen hatte (fur den Kommissar war das nicht ganz sicher), so hatte er sicherlich jetzt seine grunen Hosen schon langst gegen andere vertauscht. Trotzdem lie? der Kommissar samtliche Polizeistationen benachrichtigen, man solle auf alle grunen Gabardinehosen, die sich verdachtig machten, ein Auge haben. Im ubrigen galt es, alle nur moglichen Routinear-beiten zu erledigen und zu hoffen, das Madchen mochte sich schnell wieder so weit erholen, da? es verhort werden konnte.
        Eva-Lotte lag in Mutters Bett, an dem ruhigsten Platz, den es gab. Doktor Forsberg war bei ihr gewesen, und sie hatte ein Pulver bekommen, damit sie »ohne bose Traume« schlafen konne. Au?erdem hatten Vater und Mutter versprochen, jeder auf einer Seite des Bettes zu sitzen - die ganze Nacht uber.
        Und dennoch - wild jagten sich die Gedanken hinter ihrer Stirn. Oh, ware sie doch nie zum Herrenhof gegangen! Jetzt war alles zu Ende. Nie mehr wurde es etwas Schones in der Welt geben. Wie konnte noch etwas schon sein, wenn Menschen sich so Boses antaten? Gewi?, sie hatte vorher schon gewu?t, da? solche Dinge geschehen konnten; aber sie hatte es nicht so wie jetzt gewu?t. Ach, wie oft hatten sie und Anders Kalle geargert und von Mordern gesprochen, so leicht, als sei es etwas Lustiges und Komisches, etwas, womit man Witze machen konnte. Es war entsetzlich, jetzt daran zu denken. Nie mehr wurde sie so etwas mitmachen. So etwas durfte man nicht, zum Spa? sagen.
        Damit zog man vielleicht das Bose an, so da? es dann in Wirklichkeit geschah. Oh, daran zu denken, da? es womoglich ihre Schuld war, da? Gren … da? Gren … Nein, sie wollte nicht daran denken. Aber sie wollte ein anderer Mensch werden. Ja, ja, das wollte sie. Sie wollte etwas mehr Frau sein, madchenhafter, wie Onkel Bjork gesagt hatte. Nie mehr wollte sie in einem Krieg der Rosen mitmachen. Denn war nicht gerade der Krieg der Rosen die Ursache, da? sie in diese Dinge hineingeraten war
        - diese Dinge, an die man nicht denken durfte, wenn einem der Schadel nicht platzen sollte? Nein, fur sie sollte Schlu? sein mit dem Krieg. Sie wollte nie mehr spielen. Nie mehr! Oh, wie trostlos wurde das sein!
        Tranen stiegen ihr aufs neue in die Augen, und sie nahm die Hand der Mutter.

»Mutti, ich fuhle mich so alt«, sagte sie und weinte. »Ich fuhle mich beinahe wie sechzehn.«
        Dann schlief sie ein. Aber bevor sie in die barmherzige Bewu?tlosigkeit sank, uberlegte sie noch ein wenig, was wohl Kalle jetzt denken mochte. Kalle, der jahrelang Morder gejagt hatte!
        Was tat er wohl, wenn wirklich einer auftauchte?
        Meisterdetektiv Blomquist erfuhr davon, als er hinter seines Vaters Ladentisch dabei war, zwei Salzheringe fur einen Kunden in eine Zeitung zu wickeln. In dem Augenblick namlich kam Frau Karlsson vom Rackerberg durch die Tur gesegelt, zum Platzen gefullt mit Neuigkeiten und berstend vor Sensati-onslust. Und innerhalb von zwei Minuten war der ganze Laden ein kochender Topf voll von Fragen und Ausrufen und Grauen.
        Jeder Verkauf stockte. Alle im Laden drangten sich um Frau Karlsson. Und sie plapperte und erzahlte, da? der Speichel schaumte. Alles, was sie wu?te, und mehr dazu.
        Meisterdetektiv Blomquist, er, der uber die Sicherheit der Stadt wachen sollte, stand hinter dem Ladentisch und horte zu.
        Er sagte nichts. Er fragte nichts. Er war wie versteinert. Als er genug gehort hatte, schlich er sich unbemerkt hinaus in den La-gerraum und sank auf eine leere Kiste.
        Lange sa? er da. Sprach er vielleicht mit seinem erdachten Zuhorer? Das ware doch jetzt so passend gewesen. Nein, das tat er nicht. Er sprach uberhaupt nicht. Aber er dachte an das eine und das andere.
        Kalle Blomquist, dachte er, du bist ein Wicht, ein lacherlicher kleiner Wicht. Das bist du haargenau! Meisterdetektiv - nicht viel mehr als meine alten Pantoffeln! Hier konnen die verab-scheuungswurdigsten Verbrechen geschehen; aber du stehst ruhig hinter dem Ladentisch und wickelst Salzheringe ein. Weiter so, nur weiter so, dann tust du doch wenigstens etwas Nutzliches!
        Da sa? er nun, den Kopf in die Hande gestutzt, duster gru-belnd. Ach, warum hatte er nur gerade heute im Geschaft sein mussen! Sonst hatte Anders sicher ihn an Stelle von Eva-Lotte geschickt. Und dann ware er es gewesen, der das Verbrechen entdeckt hatte. Oder wer wei? - vielleicht ware er so rechtzeitig gekommen, da? er es verhindert hatte? Er hatte dann den Verbrecher unter vielen guten Ermahnungen hinter Schlo? und Riegel gebracht. So, wie er es immer tat.
        Aber mit einem tiefen Seufzer erinnerte er sich, da? es nur in der Phantasie war, da? er es »immer so tat«. Und dann begriff Kalle erst tatsachlich, was geschehen war. Er begriff es mit einem Ruck, der ihm die Lust nahm, weiterhin Meisterdetektiv zu spielen. Das hier war kein Phantasiemord, den man auf elegante, leichte Art aufklaren konnte, um sich vor seinem erdachten Zuhorer wichtig zu machen. Das hier war eine erschreckende, ha?liche, widersinnige Wirklichkeit, die ihn fast krank machte.
        Er verachtete sich zwar dafur, aber es war Tatsache, da? er froh war, aufrichtig froh, da? er heute nicht an Eva-Lottes Stelle gewesen war. Arme Eva-Lotte!
        Ohne jemand um Erlaubnis zu bitten, verlie? er das Haus. Er fuhlte, er mu?te zu Anders gehen, um mit ihm zu sprechen. Zu versuchen, mit Eva-Lotte zu sprechen, war aussichtslos, das verstand er. »Der Doktor ist bei der Kleinen«, hatte Frau Karlsson gesagt.
        Anders wu?te gar nichts. Er sa? in der Schuhmacherwerkstatt und las »Die Schatzinsel«. Seit dem Vormittag war kein Mensch mehr gekommen. Ein Gluck! Anders befand sich namlich zur Zeit, umringt von bosartigen Piraten, auf einer Insel in der Sud-see und hatte fur Riester und Kernledersohlen gar kein Interesse.
        Als Kalle die Tur ohne vorherige Warnung aufstie?, starrte ihn Anders daher an, als furchte er, der einbeinige John Silver sturze herein. Er war total uberrascht, als er begriff, da? es nur Kalle war. Er sprang von seinem Dreibein auf und schmetterte unbeschwert:

»Funfzehn Mann auf des toten Mannes Kiste - Johoho und die Flasche voll Rum.«
        Kalle schauderte. »Schweig«, flusterte er, »schweig, sage ich.«

»Das sagt der Gesangslehrer auch immer, wenn ich anfange zu singen«, bestatigte Anders friedfertig. Es schien, als wolle Kalle etwas sagen, aber Anders kam ihm zuvor. »Hast du gehort, ob Eva-Lotte schon den Gro?mummrich geholt hat?«
        Kalle sah ihn erstaunt an. Wieviel Blodsinn wurde Anders noch vom Stapel lassen, bevor Kalle dazu kam, etwas zu berichten? Wieder nahm Kalle einen Anlauf, aber Anders hinderte ihn wieder. Zu lange hatte er stillsitzen mussen, und jetzt sprudelte die Redelust in ihm. Er nahm die »Schatzinsel« und hielt sie Kalle unter die Nase.

»Junge, Junge, das ist ein Buch«, sagte er. »Das ist spannend, irrsinnig spannend! Mensch, damals hatte man leben sollen!
        Welche Abenteuer! Heutzutage passiert rein gar nichts mehr!«

»So, gar nichts passiert?« sagte Kalle. »Du wei?t nicht, was du sprichst.« Und dann erzahlte er Anders, was »heutzutage passiert«.
        Anders’ dunkle Augen verdunkelten sich noch mehr, als er horte, was sein Befehl zur Platzverlegung des Gro?mummrich angerichtet hatte. Er wollte sofort zu Eva-Lotte rennen, um, wenn sie auch nicht direkt zu trosten, so ihr doch auf irgendeine Art zu zeigen, da? er selbst sich fur einen Idioten hielt, weil er sie mit dem Auftrag losgeschickt hatte.

»Aber ich konnte doch wirklich nicht wissen, da? dort drau?en Tote herumliegen«, sagte er ganz niedergeschlagen zu Kalle.
        Kalle sa? ihm gegenuber und hammerte nachdenklich ganze Reihen von Schuhmachernageln in den Schuhmachertisch.

»Nein, klar, wie solltest du das wissen konnen«, sagte er dabei. »Es kommt ja nicht oft vor.«

»Was kommt nicht oft vor?«

»Da? Tote rumliegen drau?en beim Herrenhof.«

»Klar, meinte ich doch«, sagte Anders, »Ubrigens schafft Eva-Lotte das ganz bestimmt. Jedes andere Madchen wurde dabei durchdrehen, aber nicht sie. Du wirst sehen, sie wird der Polizei einen ganzen Berg Fingerzeige geben.«
        Kalle nickte. »Vielleicht hat sie jemand gesehen, der … der … es getan haben kann.
        Anders schauderte. Aber er war nicht annahernd so benommen wie Kalle. Er war ein froher, zukunftstrachtiger und sehr aktiver Junge, und au?ergewohnliche Ereignisse weckten seinen Tatigkeitsdrang, auch wenn sie erschreckend waren. Er wollte etwas tun, und das sofort. Loslegen mit den Nachforschungen und den Morder festsetzen, und zwar moglichst im Verlauf der nachsten Stunde. Er war kein Traumer wie Kalle. Es ware unrecht zu behaupten, da? Kalle nicht auch, trotz seiner Traume-reien, besonders wirksam sein konnte - es gab ja welche, die das bereits erfahren hatten-, aber Kalles Wirksamkeit begann stets mit langatmigen Meditationen. Kalle sa? dann da und dachte sich Dinge aus - recht einfallsreiche Dinge mitunter, das mu?te man bestatigen -, aber oftmals waren es doch nur Phantasien ins Blaue hinein.
        Anders phantasierte nicht. Er verschwendete keine Zeit mit Meditationen. Sein Korper war so erfullt von Energie, da? es eine wahre Plage fur ihn war, eine Weile stillsitzen zu mussen. Es war kein Zufall, da? er der Chef der Wei?en Rose war. Er war selbst-sicher, frohlich und redegewandt, erfindungsreich und immer bereit, an der Spitze zu gehen. Das war Anders. Ein wehleidigerer Typ als er hatte an den hauslichen Verhaltnissen Schaden genommen - der Vater war ein unertraglicher Tyrann -, Anders aber nicht. Er hielt sich nur, soviel er irgend konnte, fern von zu Hause, und die Zusammensto?e mit seinem Vater nahm er gleichmutig hin. Alle Schelte glitt an ihm ab wie das Wasser an einer Gans, und funf Minuten nach der starksten Abreibung war Anders schon drau?en und sprang frohlich umher wie immer.
        Ganz unmoglich also, da? er jetzt mit den Handen im Scho? da-sitzen sollte, wenn wichtige Sachen sein Eingreifen erforderten.

»Komm, Kalle«, sagte er deshalb. »Ich schlie?e die Werkstatt. Vater kann sagen, was er will.«

»Traust du dich wirklich?« fragte Kalle, der den Schuhmachermeister kannte.

»Pfff«, machte Anders.
        Naturlich getraute er sich. Er mu?te nur eventuellen Kunden auf irgendeine Art klarmachen, warum das Geschaft an einem Werktag geschlossen war. Er nahm einen Blaustift und schrieb auf ein Stuck Papier:
        GESCHLOSSEN WEGEN MORD
        Dann heftete er das Papier mit einer Rei?zwecke au?en an die Ladentur und wollte abschlie?en.

»Aber Anders, du bist wohl nicht ganz normal«, sagte Kalle, als er auf das Papier sah. »Das kannst du doch nicht schreiben!«

»Kann ich nicht?« fragte Anders zogernd. Er legte den Kopf auf die Seite und dachte nach. Moglicherweise hatte Kalle recht.
        Man konnte den Zettel vielleicht mi?verstehen. Er ri? ihn ab, lief in die Werkstatt zuruck und schrieb einen neuen. Den heftete er dann an die Tur und ging rasch davon. Kalle folgte seinem Chef.
        Frau Magnussen kam bald darauf uber die Stra?e, um ihre neubesohlten Schuhe abzuholen. Sie blieb stehen und las mit vor Verwunderung kugelrunden Augen:
        AUS ANLASS DES PASSENDEN WETTERS  
        BLEIBT DIESE WERKSTATT
        HEUTE GESCHLOSSEN
        Frau Magnussen schuttelte den Kopf. Richtig bei Troste war er ja nie gewesen, der Schuhmacher, aber jetzt war er bestimmt ubergeschnappt. »Passenden Wetters« - hatte man so etwas schon gehort?
        Anders eilte zur Prarie. Au?erst unwillig folgte ihm Kalle. Er hatte nicht die geringste Lust, dorthin zu gehen. Anders aber wollte wissen, da? die Polizei schon unruhig auf Kalles Hilfe wartete. Sicher hatte Anders Kalle seiner Grillen wegen gehan-selt, aber das verga? er, da ja jetzt ein akuter Kriminalfall tatsachlich eingetreten war. Jetzt entsann er sich nur des bemerkenswerten Einsatzes von Kalle im vorigen Jahr. Es war unbe-streitbar Kalles Verdienst gewesen, da? die drei Juwelendiebe verhaftet worden waren. Ja, Kalle war ein hervorragender Detektiv, und Anders erkannte diese Uberlegenheit willig an. Und er war uberzeugt, da? auch die Polizei so dachte.

»Du verstehst doch, die mussen sich ja freuen, wenn du dich ihnen zur Verfugung stellst«, sagte er. »Im Handumdrehen wirst du das Ratsel losen. Und ich werde dein Gehilfe.«
        Kalle war in der Zwickmuhle. Er konnte Anders nicht eingestehen, da? er nur Phantasiemorde vollendet aufklaren konnte und da? er es einfach entsetzlich fand, jetzt mit einem richtigen Mord in Beruhrung zu kommen. Er schleppte die Beine immer langsamer nach, so da? Anders unruhig und ungeduldig wurde.

»Beeile dich«, sagte er. »Jede Sekunde ist kostbar in solch einem Fall. Das mu?test du doch am besten wissen!«

»Ach, ich glaube, wir lassen die Polizei das allein machen«, sagte Kalle, um den Kopf aus der Schlinge zu ziehen.

»Das sagst du?« rief Anders ganz verstort. »Wo du genau wei?t, wie die alle Sachen und Dinge verwechseln! Das hast du selbst oft genug gesagt. Sei nicht dumm und komm mit.«
        Er nahm den widerstrebenden Meisterdetektiv an die Hand und zog ihn hinter sich her. Langsam kamen sie zu dem abge-sperrten Gebiet.

»Du«, sagte Anders, »wei?t du, was los ist?«

»Nein, was denn?«

»Der Gro?mummrich ist umzingelt! Wenn die Roten ihn haben wollen, mussen sie erst die Polizei uberwaltigen.«
        Kalle nickte nachdenklich. Viel hatte der Gro?mummrich schon erlebt, aber es war das erste Mal, da? er unter Polizei-schutz stand.
        Schutzmann Bjork patrouillierte bei der Absperrung, und Anders ging geradewegs auf ihn zu. Er zog Kalle mit sich und stellte ihn vor Bjork hin, so wie ein Hund einen apportierten Gegenstand hinlegt und dann auf ein Lob wartet.

»Onkel Bjork, hier ist Kalle«, sagte er erwartungsvoll.

»Das sehe ich«, sagte Bjork. »Und was will Kalle?«

»Lassen Sie ihn durch, damit er losschnuffeln kann«, forderte Anders. »Den Tatort des Verbrechens untersuchen …«
        Aber Bjork schuttelte den Kopf. Er sah ungemein amtlich aus. »Macht euch nach Hause, Jungen«, sagte er. »Geht nach Hause. Dankt Gott, da? ihr noch so klein seid und von alledem nichts begreift.«
        Kalle errotete. Er begriff sehr gut. Er begriff, da? hier kein Platz war fur den Meisterdetektiv mit den scharfgeschnittenen Gesichtszugen und den gro?en Worten. Wenn er das doch nur auch Anders begreiflich machen konnte!

»Typisch«, sagte Anders verbittert, als sie nach der Stadt zuruckwanderten. »Und wenn du, seit Kain den Abel erschlug, jeden einzigen Mord aufgeklart hattest - die wurden niemals zugeben, da? ein Privatdetektiv etwas taugt.«
        Kalle schuttelte sich vor Unbehagen. So ungefahr hatte er selbst viele Male geredet. Er wunschte von ganzem Herzen, da? Anders das Gesprachsthema wechseln moge. Aber Anders fuhr fort: »Fruher oder spater fahrt sich die Polizei sicher fest. Bitte, versprich mir, da? du den Fall dann nicht eher ubernimmst, bevor sie dich auf den Knien darum bitten!«
        Das versprach Kalle bereitwilligst. Wehmutig wanderten sie weiter der Stadt zu. Sixtus, Benka und Jonte waren auch auf dem Heimweg von der Prarie. Vor einer Stunde hatte die furchtbare Nachricht sie erreicht, und sie waren auch zur Prarie gesturzt -nur um enttauscht festzustellen, da? es ebensogut war, wieder nach Hause zu gehen. Gerade als sie zu diesem Entschlu? gekommen waren, trafen sie Anders und Kalle.
        Heute tauschten die Wei?en und die Roten keine Gehassig-keiten miteinander. Die gewaltigen Krieger waren alle ziemlich still und sahen um die Nasen recht bla? aus. Gemeinsam trabten sie zur Stadt zuruck und dachten mehr an den Tod, als sie es bisher in ihrem Jungenleben getan hatten. Sie fuhlten tiefes Mitleid mit Eva-Lotte.

»Leid tut sie mir, wahrhaftig«, sagte Sixtus. »Sie sagen, da? sie total mit den Nerven runter ist. Liegt blo? da und heult.«
        Anders wurde davon beinahe mehr ergriffen als von der ubrigen Scheu?lichkeit. Er schluckte einige Male. Es war ja seine Schuld, wenn Eva-Lotte dalag und heulte.

»Man mu?te sich wohl um sie kummern«, sagte er schlie?lich, »’ne Blume hinschicken oder so was …«
        Die andern vier starrten ihn an, als ob sie ihren Ohren nicht trauten. War die Situation wirklich so ernst? Dem Madchen Blumen schicken - er mu?te davon uberzeugt sein, da? Eva-Lotte verloren war. Aber je langer sie daruber nachdachten, desto nobler schien ihnen der Vorschlag. Eva-Lotte sollte eine Blume haben. Sie war es, ehrlich gesagt, wert.
        Sixtus ging tief ergriffen nach Hause und klaute eine von den roten Pelargonien seiner Mutter, und, den Blumentopf zwischen sich tragend, zogen sie alle funf zu Backermeisters. Eva-Lotte schlief und durfte nicht gestort werden. Aber ihre Mutter nahm ihnen die Pelargonie ab und stellte die Gabe der funf in Eva-Lottes Zimmer.
        Es war nicht die letzte Gabe, die Eva-Lotte fur ihren Einsatz in diesem Drama bekommen sollte.
        NEUNTES KAPITEL
        Da sa?en sie nun und warteten auf der Veranda, der nette Kriminalkommissar und Schutzmann Bjork und noch einer. Es sei wichtig, da? das kleine Madchen nicht nervos werde vor dem Verhor, meinte der Kommissar. Jedenfalls nicht noch nervoser, als sie schon war. Deshalb war es gut, Schutzmann Bjork bei sich zu haben, der das Madchen kannte. Und um dem ganzen Verhor den Charakter eines freundlichen kleinen Gesprachs zu geben, sollte es hier, in der Wohnung bei dem Madchen, stattfinden, hier auf der sonnigen Veranda und nicht auf dem Polizeirevier. Eine fremde Umgebung wirkt immer beunruhigend auf Kinder, fand der Kommissar.
        Wahrend sie warteten, brachte Frau Lisander starken Kaffee und frisches Geback. Es war ein wundervoller Morgen. Die Luft war frisch und klar nach dem gestrigen Gewitter. Die Rosen in des Backermeisters Garten sahen wie frisch gewaschen aus, und die Meisen und Buchfinken zwitscherten munter in dem alten Apfelbaum.
        Der Kommissar nahm das dritte Gebackstuck und sagte:

»Ehrlich gesagt, ich glaube nicht, da? wir sehr viel aus dem Madchen herausholen werden - hie? sie nicht Eva-Lotte? Ich glaube nicht, da? ihre Aussagen uns bedeutend weiterbringen werden. Kinder konnen nicht sachlich beobachten. Sie phantasieren zuviel.«

»Eva-Lotte ist aber recht sachlich«, sagte Schutzmann Bjork.
        Backermeister Lisander erschien auf der Veranda. Er hatte eine kleine Falte auf der Stirn, die sonst nie dort zu sehen war.
        Diese Falte bedeutete, da? er um sein einziges, geliebtes Kind in Sorge war. »Sie kommt jetzt«, sagte er kurz. »Darf ich bei dem Verhor zugegen sein?«
        Nach einigem Zogern willigte der Kommissar ein. Bedingung war allerdings, da? der Backermeister sich absolut still verhielt und auf keine Weise in das Verhor eingriff. »Na ja, es ist ubrigens nicht schlecht, wenn das Madchen ihren Vater hier sieht. Es wird sie beruhigen. Konnte ja sein, da? sie Angst vor mir hat.«

»Warum sollte ich«, sagte eine ruhige Stimme von der Tur her, und Eva-Lotte kam in das Sonnenlicht hinaus. Sie sah den Kommissar aufmerksam an. Warum sollte sie Angst vor ihm haben? Eva-Lotte hatte keine Angst vor Menschen. Nach ihrer Erfahrung waren die Menschen nett und freundlich und wollten einem wohl. Es war erst seit gestern, da? sie im Ernst verstanden hatte, es konne auch bose Menschen geben.
        Sie sah aber nicht ein, weshalb sie auch den Kriminalkommissar dazu rechnen sollte. Sie wu?te, er war hier, weil er hier sein mu?te. Sie wu?te, da? sie ihm alles von dem Entsetzlichen drau-
        - en auf der Prarie erzahlen mu?te, und sie war bereit, es zu tun.
        Warum also sollte sie Angst haben?

»Guten Morgen, kleine Lisa-Lotte«, sagte der Kommissar hastig.

»Eva-Lotte«, sagte sie. »Guten Morgen!«

»Ach ja, naturlich - Eva-Lotte! Komm und setz dich hierher, Eva-Lotte. Wir wollen ein wenig miteinander reden. Es wird nicht lange dauern. Und dann kannst du gleich wieder mit deinen Puppen spielen.« Das sagte er zu Eva-Lotte, die sich so alt vorkam, beinahe wie sechzehn!

»Ich habe schon vor zehn Jahren aufgehort, mit Puppen zu spielen«, sagte sie aufklarend.
        Schutzmann Bjork hatte recht - das war tatsachlich ein sachliches Kind. Der Kommissar verstand: Hier mu?te er einen anderen Ton finden und Eva-Lotte wie eine Erwachsene behan-deln.

»Erzahle mir nun alles«, sagte er. »Du warst also bei dem Mor… also drau?en auf der Prarie? Wie kam es eigentlich, da? du gestern mittag so ganz allein dorthin gegangen bist?«
        Eva-Lotte kniff die Lippen zusammen. »Das … das darf ich nicht sagen. Das ist vollkommen geheim. Ich war drau?en in geheimem Auftrag.«

»Kind … komm«, sagte der Kommissar. »Wir versuchen doch, einen Mord aufzuklaren. Da gibt es nichts, was geheim ist.
        Was solltest du also gestern beim Herrenhof drau?en tun?«

»Ich sollte den Gro?mummrich holen«, sagte Eva-Lotte widerstrebend.
        Es war eine ziemlich eingehende Aufklarung notig, bis der Kommissar endlich begriff, was ein Gro?mummrich war.

»Hast du dort irgendeinen Menschen gesehen?« wollte der Kommissar wissen, nachdem das Ratsel des Gro?mummrich geklart war.

»Ja«, sagte Eva-Lotte. »Ich sah … Gren … und noch einen.«
        Der Kommissar wurde lebhaft: »Erzahle ganz genau, wie und wo du sie gesehen hast!«
        Und Eva-Lotte erzahlte. Wie sie Gren aus ungefahr hundert Meter Entfernung von hinten gesehen hatte …

»Halt«, unterbrach der Kommissar. »Wie konntest du dann sehen, da? es Gren war?«

»Man merkt, Herr Kommissar, da? Sie nicht aus unserer Stadt sind«, sagte Eva-Lotte. »Jeder Mensch hier wurde Gren sofort an seinem Gang erkennen. Stimmt das, Onkel Bjork?«
        Bjork bestatigte es. Eva-Lotte setzte ihren Bericht fort. Wie sie Gren in den Pfad hatte einbiegen sehen und wie er in den Buschen verschwand. Wie der mit den dunkelgrunen Gabardinehosen von der anderen Seite gekommen war und auf demselben Pfad verschwunden sei.

»Hast du eine Ahnung, wie spat es da wohl war?« fragte der Kommissar, obwohl er doch wu?te, da? Kinder selten sachliche Beobachtungen machen konnten.

»Halb eins«, antwortete Eva-Lotte schnell.

»Woher wei?t du das? Hast du auf die Uhr gesehen?«

»Nein«, sagte Eva-Lotte und wurde bla?. »Aber ich habe den Mor… den Morder danach gefragt - ungefahr eine Viertelstunde spater.«
        Der Kommissar sah seine Kollegen an. Hatten sie so etwas schon erlebt? Dies Verhor schien doch wertvoller zu werden, als er es sich vorgestellt hatte. Er beugte sich nach vorn und sah Eva-Lotte durchbohrend in die Augen: »Du hast den Morder gefragt, sagst du? Wagst du wirklich zu behaupten, du wu?test, wer Gren ermordet hat? Hast du vielleicht auch gesehen, wie es geschah?«

»Nein«, sagte Eva-Lotte, »aber wenn ich sehe, wie erst ein Mensch zwischen Buschen verschwindet und gleich danach ein anderer Mensch auch dorthin verschwindet und ich nach kurzer Zeit den zuerst erwahnten Menschen dort tot vorfinde, dann kann es nur eins geben: Ich mu? den anderen, den ubriggebliebenen Menschen, verdachtigen. Gren kann naturlich auch gesturzt und dadurch umgekommen sein. Aber das mu? man mir erst beweisen.«
        Bjork hatte recht. Das hier war wirklich ein unglaublich sachliches Kind.
        Sie berichtete weiter, wie sie, als sie die beiden Manner dorthin hatte verschwinden sehen, wo der Gro?mummrich lag, in den Herrenhof gegangen war, um sich die Wartezeit zu vertreiben, und da? sie dort hochstens eine Viertelstunde geblieben war.

»Und danach?« fragte der Kommissar.
        Eva-Lottes Augen verengten sich. Sie sahen gequalt aus. Das, was jetzt kommen sollte, war am schwersten zu erzahlen. »Ich prallte genau auf ihn - da auf dem kleinen Pfad«, flusterte sie.

»Ich fragte ihn, wie spat es sei, und er sagte: ›Viertel vor eins‹.«
        Der Kommissar sah zufrieden aus. Der Gerichtsarzt hatte als den Zeitpunkt der Tat die Zeit etwa zwischen zwolf und zwei festgesetzt. Die Angaben der Kleinen aber machten es moglich, die Zeit genau festzulegen: etwa zwischen halb eins und Viertel vor eins. Diese Tatsache konnte wichtig werden. Bestimmt, Eva-Lotte war ein unschatzbarer Zeuge!
        Er fragte weiter: »Wie sah der Mann aus? Erzahle alles, wor-an du dich erinnern kannst. Alle Einzelheiten.«
        Eva-Lotte holte wieder die dunkelgrunen Gabardinehosen hervor. Dann das wei?e Hemd. Und den dunkelroten Schlips.
        Die Armbanduhr. Eine ganze Menge schwarzer Haare auf den Handen.

»Wie sah er im Gesicht aus?« wollte der Kommissar wissen.

»Er hatte einen Schnurrbart«, antwortete Eva-Lotte. »Und langes schwarzes Haar, das ihm in die Stirn hing. So sehr alt war er nicht. Er sah gut aus. Aber angstlich und bose. Er lief von mir fort, so schnell er konnte. Er hatte es so eilig, da? er einen Revers verlor - und das hat er nicht einmal bemerkt.«
        Der Kommissar hielt einen Moment den Atem an. Dann stie? er hervor: »Um Himmels willen, was sagst du da? Was hat er verloren?«

»Einen Revers«, sagte Eva-Lotte stolz. »Wissen Sie nicht, was das ist, Herr Kommissar? Das ist nur ein kleines Stuck Papier, und ganz oben steht ›Revers‹ drauf. Ich sage Ihnen, das ist nichts als ein kleines Stuck Papier. Aber die Menschen, glauben Sie mir, machen oft viel Wesens um solche Reverse.«
        Der Kommissar sah erneut seine Kollegen an. Die gestrigen Vernehmungen bei Grens Nachbarn oben auf dem Rackerberg hatten ja klar ergeben, da? Gren als lohnenden Nebenverdienst einen kleinen Wucher betrieb. Viele hatten bemerkt, da? er abends in seinem Haus geheimnisvolle Besucher empfangen hatte - allerdings nicht oft. Gewi? hatte er es vorgezogen, seine Kunden irgendwo in der Umgebung der Stadt zu treffen. Bei der Haussuchung hatte man eine ganze Menge Reverse gefunden, mit verschiedenen Namen unterzeichnet. Alle Namen waren notiert worden, und man bereitete sich darauf vor, notfalls alle geheimnisvollen Kunden von Gren aufzuspuren. Einer von ihnen konnte der Morder sein.
        Der Kommissar hatte sofort den Gedanken gehabt, da? sich einer von ihnen durch den Mord aus der Geldverlegenheit, in die er durch Gren hineingepre?t war, hatte retten wollen. Das mu?te das Motiv zu dem Verbrechen sein. Aber so etwas tat niemand, wenn er nicht sicher war, samtliche Papiere an sich bringen zu konnen, die fur ihn verraterisch werden konnten.
        Und nun sa? das Madchen hier und erzahlte, da? der Morder dort zwischen den Buschen einen Revers verloren hatte. Einen Revers, auf dem sein Name stand! Einen Revers mit dem Namen des Morders … Der Kommissar war so erregt, da? seine Stimme zitterte, als er sich zu Eva-Lotte vorbeugte: »Hast du den Revers aufgehoben?«

»Ja, naturlich«, sagte Eva-Lotte.

»Was hast du damit gemacht?« Der Kommissar hielt wieder den Atem an.
        Eva-Lotte dachte nach. Es war totenstill, wahrend sie nachdachte. Nur die Buchfinken und Meisen setzten ihr Konzert im Apfelbaum fort. »Das wei? ich nicht mehr«, brachte Eva-Lotte schlie?lich langsam hervor.
        Der Kommissar stohnte leise.

»Aber ich sage Ihnen ja, das war nichts weiter als nur so ein kleines Stuck Papier«, wiederholte Eva-Lotte, um ihn zu trosten.
        Da nahm der Kommissar ihre Hand und erklarte ihr langsam und deutlich, da? ein Revers ein recht wichtiges Stuck Papier sei, auf dem man anerkannte, da? man sich von jemand Geld geborgt hatte und da? man nun verpflichtet war, dies geborgte Geld auch wieder zuruckzuzahlen. Und das bekraftigte man, indem man unter den Revers seinen Namen schrieb. Der Mann, der Gren ermordet hatte, hatte das bestimmt getan, weil er eben kein Geld besa?, um das geborgte zuruckzuzahlen. Kaltblutig hatte er einen Menschen umgebracht, um seine Reverse zuruck-zubekommen, auf denen er seine Schulden an Gren einmal anerkannt hatte. Dieses Stuck Papier, das Eva-Lotte fur so un-wichtig hielt, war so ein Schuldschein, so ein Revers. Und sein Name mu?te auf dem Papier gestanden haben, das er auf dem Pfad verloren hatte. Verstand Eva-Lotte nun, wie wichtig es war und da? sie einfach gezwungen war, sich zu erinnern, was sie mit dem Revers - mit dem Schuldschein - gemacht hatte?
        Das verstand Eva-Lotte, und sie bemuhte sich wirklich. Sie erinnerte sich, wie sie dagestanden hatte mit dem Schuldschein in der Hand. Sie erinnerte sich, da? gerade da ein furchtbarer Donner gekracht hatte. Aber an mehr erinnerte sie sich nicht.
        Wohl an das Schreckliche nachher. Aber von dem Schuldschein wu?te sie nicht ein bi?chen mehr. Enttauscht bekannte sie das dem Kommissar.

»Und den Namen, der darauf stand, den hast du nicht zufallig gelesen?« forschte der Kommissar.

»Nein, das habe ich nicht«, sagte Eva-Lotte.
        Der Kommissar seufzte. In Gedanken aber sagte er sich: So leicht darf die Arbeit eines Polizeimannes ja auch nicht sein.
        Dies Verhor mit dem Madchen hatte trotzdem viel ergeben.
        Man konnte wirklich nicht verlangen, nun auch noch den Namen des Morders als Gratiszugabe zu bekommen.
        Bevor er mit Eva-Lotte weitersprach, gab er telefonisch den Befehl an das Polizeirevier, jedes Stuck der Prarie zu untersuchen. Gewi? war der Tatort selbst sehr genau untersucht worden; aber ein Stuck Papier konnte weit weg geweht werden.
        Und der Schuldschein sollte und mu?te gefunden werden.
        Anschlie?end erzahlte Eva-Lotte, wie sie Gren gefunden hatte. Sie schluckte wiederholt und sprach jetzt sehr, sehr leise. Und ihr Vater bedeckte sein Gesicht mit den Handen, um den ver-
        angstigten Ausdruck in ihren Augen nicht sehen zu mussen. Aber nun mu?te das Ganze wohl bald zu Ende sein. Der Kommissar hatte nur noch einige Fragen zu stellen. Eva-Lotte hatte beteuert, der Morder konne unmoglich aus dieser Stadt sein, sie hatte ihn sonst bestimmt gekannt. Und nun fragte der Kommissar sie:

»Glaubst du, da? du ihn wiedererkennen konntest, wenn du ihn noch einmal sehen wurdest?«

»Ja«, sagte Eva-Lotte langsam, »unter Tausenden wurde ich ihn wiedererkennen.«

»Und du hast ihn vorher nie gesehen?«

»Nein«, sagte Eva-Lotte. Sie bedachte sich einen Augenblick. »Doch - teilweise …« setzte sie dann hinzu.
        Der Kommissar ri? die Augen auf. Dies Verhor war voller Uberraschungen.

»Was meinst du mit ›teilweise‹?«

»Ich habe fruher schon von ihm seine Hosen gesehen«, sagte sie widerstrebend.

»Das mu?t du mir naher erklaren.«
        Eva-Lotte zierte sich. »Mu? ich das?«

»Du wei?t doch, da? du es mu?t. Wo hingen also seine Hosen?«

»Sie hingen nicht«, sagte Eva-Lotte. »Sie sahen unter einer Jalousie hervor. Er hatte sie an.«
        Der Kommissar griff schnell nach einem ubriggebliebenen Stuck Kaffeegeback. Er fuhlte, da? er etwas Starkendes notig hatte. Und er uberlegte, ob Eva-Lotte wirklich so sachlich war, wie es zuerst den Anschein gehabt hatte. Fing sie nun nicht doch an zu phantasieren?

»Also«, sagte er, »die Hosen des Morders sahen unter einer Jalousie hervor. Wessen Jalousie?«

»Naturlich Grens.«

»Und du? Wo warst du?«

»Ich war drau?en auf der Leiter. Kalle und ich waren dort.
        Am Dienstagabend nach neun Uhr.«
        Der Kommissar hatte keine Kinder, und in diesem Augenblick stieg ein frohes und dankbares Gefuhl dafur in ihm auf.

»Was in aller Welt habt ihr am Dienstagabend auf Grens Leiter gemacht?« fragte er, setzte aber gleich hinzu, wohl um seine neue Weisheit anzubringen: »Ach so, ich verstehe. Es war naturlich wieder irgend so ein Gro?mummrich, hinter dem ihr her wart.«
        Es lag etwas wie Verachtung in Eva-Lottes Blick, als sie ihn fest ansah und sagte:
»Herr Kommissar, Sie glauben wohl, Gro?mummriche wachsen auf den Baumen. Aber es gibt nur einen Gro?mummrich - in Ewigkeit - Amen.«
        Dann berichtete sie von dem Nachtmarsch uber Grens Dach.
        Der arme Backermeister schuttelte kummervoll sein Haupt, als er davon horte. Und da sagen die Leute, fur Eltern sei es so viel friedlicher, Madchen zu haben …

»Woher wu?test du, da? es die Hosen des Morders waren, die du sahst?« staunte der Kommissar.

»Das wu?te ich gar nicht«, sagte Eva-Lotte. »Hatte ich das gewu?t, ware ich hineingegangen und hatte ihn verhaftet.«

»Ja, aber sagtest du nicht …« wandte der Kommissar betreten ein.

»Nein, das habe ich mir nachher ausgerechnet«, beteuerte Eva-Lotte. »Ich horte doch, wie sie sich da drinnen im Zimmer uber diese Reverse zankten und wie der in den Hosen sagte:

›Wir treffen uns am Mittwoch an der gewohnten Stelle! Bringen Sie dann meine Reverse mit!‹ Und nun rechnen Sie sich doch einmal selbst aus, mit wie vielen dunkelgrunen Gabardinehosen konnte Gren sich wohl am Mittwoch treffen?«
        Der Kommissar war uberzeugt davon, da? Eva-Lotte recht hatte. Das Puzzlespiel ging auf. Alles war jetzt klar: das Motiv, der Zeitpunkt, die Tat selbst. Es blieb nur noch eine Kleinigkeit ubrig: den Morder zu verhaften.
        Der Kommissar erhob sich und tatschelte Eva-Lotte das Kinn. »Vielen Dank auch«. sagte er. »Du bist sehr tuchtig gewesen. Du hast uns mehr geholfen, als du, wie ich glaube, selbst verstehst. Vergi? nun alles wieder.«

»Danke«, sagte Eva-Lotte.
        Dann wandte sich der Kommissar an Schutzmann Bjork.

»Nun mussen wir noch diesen Kalle erwischen«, sagte er, »damit er uns Eva-Lottes Aussagen uber die Geschehnisse am Dienstagabend bestatigt. Wo finden wir ihn?«

»Hier«, sagte eine sichere Stimme vom Balkon uber der Veranda. Der Kommissar sah erstaunt dort hinauf und bemerkte zwei Kopfe, einen dunklen und einen hellen, die uber dem Bal-kongelander hervorlugten.
        Ritter der Wei?en Rose konnen einen Kameraden wahrend eines Polizeiverhors oder wahrend anderer Prufungen nicht im Stich lassen. Ebenso wie der Backermeister hatten auch Kalle und Anders den Wunsch gehabt, bei dem Verhor zugegen zu sein. Aber um der Sicherheit willen fanden sie, da? es kluger war, vorher nicht erst um Erlaubnis zu fragen.
        ZEHNTES KAPITEL
        Auf den ersten Seiten aller Zeitungen des Landes nahm der Mord einen gro?en Platz ein, und auch Eva-Lottes Aussage wurde besonders erwahnt. Ihr Name wurde nicht genannt, aber es wurden viele Worte gemacht uber »die tuchtige Vierzehnjahrige«, die so grundlich ihre Beobachtungen am Tatort wieder-gegeben und damit der Polizei wichtige Hinweise vermittelt hatte.
        Die Ortszeitung war nicht so verschwiegen, wenn es Namen galt. In der kleinen Stadt wu?te ja sowieso jeder, da? die tuchtige Vierzehnjahrige Eva-Lotte Lisander war, und der Redakteur sah nicht ein, was ihn hindern sollte, uber alles ausfuhrlich und mit vollem Namen zu berichten. Eine so prachtvolle Moglichkeit zu schreiben hatte er lange nicht gehabt, und das nutzte er aus. Er schrieb einen langen, uberschwenglichen Artikel uber

»die kleine, niedliche Eva-Lotte, die heute wieder zwischen den Blumen in der Eltern Garten spielt und aussieht, als habe sie all die schrecklichen Erlebnisse des Mittwochs dort drau?en auf der sturmischen Prarie wieder vergessen«.
        Der Redakteur breitete vor dem Leser in den weiteren Satzen aus, wie tuchtig Eva-Lotte gewesen war, wie genau sie den Morder beobachtet und beschrieben hatte. Das hei?t, er schrieb nicht wirklich »der Morder«, sondern »der Mann, bei dem man die Losung dieses furchtbaren Geheimnisses vermutet«. Er erwahnte auch, da? Eva-Lotte den Unbekannten wiedererkennen wurde, falls sie ihn sahe, und er wies hochtrabend besonders darauf hin, da? die kleine Eva-Lotte moglicherweise ein Werkzeug sei, durch das eines Tages der Verbrecher seiner wohlver-dienten Strafe zugefuhrt werden konne. Ja, er schrieb tatsachlich alles, was er eigentlich nicht hatte schreiben durfen.
        Ein sehr bekummerter Schutzmann Bjork gab dem Kommissar auf dem Polizeirevier ein Exemplar der Zeitung, noch feucht von Druckerschwarze. Der Kommissar las, und dann brullte er:

»Es ist eine Schweinerei, so etwas zu schreiben! Ehrlich gesagt: eine glatte Schweinerei!«
        Backermeister Lisander gebrauchte noch wesentlich kraftige-re Ausdrucke, als er eine Stunde spater in die Redaktion der Zeitung sturmte. Die Adern auf seiner Stirn Waren vor Wut ge-schwollen, und er schlug mit der Faust auf den Tisch des Redakteurs.

»Begreifst du nicht, da? es verbrecherisch ist, so zu schreiben?« schrie er.
»Begreifst du denn gar nicht, wie gefahrlich das fur meine Tochter werden kann?«
        Nein, daruber hatte der Redakteur sich keine Gedanken gemacht. Wieso gefahrlich?

»Mach dich nicht dummer, als du schon bist! Das ist nicht notig, wei?t du«, polterte der Backermeister weiter. »Begreifst du nicht, da? ein Kerl, der einmal morden kann, das sehr gut auch ein zweites Mal fertigbringt, wenn er glaubt, da? es fur ihn notwendig ist? Und deshalb ist es ein straflicher Leichtsinn von dir, den Namen und die Adresse von Eva-Lotte anzugeben.
        Hattest du nicht auch noch die Telefonnummer bekanntmachen konnen? Dann hatte der Kerl vorher anrufen und die Zeit verabreden konnen!«
        Auch Eva-Lotte fand, da? der Artikel verbrecherisch war, zumindest einzelne Teile davon. Sie sa? mit Anders und Kalle zusammen auf dem Backereiboden und las:

»Die kleine, niedliche Eva-Lotte, die heute wieder zwischen den Blumen in der Eltern Garten …«

»Himmel, mich bei?t der Affe! Darf man denn so irrsinnig sein, wie man will, wenn man in der Zeitung schreibt?«
        Kalle nahm ihr die Zeitung weg und las den ganzen Artikel und schuttelte dann besorgt den Kopf. So viel Detektiv war er ja auf jeden Fall, da? er verstehen konnte, wie wahnwitzig dieser Artikel war. Den anderen aber sagte er davon nichts.
        In einem hatte der Redakteur allerdings recht: damit, da? Eva-Lotte ihre schrecklichen Abenteuer anscheinend vergessen hatte. Glucklicherweise hatte sie die Begabung junger Gemuter, Dinge, die ihnen unbehaglich sind, beinahe von einem Tag auf den anderen auszuloschen. Nur wenn der Abend kam und sie in ihrem Bett lag, hielten die Gedanken sich schwer von dem Geschehenen fern, das sie vergessen wollte. In den ersten Nachten schlief sie unruhig, und zuweilen schrie sie im Schlaf auf, so da? ihre Mutter kommen mu?te, um sie zu beruhigen. Im klaren Sonnenschein des Tages aber war Eva-Lotte ruhig und froh wie zuvor.
        Dem Krieg der Rosen konnte sie auch nicht lange fernblei-ben. Sie fuhlte selbst: Je wilder die Spiele waren, in die sie sich warf, um so schneller wurde all das andere in ihrem Unterbe-wu?tsein versinken.
        Die Polizeisperre drau?en am Herrenhof hatte aufgehort.
        Aber bereits vorher war der Gro?mummrich von dort weggeholt worden. Schutzmann Bjork hatte den ehrenvollen Auftrag bekommen, ihn aus der Sperrzone zu holen. Nach dem Verhor auf der Veranda, als die Existenz des Gro?mummrich verraten werden mu?te, nahm Anders Bjork beiseite und fragte ihn, ob er nicht so nett sein wollte, den Gro?mummrich aus der Gefangenschaft zu befreien. Bjork tat das gern. Ehrlich gesagt, er war sogar sehr interessiert daran, einmal zu sehen, wie ein Gro?mummrich aussah.
        So geschah es, da? der Gro?mummrich unter Polizeieskorte von seinem unheimlichen Aufbewahrungsort fortgebracht und dem Chef der Wei?en Rose ubergeben wurde. Und jetzt lag er in einer der Kommodenschubladen oben auf dem Backereiboden, wo die Wei?en ihre Heiligtumer zu verwahren pflegten.
        Dieser Platz war aber nur ein vorlaufiger, denn der Gro?mummrich sollte erneut verlegt werden.
        Anders fand nach langerem Nachdenken die Idee, ihn bei dem Brunnen oben im Schlo?hof zu verstecken, gar nicht mehr so gut. »Ich wunsche ihn mir an einem spannenderen Platz«, sagte er.

»Armer Gro?mummrich«, meinte Eva-Lotte. »Ich finde, sein letzter Platz war gerade spannend genug.«

»Nein … ich meine eine andere Art von spannendem Platz«, sagte Anders. Er zog die Schublade auf und betrachtete zartlich den Gro?mummrich, wie er da auf Watte in einer Zigarrenkiste lag. »Vieles sahen deine weisen Augen schon, o du Gro?mummrich«, flusterte er. Und mehr als je zuvor war er uberzeugt von der magischen Kraft des Heiligtums.

»Ich wei? etwas«, sagte Kalle. »Wir geben ihn einem der Rotlichen!«

»Was meinst du damit?« fuhr Eva-Lotte auf. »Sollen wir ihn etwa freiwillig an die Roten zuruckgeben?«

»Nein«, beruhigte Kalle. »Wir verstecken ihn bei einem von ihnen. Sie sollen ihn eine Zeitlang haben durfen, ohne es zu wissen. Und wenn sie von ihm nichts wissen, ist es doch genauso, als hatten sie ihn nicht. Und denkt nur, wie wild die werden, wenn wir es ihnen nachher erzahlen!«
        Anders und Eva-Lotte sahen ein, da? dieser Einfall genial war. Nach einem hinrei?enden Wortwechsel uber die verschiedenen Moglichkeiten wurde bestimmt, da? der Gro?mummrich in Sixtus’ Zimmer versteckt werden sollte, und sie beschlossen, sofort dorthin zu gehen, um einen passenden Platz ausfindig zu machen. Schnellstens lie?en sie sich am Seil hinunter, und mit Windeseile ging es zum Hauptquartier der Roten in Sixtus’ Garage.
        Ziemlich atemlos kamen sie bei der Postdirektorsvilla an. Sixtus, Benka und Jonte sa?en im Garten und tranken Fruchtsaft, als die Wei?en hineinsturmten. Anders verkundete die frohe Botschaft, da? Eva-Lotte nicht langer den Dienst mit der Waffe verweigere und da? deshalb der Krieg der Rosen erneut ausbre-chen konne.
        Die Roten horten diese Botschaft voll innerer Zufriedenheit.
        Eva-Lottes Entschlu?, fraulicher zu werden, hatte tiefe Mi?-stimmung bei ihnen hervorgerufen, und etwas Langweiligeres als die letzten Tage hatten sie noch nicht erlebt.
        Gastfreundlich bot Sixtus den Feinden Platz und Fruchtsaft an. Die Feinde lie?en sich dazu nicht zweimal auffordern - aber Anders sagte, listig wie eine Schlange:
»Konnten wir den Fruchtsaft nicht oben in deinem Zimmer trinken, Sixtus?«

»Was ist los mit dir, hast du einen Sonnenstich?« fragte ihn sein Gastgeber herzlich. »Oben sitzen, bei dem wunderbaren Wetter?«
        Sie tranken den Fruchtsaft drau?en in dem wunderbaren Wetter.

»Ich hatte mir gern dein Luftgewehr angesehen«, bat Kalle dann.
        Dieses Luftgewehr hing immer an der Wand in Sixtus’ Zimmer und war sein kostbarster Besitz. Er hatte es gezeigt und gezeigt und gezeigt, bis es schon zur Landplage geworden war. Es gab auf der Welt fur Kalle nichts Langweiligeres anzusehen als dieses Luftgewehr. Aber jetzt galt es eine gute Sache. Sixtus sprang auf.

»Mein Luftgewehr mochtest du sehen?« fragte er erfreut.

»Naturlich kannst du das!« Und er lief in die Garage und holte es.

»Was ist denn nun los?« sagte Kalle mi?mutig, »Hast du das Luftgewehr jetzt in der Garage?«

»Schon, nicht? Ein Gluck, da? ich es so schnell zur Hand habe!« sagte Sixtus und begann, Kalle seinen Schatz umstandlich zu erklaren.
        Anders und Eva-Lotte lachten, da? sie beinahe erstickten.
        Eva-Lotte sah ein: Wenn sie heute uberhaupt noch in Sixtus’ Zimmer kommen wollten, war weibliche List notig. Sie sah zu Sixtus’ Fenster hoch und meinte unschuldig:
»Du hast doch sicher eine prima Aussicht von deinem Fenster - wie?«

»Ja, da kannst du, was du willst, draus sehen«, bestatigte Sixtus stolz.

»Kann ich verstehen«, sagte Eva-Lotte. »Wenn die Baume dort nicht so hoch waren, konntest du beinahe den Wasserturm sehen.«

»Ich kann doch wohl zum Kuckuck den Wasserturm sehen!« emporte sich Sixtus.

»Ja, beim Kuckuck kann er den Wasserturm sehen«, bestatigte Benka, hilfsbereit wie immer.

»Kann er?« fragte Eva-Lotte. »Das mu?t du mir nicht einre-den wollen.«

»Lauter Lugen!« sagten Kalle und Anders mit brennender Uberzeugung in den Stimmen.
»Er kann den Wasserturm einfach nicht sehen, bestimmt nicht!«

»Bestimmt nicht«, affte Sixtus nach. »Kommt blo? mit rauf!
        Dann will ich euch Wasserturme zeigen, da? euch der Hut hochgeht, ihr blinden Bumskopfe!« Er ging voran, und alle sechs zogen ins Haus.
        Ein gro?er Hund, der im schattigen Vorraum auf dem Boden lag, sprang hoch und bellte, als sie kamen.

»Gut, gut, Beppo!« sagte Sixtus. »Das hier sind doch nur ein paar minderbegabte Idioten, die den Wasserturm sehen wollen.« Sie stiegen die Treppe empor in Sixtus’ Zimmer, und er fuhrte sie im Triumph an das Fenster.

»Da!« sagte er stolz. »So etwas nenne ich immer noch einen Wasserturm. Ihr konnt das meinetwegen einen Glockenturm oder sonstwie nennen.«

»Das hat gesessen, was?« meinte Jonte.

»Hm, tatsachlich«, sagte Eva-Lotte mit einem verachtlichen Lachen. »Du kannst den Wasserturm sehen. Bist du damit zufrieden?«

»Was meinst du damit?« fragte Sixtus argerlich.

»Ooch - ich meine nur so … Denk doch blo? mal an, einen Wasserturm sehen zu konnen
…« Und sie lachte aufreizend.
        Anders und Kalle waren an der Aussicht gar nicht interessiert.
        Ihre Augen jagten statt dessen rund durch das Zimmer, eifrig nach einem passenden Versteck fur den Gro?mummrich ausspahend.

»Hubsches Zimmer hast du«, sagten sie zu Sixtus, als waren sie nicht schon mehr als hundertmal hier gewesen. Sie kreisten rings um das Zimmer, sie druckten sich an den Wanden und an Sixtus’ Bett herum, und wie zerstreut zogen sie die Schubladen seines Schreibtisches heraus.
        Eva-Lotte war eifrig damit beschaftigt, die anderen am Fenster aufzuhalten. Sie zeigte auf alles, was noch irgendwie vom Fenster aus zu erkennen war, und das war nicht wenig.
        Auf der Kommode stand Sixtus’ Globus. Anders und Kalle hatten zu gleicher Zeit den gleichen Einfall: der Globus, naturlich!
        Sie sahen sich in die Augen und nickten dann bekraftigend.
        Von fruheren Besuchen bei Sixtus wu?ten sie, da? der Globus in zwei Halften zu zerlegen war. Sixtus hatte das aus Spa? ab und zu getan, und der Globus war deshalb rund um den Aquator leicht beschadigt. Nach diesem Globus zu urteilen, waren gro-
        - ere Teile von Aquatorialafrika noch nicht erforscht - so viele wei?e Flecken waren dort.
        Naturlich bestand das Risiko, da? Sixtus auf den Einfall kam, seine Weltkugel wieder einmal zu halbieren, und dann den Gro?mummrich fand, das sahen sowohl Anders als auch Kalle ein. Aber was ware ein Krieg der Rosen gewesen, wenn man keine Gefahren hatte auf sich nehmen wollen?

»Ich glaube, wir haben nun alles gesehen«, sagte Anders in unbestimmtem Tonfall zu Eva-Lotte, und sie verlie? erleichtert ihren Platz am Fenster.

»Ich denke, jetzt haben wir genug Aussichten gehabt. Mehr ist nicht notig«, sagte Kalle und grinste zufrieden. »Kommt, wir hauen ab!«

»Wow o?« fragte Eva-Lotte neugierig.

»Gog lol o bob u sos« sagte Kalle schnell.

»Fof ei non!« lobte Eva-Lotte.
        Sixtus glotzte sie wild und wutend an, als sie wieder zu roren anfingen, wie er es nannte.

»Kommt wieder mal vorbei, wenn ihr mehr Wasserturme sehen wollt«, war schlie?lich alles, was er sagte.

»Ja, tut das«, sagte Jonte und gonnte ihnen einen uberlege-nen Blick aus seinen pfefferbraunen Augen.

»Lausepudel«, meinte Benka zusammenfassend.
        Die Wei?en Rosen gingen zur Tur. Sie quietschte jammerlich, als sie sie offneten.

»Vornehmer Leute Turen quietschen,
        sagte die alte Mutter Pietschen …«
        deklamierte Anders. »Wie ware es, wenn du das Gequietsche mal ein wenig schmieren wurdest?«

»Wie ware es, wenn du nach Hause gehen und dir die Decke uber den Kopf ziehen wurdest?« sprach nun Sixtus in deklamie-rendem Ton.
        Die Wei?en kehrten in ihr Hauptquartier zuruck. Das Versteck war gefunden. Nun galt es zu uberlegen, wann und wie der Gro?mummrich dorthin kommen sollte.

»Wenn der Vollmond um Mitternacht leuchtet«, sagte Anders mit seiner tiefsten Stimme, »dann soll der Gro?mummrich an seinen neuen Ruheplatz gefuhrt werden. Und hier steht der Mann, der es tun wird!«
        Eva-Lotte und Kalle nickten bestatigend. Es war naturlich ein Punkt mehr fur die Wei?en, wenn die Uberfuhrung des Gro?mummrichs in Sixtus’ Zimmer geschah, wahrend Sixtus dort lag und schlief.

»Das hort sich gut an«, meinte Eva-Lotte und reichte eine gro?e Pralinenschachtel herum, die sie aus der Kommode geholt hatte. Sie konnte jetzt in Leckerbissen schwelgen, denn sie hatte Massen davon bekommen. Der Redakteur hatte richtig geschrieben: »Die kleine populare Eva-Lotte kann in diesen Tagen Beweise der Anerkennung von allen Seiten entge-gennehmen. Bekannte und Unbekannte erinnern sich ihrer und senden ihr Geschenke. Bonbons, Schokolade, Spielsachen, Bucher -das ist nur eine kleine Auswahl von all den guten Dingen, die ihr der nette Brieftrager Petersson taglich ins Haus tragt.«

»Was machst du aber, wenn Sixtus aufwacht?« fragte Kalle.
        Unberuhrt sah Anders ihn an: »Ich sage, ich ware gekommen, um ihm Wiegenlieder vorzusingen und um nachzusehen, ob er sich nicht blo?gestrampelt hat.«

»Hihihi«, lachte Kalle. »Hor mal, kleine populare Eva-Lotte, gib mir noch ein Stuck Konfekt! Dann wirst du noch einmal so popular.«
        Sie a?en, bis die Schachtel leer war, und machten Plane fur den Abend. Sie begeisterten sich an dem neuen Schlag gegen die Roten. Ja, der Krieg der Rosen war doch eine wundervolle Einrichtung! Schlie?lich verlie?en sie das Hauptquartier. Sie mu?ten noch »auf das Feld«, wie Anders es nannte. Irgendein Stichwort konnte moglicherweise auftauchen. Wenn nicht, fand sich vielleicht die Gelegenheit, ein kleines Scharmutzel mit den Roten zu provozieren. Sie lie?en sich am Seil hinunter, und Eva-Lotte sagte gedankenlos:

»Ja, ja, der Kindheit gluckliche Spiele, der Kindh…«
        Sie brach ihren Satz ab und wurde bleich. Ein Stohnen kam von ihren Lippen, und sie lief schnell davon. An diesem Tag spielte sie nicht mehr.
        ELFTES KAPITEL

»Heute nacht wird es passieren!« sagte Anders ein paar Tage spater.
        Verschiedene Umstande hatten es mit sich gebracht, da? das Unternehmen, den Gro?mummrich in Sixtus’ Globus zu uberfuhren, etwas aufgeschoben wurde. Erstens mu?te man ja den Vollmond abwarten. Vollmond mu?te sein. Das war magisch und gut und hatte au?erdem den Vorteil, da? man sich in einem Zimmer zurechtfinden konnte, ohne die Taschenlampe zu gebrauchen. Zweitens hatten sie beim Postdirektor in den letzten Tagen Besuch gehabt. Die beiden jungen Tanten von Sixtus waren gekommen.

»Und man kann sich unmoglich in ein Haus wagen, wo aus allen Ecken und Winkeln eine kleine Tante hervorsieht«, sagte Anders, als Kalle ihn fragte, ob es nun etwas werde oder nicht.

»Je mehr Tanten in einem Haus sind, desto gro?er ist die Moglichkeit, da? eine aufwacht und alles zuschanden schreit, verstehst du?«

»Ja, Tanten konnen einen sehr leichten Schlaf haben«, bestatigte Kalle.
        Sixtus bekam jetzt zu seiner gro?ten Verwunderung haufig unruhige Fragen gestellt, wie es seinen Tanten gehe und wie lange sie noch bleiben wollten. Schlie?lich wurde er nervos.

»Was soll das ewige Gefrage nach meinen Tanten?« sagte er, als Anders zum zehntenmal davon anfing. »Haben sie dir was getan?«

»Nein, naturlich nicht«, sagte Anders zahm.

»Na also«, sagte Sixtus. »Ich glaube, sie fahren am Montag wieder ab. Traurig genug. Ich kann sie gut leiden, besonders Tante Ada.« Nach diesem Bescheid getraute sich Anders nicht, wieder zu fragen. Sixtus konnte mi?trauisch werden.
        Jetzt aber war Montag. Anders hatte gesehen, wie die Frau Postdirektor mit ihren Schwestern zum Fruhzug gegangen war, und heute nacht sollte Vollmond sein.

»Heute nacht wird es passieren!« sagte Anders entschlossen.
        Sie sa?en in der Laube beim Backermeister und a?en frische Schnecken, die Eva-Lotte gerade ihrem schwachen Vater in der Backstube abgeluchst hatte. Vor einer Weile waren die Roten vorbeigezogen. Sie wollten zu ihrem neuen Hauptquartier im Herrenhof. Es waren ja nun dort keine Polizisten mehr. Die Prarie lag wieder friedlich und still. Der Herrenhof war als Un-terschlupf viel zu gut, um aufgegeben zu werden, und die Roten hatten alles, was in der Nahe geschehen war, aus ihrem Gedachtnis gestrichen.

»Wenn ihr Appetit auf die Rute habt, kommt nur raus zum Herrenhof«, schrie Sixtus, als er bei Backermeisters vorbeiging.
        Eva-Lotte schuttelte sich. Zum Herrenhof wollte sie nicht hinaus, unter keinen Umstanden!

»Puh, bin ich satt!« sagte Kalle, als die Roten verschwunden waren und er seine siebente Schnecke verzehrt hatte.

»Aber ich erst!« sagte Anders und beklopfte seinen Magen.

»Schadet aber nichts, wir haben heute gekochten Schellfisch zu Mittag.«

»Man soll so intelligent werden nach Fisch«, meinte Eva-Lotte.

»Du solltest ruhig mehr gekochten Schellfisch essen, Anders.«

»Kaum«, meinte Anders. »Erst mu? ich einmal wissen, wie intelligent ich davon werde und wieviel Fisch ich essen mu?.«

»Es kommt naturlich etwas darauf an, wie intelligent man vorher ist«, mischte sich Kalle ein. »Fur dich, Anders, reicht sicher ein normalgro?er Walfisch in der Woche ganz bequem aus.«
        Als Anders Kalle dreimal um die Laube gejagt hatte und der Frieden wiederhergestellt war, sagte Eva-Lotte: »Ich bin neugierig, ob heute einige neue Gaben im Postkasten liegen. Ich verstehe nicht, was die Menschen sich so denken. In dieser Woche habe ich nur sechs Pfund Schokolade bekommen. Ich werde die Post anrufen und mich beschweren.«

»Rede bitte nicht von Schokolade!« sagte Anders voller Abscheu, und auch Kalle verzog das Gesicht. Sie hatten tapfer gegen die Sturmflut von Su?igkeiten, die uber Eva-Lotte herein-gebrochen war, angekampft, aber jetzt schafften sie es nicht mehr.
        Trotzdem kam Eva-Lotte vom Postkasten unten am Zaun mit einem dicken Umschlag in der Hand zuruck. Sie ri? ihn auf, und da hatte sie tatsachlich eine Tafel Schokolade, eine gro?e, stattliche Tafel Milchschokolade. Kalle und Anders sahen auf die Tafel, als ob es Rizinusol sei.

»Schrecklich!« stohnten sie.

»Oho!« Eva-Lotte tat harmlos. »Der Tag kann kommen, wo ihr Borke unter die Schokolade mischen mu?t.«
        Sie brach die Tafel auseinander und zwang erbarmungslos jedem eine Halfte auf. Sie nahmen sie entgegen ohne eine Spur von Begeisterung, nur um ihr gefallig zu sein. Gleichgultig stopften sie ihre Schokoladenstucke in die sowieso schon uberfullten Hosentaschen.

»So ist es recht«, lobte Eva-Lotte sie. »Spare in der Zeit, so hast du in der Not.
        Den Umschlag warf sie zusammengeknullt uber den Zaun auf die Stra?e.

»Was machen wir nun?« fragte sie.

»Hort mal, wir radeln los und baden«, sagte Kalle. »Mehr bekommen wir heute doch nicht zu tun.«

»Du hast recht«, meinte Anders. »Wir konnen wahrhaftig bis zum Abend Waffenstillstand eintreten lassen.«
        Zwei Minuten spater kam Benka, von Sixtus ausgeschickt, um mit zweckma?igen Schmahungen die Wei?en zum Kampf zu reizen. Aber die Laube war leer. Nur eine kleine Bachstelze sa? auf der Schaukel und pickte ein paar Krumel auf.
        Um Mitternacht, als der Vollmond leuchtete, schliefen Kalle und Eva-Lotte ruhig in ihren Betten. Nur Anders war wach.
        Auch er war in gewohnter Weise zu Bett gegangen. Er brachte hochst kunstvolle Schnarchtone hervor, damit seine Eltern glaubten, er schlafe. Der Erfolg war, da? seine Mutter ganz beunruhigt an sein Bett kam und ihn fragte:

»Was hast du, Junge, ist dir schlecht?«

»I wo«, sagte Anders und bemuhte sich anschlie?end, nicht ganz so laut zu schnarchen.
        Als er endlich das leichte Atmen seiner kleinen Geschwister und die tiefen, gleichma?igen Atemzuge seiner Eltern horte, wu?te er, da? alles schlief. Er schlich vorsichtig in die Kuche.
        Dort lagen seine Kleider auf einem Stuhl. Unruhig horchte er in das Zimmer zuruck. Aber alles schlief weiter, und schnell fuhr er in Hose und Hemd. Dann tappte er leise und vorsichtig die Treppe hinunter. Und er brauchte nicht viel Zeit, bis er auf dem Backereiboden stand, um den Gro?mummrich zu holen.

»O erhabener Gro?mummrich«, flusterte er, als er die Kommodenschublade wieder zuschob, »halte nun deine machtige, starke Hand uber mein Beginnen; denn wei?t du, ich glaube, es ist notig.«
        Die Nachtluft war kuhl, und er frostelte unter seinen dunnen Kleidern. Ein wenig war wohl auch die Aufregung schuld. Es war schon ein merkwurdiges Gefuhl, hier so in der Nacht unterwegs zu sein, wahrend andere Menschen schliefen. Fest um-spannte seine Hand den Gro?mummrich, als er uber Eva-Lottes Zaun sprang. Wie dunkel die Erlen am Ufer standen. Der Flu? aber glitzerte im Mondschein.

»Bald sind wir am Ziel, o Gro?mummrich«, flusterte er fur den Fall, da? der Gro?mummrich ungeduldig werden sollte. Ja, bald waren sie am Ziel. Da lag die Villa des Postdirektors so dunkel und still, als wenn auch sie schliefe. Alles war ruhig. Nur die Heimchen zirpten.
        Anders hatte damit gerechnet, da? mindestens ein Fenster im Hause offenstehen wurde, und seine Hoffnung erfullte sich. Fur einen durchtrainierten Jungen wie Anders durfte es nicht schwer sein, in das Kuchenfenster hineinzukommen. Den Gro?mummrich steckte er in die Hosentasche. Sicher war dieser Platz nicht eines Gro?mummrichs wurdig; aber es mu?te sein - Anders brauchte beide Hande frei.

»Verzeih mir, o Gro?mummrich«, bat er ihn leise.
        Seine Finger fuhren in die Tasche, und er war sehr erstaunt, als sie sich um etwas Klebriges legten, das vorher ein Stuck Schokolade gewesen war. Anders war nicht mehr so uberfuttert wie am Morgen, und er fuhlte schon, wie dieser klebrige Klo? ihm gro?artig schmecken wurde. Aber es sollte eine Belohnung werden nach vollbrachter Tat. Er schob den Gro?mummrich in die andere Hosentasche und leckte vorerst nur die Finger ab.
        Dann zog er sich behutsam zum Kuchenfenster hoch und wollte hinein.
        Ein dumpfes Knurren erschreckte ihn so furchtbar, da? er dachte: Jetzt werde ich wahnsinnig - Beppo! Nicht einen Augenblick lang hatte er an Beppo gedacht! Und doch hatte er sofort wissen mussen, da? dieses Fenster nur offengelassen war, um Beppo Gelegenheit zu geben, des Nachts aus dem Hause zu kommen - falls er mu?te und wollte.

»Beppo«, flusterte Anders beruhigend. »Beppo, ich bin es doch blo?.«
        Als Beppo merkte, da? es nur einer von den Spa?machern war, die Herrchen immer mitzubringen pflegte, ging sein Knurren in entzucktes Gebell uber.

»Ach du gutes, kleines, su?es, liebes Beppochen, kannst du nicht leise sein?« bat Anders.
        Aber Beppo fand, wenn man frohlich war, sollte man es auch zeigen und tuchtig bellen und mit dem Schwanz wedeln. Und beides tat er ganz energisch.
        In seiner Not fischte Anders das Schokoladenstuck hervor und hielt es ihm unter die Nase.

»Hier, sei nur still, dann bekommst du es«, flusterte er.
        Beppo schnuffelte an der Schokolade. Und da er fand, da? die Begru?ungsfeierlichkeiten gerade so lange gedauert hatten, wie es die Wurde und der Anstand des Hauses erforderten, horte er auf zu bellen und legte sich zufrieden nieder, um den herrlichen Klebeklo? zu genie?en, den ihm sein Gast - sicher fur den freundlichen und lautstarken Empfang - spendiert hatte.
        Anders seufzte erleichtert auf und offnete die Tur, die in den Vorraum fuhrte, so behutsam wie irgend moglich. Da war die Treppe, auf der er nach oben wollte …
        Da ging oben jemand! Jemand kam mit schweren Schritten die Treppe herunter. Der Postdirektor kam, in eigener Person, barfu? und im Nachthemd. Beppos Bellen hatte ihn geweckt, und nun wollte er sehen, was los war.
        Einen Augenblick stand Anders wie versteinert. Dann aber sammelte er all seine seelische Kraft, und im selben Moment kroch er auch schon schnell hinter einige Mantel, die in einer Ecke des Vorraums an ihren Haken hingen.
        Wenn ich nach diesem Unternehmen nicht in einer Nerven-heilanstalt lande, habe ich Nerven wie Tarzan, dachte er. Erst jetzt fiel ihm ein, da? die Postdirektorfamilie moglicherweise gar nichts davon hielt, wenn man nachts durch ihre offenen Fenster ins Haus kletterte. Da? Sixtus so etwas nur naturlich finden wurde, war klar; aber er war ja auch am Krieg der Rosen beteiligt. Anders schauderte bei dem Gedanken, was der Postdirektor wohl mit ihm machen wurde, wenn er ihn fand. Er schlo? die Augen und betete still vor sich hin, als der Postdirektor, bose murmelnd, ganz dicht an den Manteln voruberging, hinter denen er stand.
        Der Postdirektor offnete die Tur zur Kuche. Da lag Beppo im Mondschein und sah ihn an.

»Na, mein Junge«, sagte der Postdirektor, »was schimpfst du denn hier in der Nacht herum?«
        Beppo antwortete nicht. Vorsichtig legte er seine Pfote auf den herrlichen Klebeklo?. Herrchens Vater hatte namlich oft wunderliche Einfalle. Gestern erst hatte er Beppo einen fetten alten Knochen weggenommen, den Beppo gerade auf dem Her-renzimmerteppich verzehren wollte. Niemand konnte daher wissen, ob er die richtige Einstellung zu so einem Schokoladenklo? hatte. Um ganz sicherzugehen, gahnte Beppo und legte eine gleichgultige Miene auf sein Hundegesicht. Der Postdirektor beruhigte sich. Der Ordnung wegen sah er aber doch noch aus dem Fenster.

»Ist dort jemand?« rief er leise. Nur der Nachtwind antwortete ihm.
        Das Gemurmel von Anders hinter den Manteln konnte er nicht horen: »Nein, nein, hier ist niemand. Ich erklare, hier findet sich nicht einmal eine Laus.«
        Lange stand Anders in seinem Versteck. Er getraute sich nicht eher, eine Bewegung zu machen, als bis er sicher war, da? der Postdirektor wieder eingeschlafen war. Es war sehr langweilig fur ihn. Bald hatte er das Gefuhl, als habe er die beste Zeit seiner Jugend hier hinter den Manteln zugebracht - und immer mit den kitzelnden Wollfusseln vor seiner Nase. Er war eine be-triebsame Natur, und untatig sein war eine Qual fur ihn.
        Schlie?lich hielt er es nicht mehr aus. Er kam aus seinem Gefangnis hervor und begann, vorsichtig die Treppe hinauf zuklimmen. Bei jedem Schritt blieb er stehen und lauschte, aber es war kein Laut zu horen. »Das geht ja gro?artig«, sagte er, opti-mistisch wie immer.
        Die quietschende Tur in Sixtus’ Zimmer beunruhigte ihn ein wenig. Sachte druckte er die Turklinke herunter, um zu probieren. Die Tur offnete sich lautlos - sie war tatsachlich geolt worden. Anders lachte in sich hinein. Nun hatte Sixtus die Tur zu seinem eigenen Schaden geolt. Was hatte man doch fur nette Feinde! Man brauchte nur auf eine kleine Unbequemlichkeit hinzuweisen, und - schwupp - schon halfen sie einem, so da? man sich bestens bei ihnen einschleichen konnte.

»Vielen Dank, mein lieber Sixtus«, dachte Anders und warf einen Blick zu Sixtus’ Bett hinuber. Da schlief er nun, der arme Kerl, und ahnte nichts davon, da? heute nacht der Gro?mummrich in sein Haus einzog.
        Der Globus stand mitten im flie?enden Mondlicht auf der Kommode. Anders’ flinke Finger hatten ihn schnell auseinan-dergenommen. Welch ein gro?artiger Platz fur einen Gro?mummrich! Eifrig nahm er das Heiligtum aus seiner Hosentasche und legte es an seinen Platz.

»Eine kurze Zeit nur, o Gro?mummrich!« sagte er, als er fertig war. »Eine Weile mu?t du unter den Heiden, die das Gesetz nicht anerkennen, leben. Dann aber werden dir die Wei?en Rosen wieder eine Freistatt bei christlichen und ehrlichen Menschen geben.«
        Eine Schere lag neben dem Globus. Und als Anders sie sah, hatte er einen Genieblitz. Wenn ein Mann in der Nahe seines schlafenden Feindes war, so war es doch ublich, da? er einen Zipfel von dessen Mantel abschnitt zum Zeichen dafur, wie nahe er ihm gewesen war. So geschah es stets in alten Zeiten. Jedenfalls schrieben die Bucher davon. Das war eine hervorragende Art, dem Feinde zu zeigen, da? man ihn in der Gewalt gehabt, aber voller Edelmut Abstand davon genommen hatte, ihm etwas zu tun. Am nachsten Tag konnte man dann erscheinen und seinem Feind mit dem Mantelflicken vor der Nase herum-fuchteln und sagen: »Danke mir auf den Knien, da? du noch lebst, du elender Flegel.«
        Das war genau das, was Anders tun wollte. Nun trug ja Sixtus allerdings im Bett keinen Mantel. Aber er hatte Haare, einen gro?en, prachtigen Schopf roter Haare. Und eine Locke von diesem Schopf gedachte Anders zu kappen. Ha, wenn dann der Tag kam, an dem der Gro?mummrich wieder woanders in gutem Verwahr lag, sollten die Roten zu fuhlen bekommen, da? sie noch lebten! Da sollten sie die bittere Wahrheit uber den Gro?mummrich im Globus erfahren! Und dann sollten sie diese Haarlocke sehen, die der Chef der Wei?en Rosen um Mitternacht, als der Vollmond schien, von der Stirn des Hauptlings der Roten Rosen geschnitten hatte. Welch ein gigantischer Doppeltriumph!
        Der Vollmond schien indessen nicht auf Sixtus’ Bett. Das Bett stand hinten an der Wand, wo es vollstandig dunkel war.
        Aber Anders tastete sich mit einer Hand vorsichtig naher. In der anderen hatte er die Schere. Wehrlos lag er da, der Hauptling der Roten. Da lag sein Kopf auf dem Kissen. Anders nahm mit zartlichem, aber doch festem Griff eine Locke und schnitt sie ab.
        Da gellte ein wilder Schrei durch die Stille der Nacht. Und das war kein Schrei aus einer rauhen, unebenen Stimmbruch-kehle - das war ein heller Frauenschrei!
        Anders fuhlte das Blut in seinen Adern einfrieren. Ein nie ge-kanntes Entsetzen ergriff ihn, und er warf sich blindlings gegen die Tur. Er sprang auf das Treppengelander, und wie ein Blitz rutschte er abwarts. Er ri? die Kuchentur auf und war mit zwei Riesenschritten am Fenster. Und er sprang ins Freie mit einem so rasenden Satz, als liefen alle zur Zeit vorhandenen bosen Geister und Gespenster hinter ihm her. Nicht eher stand er still, als bis er an der Brucke war. Da mu?te er etwas Atem schopfen.
        Die Locke hatte er noch immer in seiner Faust. Er hatte nicht gewagt, sie fortzuwerfen.
        Japsend stand er da im Mondlicht und sah verzweifelt auf das Entsetzliche, was er in der Hand hatte. Es war nicht eine, es waren viele blonde Locken, und sie hatten einst zweifellos einer Tante gehort, gleichviel welcher. Wahrscheinlich war nur eine mit dem Fruhzug abgefahren. Wer konnte das auch ahnen! Hatte er es nicht gesagt: Es war lebensgefahrlich, sich in ein Haus zu wagen, wo aus jeder Ecke eine kleine Tante hervorsah.
        Welche Schmach! Welche Schande! Auf den Skalp des Roten Hauptlings aus zu sein und nach Hause zu kommen mit den Locken einer blonden Tante! Anders zitterte. Das war das Schlimmste, was ihm jemals passiert war. Und er beschlo?, keinem lebenden Menschen ein Sterbenswort davon zu erzahlen.
        Bis an das Ende seiner Tage sollte dies sein furchterliches Geheimnis bleiben, und dann wollte er es mit hinunter in sein Grab nehmen.
        Die Locken aber mu?te er sofort loswerden. Er streckte die Hand uber das Bruckengelander und lie? die Haare los. Und das schwarze Wasser nahm sein Geschenk schweigend entgegen. Es brodelte nur ein wenig unter dem Bruckenbogen, wie es immer tat.
        In der Postdirektorsvilla herrschte unterdessen wilder Auf-ruhr. Angstlich kamen der Postdirektor und seine Frau zu Tante Ada gelaufen. Auch Sixtus kam vom Boden, wo er wahrend des Tantenbesuchs hausen mu?te, angeschossen.
        Warum in aller Welt schrie Tante Ada mitten in der Nacht so laut? wollte der Postdirektor wissen. Ja, weil ein Einbrecher hier gewesen war, behauptete Tante Ada. Der Postdirektor machte im ganzen Haus Licht, uberall wurde gesucht, aber von einem Einbrecher fand sich keine Spur. Das Tischsilber war noch da. Nicht ein Stuck fehlte. Ja, Beppo! Er war wohl ein bi?chen in den Garten gegangen, wie er es ab und zu tat. Ware wirklich ein Einbrecher hier gewesen, hatte Beppo bestimmt Larm gemacht, das konnte Tante Ada schon glauben. Sicher hatte sie nur einen unangenehmen Traum oder Alpdrucken gehabt - das war wohl alles. Und sie streichelten sie trostend und sagten, nun solle sie nur ruhig weiterschlafen. Es sei gewi? alles gut.
        Als aber Tante Ada wieder allein war, konnte sie vor Unruhe nicht einschlafen. Keiner sollte sie Lugen strafen, keiner sagen, es sei niemand in ihrem Zimmer gewesen! Um sich zu beruhigen, zundete sie sich eine Zigarette an. Dann nahm sie ihren Spiegel hervor, um nachzusehen, ob der ausgestandene Schreck Spuren auf ihrem hubschen Gesicht hinterlassen hatte.
        Da sah sie es! Der Besuch hatte Spuren hinterlassen! Sie hatte eine neue Frisur bekommen! Eine ganze Strahne von ihrem Haar war fortgeschnitten worden. Sie hatte plotzlich eine nette, pikante Ponyfrisur. Verstort sah sie auf ihr Spiegelbild. Langsam aber verklarte sich ihr Gesicht. Irgend jemand, wer es auch war, war so narrisch gewesen, sich mitten in der Nacht in das Haus zu schleichen, nur um eine Locke von ihrer Stirn zu erha-schen. Eine Weile dachte sie daruber nach, wer wohl der unbekannte Bewunderer sein konnte; aber es war und blieb ein Ratsel fur sie. Tante Ada beschlo? gro?mutig, dem »Wer-es-auch-war« zu verzeihen. Und verraten wurde sie ihn auch nicht.
        Mochten die anderen es nur weiter fur einen Traum halten.
        Tante Ada seufzte und kroch wieder in ihr Bett. Sie beschlo?, morgen zum Friseur zu gehen und die Ponyfrisur noch ein Spurchen kurzer machen zu lassen.
        ZWOLFTES KAPITEL
        Ein neuer Tag begann, und im Garten des Backermeisters warteten Kalle und Eva-Lotte schon seit dem fruhen Morgen auf Anders und seinen Bericht uber das nachtliche Unternehmen.
        Aber die Stunden gingen, und von Anders horten sie nichts.

»Eigenartig«, sagte Kalle. »Er ist doch wohl nicht wieder gefangen worden?«
        Sie wollten sich gerade auf die Suche nach ihm begeben, als er endlich kam. Er lief nicht, wie er es sonst tat, sondern ging langsam und war seltsam bla?.

»Wie siehst du elend aus«, sagte Eva-Lotte. »Bist du auch so ein ›Opfer der Hitze‹, wie immer in der Zeitung steht?«

»Ich bin ein Opfer von gekochtem Schellfisch«, sagte Anders.

»Gekochten Schellfisch, das habe ich meiner Mutter schon wer wei? wie oft gesagt, vertrage ich nicht. Und jetzt ist es endlich bewiesen.«

»Wie denn?« wollte Kalle wissen.

»Raus aus dem Bett - rein ins Bett. Die ganze Nacht erbrochen.«

»Und der Gro?mummrich?« fragte Kalle. »Der liegt wohl immer noch in der Kommode, was?«

»Jungchen, das habe ich naturlich vorher erledigt! Ich erledige alles, was zu erledigen ist, mogen die Sturme auch in mir toben. Der Gro?mummrich liegt in Sixtus’ Globus!«

»Fein!« sagte Kalle. »Erzahle! Ist Sixtus aufgewacht?«

»Beruhigt euch! Ihr werdet schon horen!« sagte Anders.
        Sie sa?en zu dritt auf Eva-Lottes Steg. Hier unten am Flu? war es kuhl, und die Erlen gaben einen behaglichen Schatten.
        Mit den Beinen baumelten sie in dem lauen Wasser. Anders sagte, das habe eine beruhigende Wirkung auf den Schellfisch in seinem Magen.

»Vielleicht, wenn ich so daruber nachdenke, war es nicht nur der Schellfisch. Vielleicht waren es auch noch die Nerven. Denn heute nacht bin ich im Haus der Schrecken gewesen.«

»Erzahle alles von Anfang an«, sagte Eva-Lotte.
        Das tat Anders. Sehr dramatisch schilderte er seine Begeg-nung mit Beppo und wie er ihn zum Schweigen gebracht hatte.
        Kalle und Eva-Lotte waren ein paar ideale Zuhorer. Sie freuten sich uber alles und brullten vor Lachen, und Anders geno? es, ihnen seine Abenteuer zu erzahlen.

»Ihr versteht doch, hatte ich Beppo nicht die Schokolade gegeben - ich ware verloren gewesen!«

»Gut, da? die Leute mir so viel Schokolade schicken«, sagte Eva-Lotte.
        Dann schilderte Anders die beinahe noch schlimmere Begeg-nung mit dem Postdirektor.

»Hattest du ihm nicht auch etwas Schokolade geben konnen?« fragte Kalle.

»Nein, Beppo hatte alles bekommen«, sagte Anders.

»Und wie ging es weiter?« Eva-Lotte war ganz aufgeregt vor Neugier.
        Anders erzahlte, wie es weitergegangen war. Er erzahlte alles, von Sixtus’ Tur, die nicht mehr quietschte, und von Sixtus’ Tante, die um so mehr quietschte, und wie ihm das Blut eingefroren war, als er es horte, und wie er Hals uber Kopf hatte fliehen mussen. Das einzige, wovon er nicht sprach, waren die tantli-chen Locken, die er in den Flu? versenkt hatte. Kalle und Eva-Lotte fanden alles spannender als eine Abenteuergeschichte, und sie wurden nicht mude, winzige Einzelheiten immer wieder horen zu wollen.

»Was fur eine Nacht!« schwarmte Eva-Lotte, als Anders endlich fertig war.

»Ja, es ist gar kein Wunder, wenn man vorzeitig altert«, sagte Anders. »Aber die Hauptsache ist doch, da? der Gro?mummrich dort liegt, wo er liegen soll.«
        Kalle planschte wild mit den Fu?en im Wasser. »Ja, der Gro?mummrich liegt bei Sixtus im Globus«, triumphierte er.

»Konntet ihr euch etwas ausdenken, was so raffiniert ist wie gerade das?«
        Nein, das konnten weder Anders noch Eva-Lotte. Und ihr Entzucken wurde noch gro?er, als sie sahen, wie Sixtus, Benka und Jonte am Flu? auf sie zutrabten.

»Sieh mal einer an, was sitzen denn da fur niedliche Wei?e Rosen auf dem Ast?« sagte Sixtus, als sie den Steg erreicht hatten.
        Benka versuchte sofort, die Wei?en Rosen in den Flu? zu walzen, aber Sixtus hinderte ihn daran. Die Roten waren nicht gekommen, um zu streiten, sondern um zu klagen. Nach den Gesetzen, die im Krieg der Rosen herrschten, war doch der, der im Augenblick den Gro?mummrich besa?, verpflichtet, zumindest einen Fingerzeig daruber zu geben, wo das Heiligtum eventuell zu finden sei. Hatten die Wei?en das getan? Gewi? hatte der Chef der Wei?en, als er gekitzelt wurde, etwas von dem kleinen Pfad hinter dem Herrenhof hervorgesto?en, und der Sicherheit wegen hatten die Roten gestern die ganze Nachbarschaft dort drau?en noch einmal durchsucht. Jetzt aber waren sie uberzeugt davon, da? die Wei?en den Gro?mummrich an einen neuen Platz gebracht hatten, und verlangten nun hoflich, aber bestimmt den schuldigen Hinweis.
        Anders kletterte ins Wasser. Es reichte ihm nicht weiter als bis an die Knie. Breitbeinig stand er dort, die Hande in die Seiten gestemmt, und seine dunklen Augen glanzten munter und voller Freude.

»Gut, ihr sollt einen Fingerzeig haben«, sagte er. »Sucht im Innern der Erde!«

»Danke, das ist ja sehr freundlich«, meinte Sixtus sarkastisch.

»Sollen wir hier anfangen oder auf der Konigstra?e in Stockholm?«

»Wirklich ein feiner Fingerzeig«, sagte Jonte. »Ihr sollt sehen, sicher finden unsere Kindeskinder den Gro?mummrich, bevor sie ins Grab steigen.«

»Ja, aber dann haben sie schon Schwielen an den Handen«, meinte Benka.

»Benutzt euren Verstand, rote Zwerge, falls ihr so etwas uberhaupt besitzt«, sagte Anders lachend. Und dramatisch setzte er hinzu: »Wenn der Rote Chef zu sich nach Hause geht und im Innern der Erde sucht, wird alles offenbar werden.«
        Kalle und Eva-Lotte zappelten ubermutig mit den Fu?en im Wasser herum und kicherten heftig. »Sehr wahr! Sucht im Innern der Erde«, sagten sie und sahen sehr geheimnisvoll aus.

»Lausepudel!« sagte Sixtus.
        Dann gingen die Roten zu Sixtus und begannen umfangrei-che Ausgrabungen im Garten des Postdirektors. Den ganzen Vormittag gruben und wuhlten sie an allen Stellen, die nur im geringsten verdachtig aussahen.
        Endlich kam der Postdirektor und fragte, ob es notwendig sei, seinen Rasen vollig zu zerstoren, oder ob sie freundlicherweise auch mal einen anderen Garten heimsuchen wollten.

»Ubrigens finde ich, Sixtus, du solltest lieber Beppo suchen«, sagte er.

»Ist Beppo noch immer nicht da?« fragte Sixtus und lie? den Spaten fallen. »Wo kann er denn nur sein?«

»Das, glaubte ich ja, solltest du herausbekommen«, meinte sein Vater.
        Sixtus sprang auf. »Kommt ihr mit?« fragte er Benka und Jonte.
        Ohne Frage wollten Benka und Jonte mit. Und es gab noch andere, die helfen wollten, Beppo zu suchen. Kalle, Eva-Lotte und Anders, die die letzte Stunde uber hinter der Hecke gelegen und die beharrliche Graberei der Roten bewundert hatten, kamen hervor und boten ihre Hilfe an. Sixtus nahm das Angebot dankbar an. In der Stunde der Not gab es keine Feinde. Voll inneren Einverstandnisses zog die Gemeinde von dannen.

»Er geht sonst nie weg«, sagte Sixtus bekummert, »jedenfalls niemals mehr als ein paar Stunden. Aber jetzt ist er ja seit gestern abend elf Uhr weg!«

»Nein, seit zwolf ungefahr«, sagte Anders, »denn …«
        Er unterbrach sich und wurde knallrot.

»Na ja, meinetwegen seit zwolf dann«, sprach Sixtus gedankenlos nach. Dann aber sah er plotzlich Anders mi?trauisch an:

»Na, bei allen Katzen, woher wei?t du das ubrigens?«

»Ich bin so ein Hellseher, wei?t du«, sagte Anders hastig.
        Er hoffte, da? Sixtus nicht naher auf das Thema eingehen wurde. Denn er konnte doch unmoglich erzahlen, da? er Beppo ungefahr um zwolf Uhr, als er mit dem Gro?mummrich unterwegs war, in der Kuche gesehen hatte, da? er aber fort war, als er ungefahr eine Stunde spater aus dem Fenster entfloh.

»Ist ja reizend, da? man so bei kleinem die Hellseher zusam-menbekommt«, sagte Sixtus. »Sei so gut und sieh mal hell, wo Beppo jetzt gerade steckt.«
        Anders aber erklarte, da? er nur Hellseher fur Zeit, aber nicht fur Orte sei.

»Und wie spat wird es sein, wenn wir Beppo finden?«

»Wir finden ihn in ungefahr einer Stunde«, sagte Anders uberzeugt. Hierin aber irrte sich der Hellseher. Ganz so schnell ging es nun doch nicht.
        Sie suchten uberall. Sie suchten in der ganzen Stadt. Sie fragten an allen Stellen, wo es Hunde gab, die Beppo zu begru?en pflegte. Sie fragten jeden, den sie trafen. Niemand hatte Beppo gesehen. Er war verschwunden. Sixtus war nun vollig still geworden. Die Tranen kamen ihm vor Unruhe. Aber zeigen konnte er das auf keinen Fall. Er putzte sich nur auffallend oft die Nase.

»Es mu? ihm etwas passiert sein«, sagte er immer wieder.

»Niemals war er so lange weg.«
        Die anderen versuchten, ihn zu trosten. »Ach, ihm ist schon nichts passiert«, sagten sie. Aber sie waren selbst weit entfernt davon, so uberzeugt zu sein, wie sie vortauschten. Stumm gingen sie eine Weile nebeneinanderher.

»Er war so ein feiner Hund«, sagte Sixtus schlie?lich mit zitternder Stimme. »Er verstand alles, was man zu ihm sagte.«
        Dann mu?te er sich wieder die Nase putzen.

»La? das sein, so zu reden«, sagte Eva-Lotte. »Du redest, als ob er tot ware.«
        Sixtus antwortete darauf nicht.

»Er hatte so treue Augen«, fand Kalle. »Ich meine: Er hat so treue Augen«, beeilte er sich zu verbessern.
        Dann war wieder eine lange Zeit alles still. Als es zu druckend wurde, sagte Jonte: »Ja, Hunde sind feine Tiere.«
        Sie waren jetzt auf dem Heimweg. Es lohnte sich nicht mehr zu suchen. Sixtus ging einen halben Meter vor den anderen und stie? einen Stein vor sich her. Und sie verstanden genau, wie traurig er war.

»Denk nur, Sixtus, wenn Beppo nach Hause gekommen ist, wahrend wir unterwegs waren und so lange suchten«, sagte Eva-Lotte hoffnungsvoll.
        Sixtus blieb mitten auf der Stra?e stehen. »Wenn das wahr ist, wenn Beppo nach Hause gekommen ist, dann werde ich ein guter Mensch. Oh, welch ein guter Mensch will ich werden! Ich will mir jeden Tag die Ohren waschen, und immer, wenn Mutter etwas von mir will …«
        Voll neuer Hoffnung begann er zu laufen. Die anderen folgten ihm, und sie wunschten alle brennend, da? Beppo am Zaun stehen und bellen moge, wenn sie zur Postdirektorsvilla kamen.
        Aber da stand kein Beppo. Sixtus’ gro?zugiges Versprechen der Ohrenwaschung hatte auf die Machte, die das Leben und die Schritte der Hunde lenkten, keinen Einflu? gehabt. Und die Hoffnung war bereits in Sixtus’ Brust gestorben, als er seiner Mutter, die auf der Veranda sa?, zurief: »Ist Beppo zuruckgekommen?«
        Sie schuttelte den Kopf. Sixtus sagte nichts. Er ging in den Garten und setzte sich ins Gras. Die anderen folgten ihm. Sie lagerten sich stumm um ihn. Es gab ja keine Worte, so eifrig sie auch danach suchten.

»Ich hatte ihn, seit er ein kleiner Welpe war«, erklarte Sixtus mit undeutlicher Stimme. Sie mu?ten doch verstehen: Wenn man einen Hund gehabt hatte, seit er ein kleiner Welpe war, dann war man schon berechtigt, rote Augen zu haben, wenn er verschwand. »Und wi?t ihr, was er mal tat?« fuhr Sixtus fort, wie um sich selbst zu qualen. »Damals, als ich nach der Blind-darmoperation aus dem Krankenhaus kam? Da kam mir Beppo am Zaun entgegen, und da war er so froh, mich zu sehen, da? er mich doch umschmi?, und die ganze Wunde sprang wieder auf!«
        Alle waren davon tief geruhrt. Einen gro?eren Beweis von Liebe konnte ein Hund gewi? nicht erbringen, als seinen Herrn umzuschmei?en, so da? die Blinddarmnaht wieder aufri?. »Ja, Hunde sind feine Tiere«, bestatigte Jonte noch einmal.

»Besonders Beppo«, sagte Sixtus und putzte sich die Nase.
        Kalle wu?te nachher nicht mehr, woher ihm der Einfall gekommen war, in den Holzschuppen des Postdirektors zu sehen.
        Eigentlich war es richtig narrisch, das fand er selbst. Denn wenn Beppo dort eingeschlossen worden ware, dann hatte er sicher so lange gebellt, bis man ihn wieder herausgelassen hatte. Aber auch wenn es keinen vernunftigen Grund dafur gab, in den Holzschuppen zu sehen, - Kalle tat es trotzdem. Er offnete die Turen ganz weit, so da? das Tageslicht den ganzen Schuppen erfullte. Und weit hinten in einer Ecke lag Beppo. Ganz still lag er dort, und eine verzweifelte Sekunde lang war Kalle sicher, da? er tot war. Aber als Kalle naher kam, hob der Hund muhsam den Kopf und winselte schwach. Da sturzte Kalle ins Freie und schrie mit der ganzen Kraft seiner Lungen:

»Sixtus! Sixtus! Er ist hier! Er liegt im Holzschuppen!«

»Mein Beppo! Mein armer kleiner Beppo«, sagte Sixtus mit zitternder Stimme. Er lag auf den Knien neben dem Hund, und Beppo sah ihn an, als wollte er ihn fragen, warum Herrchen nicht fruher gekommen sei. Er hatte doch hier schon so unendlich lange gelegen und war so krank, so krank, da? er nicht einmal bellen konnte. Ach, wie krank war er die ganze Zeit gewesen! All dies versuchte er Herrchen zu erzahlen, und es klang ganz erbarmlich.

»Hort doch, er weint ja«, sagte Eva-Lotte und begann auch zu weinen.
        Ja, Beppo war krank, das konnte man sehen. Er lag in einem See von Auswurf und Exkrementen und war so schwach, da? er sich nicht ruhren konnte. Stumm leckte er Sixtus die Hand. Er wollte wohl dafur danken, da? er in seinem Elend nicht mehr allein zu sein brauchte.

»Ich mu? zum Tierarzt laufen, und das sofort!« rief Sixtus.
        Aber als er aufsprang, heulte Beppo verzweifelt auf.

»Er hat Angst, da? du ihn allein la?t«, sagte Kalle. »Ich laufe fur dich!«

»Sag ihm, da? er sich beeilen mochte«, bat Sixtus. »Und sag ihm, da? Beppo Rattengift gefressen hat.«

»Woher wei?t du das?« fragte Benka.

»Das wei? ich«, sagte Sixtus. »Das sehe ich doch. Das ist die verdammte Schlachterei gewesen. Die legen, um die Ratten loszuwerden, uberall Meerzwiebeln aus. Beppo ging manchmal hin und holte sich einen Knochen.«

»Kann Beppo … kann ein Hund davon sterben?« fragte Anders mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen.

»Schweig!« sagte Sixtus bose. »Beppo nicht! Ein Beppo stirbt nicht. Ich habe ihn, seit er ein kleiner Welpe war. O Beppo, warum mu?test du nur hingehen und am Rattengift schnuffeln?«
        Beppo leckte ergeben seine Hand und antwortete darauf nichts.
        DREIZEHNTES KAPITEL
        Kalle schlief in der Nacht unruhig. Er traumte, er sei drau?en und suche wieder nach Beppo. Einsam wanderte er auf dunklen, oden Wegen, die sich vor ihm in schauerlicher Endlosigkeit ausdehnten und in einer erschreckenden Dusternis weit, weit vorn verschwanden. Er hoffte, einen Menschen zu treffen, den er nach Beppo fragen konnte, aber niemand kam. Die ganze Welt war menschenleer und dunkel und vollkommen ode.
        Und plotzlich war es nicht mehr Beppo, den er suchte. Es war etwas anderes, etwas viel Wichtigeres. Aber er konnte sich nicht erinnern, was es war. Er fuhlte, da? er sich dessen erinnern mu?te, es war ihm, als hinge das Leben davon ab. Es befand sich irgendwo dort in dem Dunkel vor ihm, aber er konnte es nicht finden. Und es kam deswegen eine so gro?e Angst uber ihn, da? er davon erwachte.
        Gott sei Dank, da? es nur ein Traum war! Er sah auf die Uhr.
        Es war erst funf. Es war besser zu versuchen, wieder einzuschlafen. Er wuhlte den Kopf tiefer in das Kissen und versuchte es.
        Aber das war doch eigentumlich - dieser Traum wollte ihn nicht loslassen. Auch jetzt, wo er wach lag, spurte er, da? da etwas war, auf das er sich besinnen mu?te. Es lag irgendwo tief innen in seinem Gehirn und wartete darauf, herauskommen zu durfen. Ein kleines, kleines Stuckchen dort drinnen wu?te, was es war, worauf er sich besinnen mu?te. Nachdenklich rieb er sich den Schadel und brummte bose vor sich hin:

»Na los, komm doch schon raus!« Aber es kam nicht, und Kalle wurde mude. Er wollte wieder schlafen. Und langsam be-schlich ihn diese behagliche Benommenheit, die anzeigte, da? der Schlaf in der Nahe war.
        Aber da, gerade als er schon zur Halfte schlief, lie? sein Gehirn das kleine Stuckchen, das es so lange festgehalten hatte, los. Es war nur ein Satz, und es war die Stimme von Anders, die ihn sprach:

»Hatte ich Beppo nicht die Schokolade gegeben - ich ware verloren gewesen.«
        Kalle war hellwach, als er sich jetzt kerzengerade im Bett auf-richtete. »Hatte ich Beppo nicht die Schokolade gegeben - ich ware verloren gewesen«, wiederholte er langsam. Was war daran so merkwurdig? Warum mu?te er sich so notwendig darauf besinnen? Ja, darum, weil … Darum, weil … Es gab eine entsetzliche Moglichkeit …
        Als er so weit gekommen war, legte er sich wieder hin und zog nachdrucklich die Decke uber den Kopf.

»Kalle Blomquist«, sagte er warnend zu sich selbst, »fang nun nicht wieder so an! Komm nicht noch einmal mit diesen de-tektivischen Grillen! Mit dieser Sorte von Dummheiten sind wir fertig. Daruber waren wir uns doch wohl einig.«
        Nun wollte er aber schlafen. Das wollte er!

»Ich bin ein Opfer von gekochtem Schellfisch.«
        Wieder war es die Stimme von Anders, die er horte. Zum Teufel, da? man ihn nicht in Ruhe lassen konnte! Was hatte Anders hier nur immer herumzukrabbeln? Konnte er nicht zu Hause liegen und mit sich selber reden, wenn er so verzweifelt redelustig war?
        Aber jetzt half nichts mehr. Die unheimlichen Gedanken wollten heraus. Er konnte sie nicht langer zuruckhalten. Zu denken, da? es vielleicht nicht der Fisch war, weswegen sich Anders ubergeben hatte! Gekochter Schellfisch war ekelhaft, das fand Kalle auch. Aber sich davon eine Nacht lang zu ubergeben, das war nicht ublich. Und - wenn es nun nicht Meerzwiebeln gewesen waren, die Beppo gefressen hatte? Wenn es nun …
        wenn es nun … etwas anderes war … Wenn es nun … vergiftete Schokolade war?
        Er versuchte wieder, sich selbst zu ma?igen.

»Der Meisterdetektiv hat Zeitungen gelesen, ich merke es«, hohnte er. »Es scheint, er hat die Kriminalfalle der letzten Jahre zu gut verfolgt. Und wenn es auch schon vorgekommen ist, da? jemand durch vergiftete Schokolade getotet wurde, so bedeutet das nicht, da? jede verdammte Schokoladentafel nur noch aus Arsenik besteht.«
        Eine Zeitlang lag er ganz still und dachte. Und es waren be-
        angstigende Gedanken.

»Es gibt noch mehr Menschen als nur mich, die Zeitungen gelesen und Kriminalfalle verfolgt haben. Noch einer kann das getan haben. Einer in grunen Gabardinehosen. Einer, der Angst hat. Er kann den Artikel uber Eva-Lotte auch gelesen haben. Da wurde ja von Schokolade und Bonbons geschrieben, die man ihr per Post schickt. Diesen Artikel, in dem auch gestanden hat, da? Eva-Lotte moglicherweise ein Werkzeug sei, dazu bestimmt, den Morder festzusetzen oder so ahnlich. Du gro?er Nebukadnezar, wenn es so gewesen ist!«
        Kalle sprang aus dem Bett. Die andere Halfte der Schokoladentafel - die hatte er doch bekommen! Er hatte sie vollig vergessen gehabt. Wo war sie? Selbstverstandlich war sie noch immer in der Hosentasche. Diese blauen Hosen, die er neulich angehabt hatte … Er hatte sie seitdem nicht mehr angezogen.
        Welch ein Gluck fur ihn, welch sagenhaftes Gluck - wenn es wirklich so war, wie er mutma?te.
        Man kann sich viel einbilden, wenn man im Halbschlaf dahindammert. Das Unwahrscheinlichste wird dann glaubhaft. Als Kalle jetzt in seinem Pyjama in der Schrankkammer stand, wo die Morgensonne durch das Fenster lugte, fand er wieder, da? er einfach narrisch sei. Es war alles naturlich nur Einbildung -genau wie immer.

»Und trotzdem«, sagte er, »eine kleine Routineuntersuchung kann ich ja immerhin machen.«
        Sein erdachter Zuhorer, der sich lange verborgen gehalten hatte, wartete sichtlich nur auf dieses Stichwort. Eifrig kam er angelaufen, um zu sehen, womit der gro?e Meisterdetektiv sich beschaftigte.

»Was wollen Sie tun, Herr Blomquist?« fragte er andachtig.

»Wie ich schon sagte - eine kleine Routineuntersuchung.«
        Plotzlich war Kalle wieder Meisterdetektiv, es war nicht zu andern. Lange hatte er es nicht sein durfen, auch keine Lust gehabt, es zu sein. Wenn tatsachlich Ernst mit im Spiel war, wollte er nicht Detektiv sein. Aber gerade jetzt zweifelte er selbst, einen berechtigten Verdacht zu haben, zweifelte so stark daran, da? er hilflos der Versuchung verfiel, wieder in der alten Weise zu markieren. Er nahm die halbe Tafel Schokolade aus der Hosentasche und hielt sie seinem erdachten Zuhorer hin.

»Aus bestimmten Grunden habe ich den Verdacht, da? sie mit Arsenik vergiftet ist.« Sein erdachter Zuhorer krummte sich vor Schreck. »Sie wissen, so etwas ist schon passiert«, fuhr der Meisterdetektiv unbarmherzig fort. »Und es gibt etwas, das nennt man ›Verbrechen aus Nachahmung‹. Es ist ja eine ziemlich gewohnliche Sache, da? ein Verbrecher seine Anregungen aus bereits geschehenen Verbrechen nimmt.«

»Aber wie kann man wissen, ob wirklich Arsenik darin ist?«
        fragte der erdachte Zuhorer und sah hilflos und ratsuchend auf das Schokoladenstuck.

»Man macht eine kleine Probe«, sagte der Meisterdetektiv ruhig. »Die Marshsche Arsenikprobe. Und die gedenke ich jetzt vorzunehmen.«
        Sein erdachter Zuhorer sah sich mit bewundernden Blicken in der Schrankkammer um.
»Ein erstklassiges Laboratorium haben Sie hier, Herr Blomquist«, sagte er. »Sie sind sicher ein ausgezeichneter Chemiker, wie ich mir denken kann?«

»Na ja … ausgezeichnet … ich habe mir in meinem langen Leben ein gut Teil chemischer Kenntnisse angeeignet«, bestatigte der Meisterdetektiv bescheiden. »Die Chemie und die Kriminalistik mussen Hand in Hand arbeiten. Verstehen Sie, junger Freund?«
        Seine armen Eltern hatten, wenn sie jetzt dabeigewesen waren, bestatigen konnen, da? ein gro?er Teil in des Meisterdetektivs langem Leben tatsachlich chemischen Versuchen ge-widmet gewesen waren. Sie hatten es wahrscheinlich anders ausgedruckt. Wahrscheinlich fanden sie, da? man der Wahrheit naher kam, wenn man sagte, er habe unzahlige Male versucht, sich selbst und den gesamten Haushalt in die Luft zu sprengen, um einen Forschereifer zu befriedigen, der nicht immer von ex-aktem Wissen begleitet war.
        Aber der erdachte Zuhorer besa? nichts von diesem Unglauben, der Eltern auszeichnet. Interessiert sah er zu, wie der Meisterdetektiv von einem Regal eine Anzahl Gerate, einen Spiritusbrenner und verschiedene Glasrohren und Buchsen nahm.

»Wie wird die Probe gemacht, von der Sie vorhin sprachen, Herr Blomquist?«

»Zuerst benotigen wir dazu einen Wasserstoffapparat«, sagte Kalle in dozierendem Ton. »Einen Apparat dieser Art habe ich hier. Es ist ganz einfach eine Buchse. In diese Buchse, die Schwefelsaure enthalt, lege ich einige Zinkstuckchen. Dabei bildet sich Wasserstoff, verstehen Sie? Wenn wir dort hinein Arsen in irgendeiner Form geben, bildet sich ein Gas, das man Ar-senwasserstoff nennt. AsH . Das entstehende Gas leiten wir durch diese Glasrohre, lassen es weitergleiten und in einer Rohre mit wasserfreiem Kalziumchlorid trocknen. Dieser Vorgang wiederholt sich anschlie?end in der engeren Rohre. Unter Zu-hilfenahme des Spiritusbrenners erhitzen wir das Gas genau hier an der Verengung. Und dort, verstehen Sie, zerlegt sich das Gas in Feuchtigkeit und freies Arsenik, und das Arsen schlagt sich auf den Wanden der Glasrohre als ein grauschwarz schimmernder Belag nieder. Der sogenannte Arsenspiegel. Ich vermute, da? Sie davon bereits gehort haben, mein junger Freund?«
        Sein junger Freund hatte von rein gar nichts gehort; aber er verfolgte mit gespannter Aufmerksamkeit die Manipulationen des Meisterdetektivs.

»Bitte, erinnern Sie sich«, sagte der Meisterdetektiv, als er zum Schlu? den Spiritusbrenner anzundete, »da? ich nicht ge-sagte habe, das Schokoladenstuck enthalte wirklich Arsenik. Ich stelle nur eine Routineuntersuchung an und hoffe instandig, da? mein Verdacht ganzlich aus der Luft gegriffen ist.«
        Dann war es eine Weile ruhig in der sonnigen Schrankkammer. Der Meisterdetektiv war so beschaftigt, da? er ganz einfach seinen jungen Freund verga?.
        Jetzt war die Glasrohre erwarmt. Ein Teil der Schokolade wurde pulverisiert, und durch einen Trichter schuttete Kalle das Pulver in den Wasserstoffapparat. Dann wartete er und hielt den Atem an. - Gro?er Gott, tatsachlich! Da war er! Der Arsenspiegel! Der schreckliche Beweis dafur, wie recht er gehabt hatte. Er starrte auf die Glasrohre, als konne er seinen Augen nicht trauen. In seinem Innern hatte er die ganze Zeit uber gezweifelt.
        Jetzt aber war kein Zweifel mehr moglich. Das bedeutete etwas Furchtbares. Zitternd loschte er den Spiritusbrenner. Sein erdachter Zuhorer war fort. Er verschwand, sowie sich der ver-dienstvolle Meisterdetektiv in einen geangstigten Kalle verwandelte.
        Anders wurde davon geweckt, da? jemand unter seinem Fenster das Signal der Wei?en Rose pfiff. Er streckte ein verschlafenes Gesicht zwischen den Blumentopfen hervor, um zu sehen, wer dort war. Kalle stand da drau?en vor der Schuhmacherwerkstatt und winkte ihm zu.

»Wo brennt es?« fragte Anders. »Warum mu?t du Menschen um diese Zeit wecken?«

»Quatsch nicht, sondern komm herunter«, sagte Kalle. Und als Anders endlich kam, sah er ihm scharf in die Augen und forschte: »Hast du von der Schokolade gekostet, bevor du sie Beppo gegeben hast?«
        Anders starrte ihn betroffen an: »Um halb sieben Uhr morgens kommst du hier angetigert, nur um so was zu fragen?«

»Ja. Denn sie war vergiftet. Mit Arsenik.« Kalle sagte es ganz ruhig.
        Anders’ Gesicht wurde schmal und bla?. »Ich besinne mich nicht«, murmelte er.
»Doch, ich habe die Finger abgeleckt. Ich habe doch zuerst den Gro?mummrich in die Klebe in meiner Tasche gesteckt … Bist du ganz sicher?«

»Ja«, sagte Kalle hart. »Und jetzt gehen wir zur Polizei.«
        Eilig erzahlte er Anders von dem Versuch, den er gemacht hatte, und von der schrecklichen Gewi?heit, die sich ihm enthullt hatte. Sie dachten an Eva-Lotte und fuhlten sich so scheu?lich wie noch nie. Eva-Lotte durfte davon nichts wissen.
        Sie mu?te vorlaufig - daruber waren sie sich einig - aus dieser Sache herausgehalten werden.
        Anders dachte auch an Beppo.

»Ich war es, der ihn vergiftet hat«, sagte er verzweifelt.

»Wenn Beppo stirbt, kann ich Sixtus nie mehr ins Gesicht sehen.«

»Beppo stirbt nicht, das hat doch der Tierarzt gesagt«, trostete Kalle ihn. »Hat er nicht genug Medizin und Magenspu-lungen bekommen? Und es war doch wohl besser, da? Beppo die Schokolade gefressen hat als Eva-Lotte oder du?«

»Oder du«, sagte Anders. Sie schuttelten sich alle beide.

»Eines jedenfalls ist ganz klar«, sagte Anders, als sie Kurs auf das Polizeirevier nahmen.

»Und was?« fragte Kalle.

»Du mu?t endlich diesen Fall in die Hand nehmen, Kalle.
        Eher kommt da keine Ordnung hinein. Das sage ich nun schon die ganze Zeit uber.«
        VIERZEHNTES KAPITEL

»Dieser Mord mu? aufgeklart werden«, sagte der Kriminalkommissar und lie? seine Hand schwer auf den Tisch fallen.
        Vierzehn Tage lang hatte er sich mit dieser ausnehmend ver-zwickten Angelegenheit befa?t. Nun sollte er die Stadt verlassen. Der Arbeitsbereich der Staatspolizei war gro?, und an anderen Stellen warteten neue Aufgaben auf ihn. Er lie? allerdings drei seiner Manner hier und hatte jetzt zusammen mit ihnen und der Ortspolizei eine Morgenbesprechung auf der Polizeistation.

»Aber soviel ich sehen kann«, fuhr er fort, »ist das einzige greifbare Ergebnis dieser vierzehn Arbeitstage nur, da? kein Mensch jetzt mehr wagt, dunkelgrune Gabardinehosen anzuziehen.«
        Mi?mutig schuttelte er den Kopf. Sie hatten gearbeitet und hart gearbeitet. Jeder moglichen Anregung waren sie gefolgt.
        Die Losung des Ratsels aber schien genauso fern zu liegen wie am ersten Tag. Der Morder war aus dem Nichts aufgetaucht und wieder in das Nichts verschwunden. Niemand hatte ihn gesehen, nur ein Mensch - Eva-Lotte Lisander.
        Die Allgemeinheit hatte ihr Bestes getan, ihm zu helfen. Es waren viele Hinweise gekommen auf Menschen, die dunkelgrune Gabardinehosen zu tragen pflegten. Eva-Lotte war mehrere Male Individuen gegenubergestellt worden, denen der Kommissar etwas mehr auf den Zahn fuhlen wollte. Die Manner waren mit einigen anderen ungefahr gleichgekleideten in eine Reihe gestellt worden, und Eva-Lotte wurde gefragt, ob einer von ihnen derjenige sei, dem sie damals auf der Prarie begegnet sei.

»Nein, von diesen ist es keiner«, hatte sie jedesmal geantwortet.
        Eine Unmenge von Bildern waren ihr vorgelegt worden; aber auch da fand sich niemand, den sie kannte.
        Jeder Mensch oben auf dem Rackerberg war uber seine Beobachtungen, Grens Privatleben betreffend, befragt worden. Spezielles Interesse hatte die Polizei an au?ergewohnlichen Vor-kommnissen an jenem Dienstagabend vor dem Mord, als der Mann in den Gabardinehosen Gren nachweislich besucht hatte.
        Und beinahe alle hatten etwas ganz Au?ergewohnliches gerade von diesem Abend zu berichten. Es hatte einen Larm gegeben, als hatten sich wenigstens zehn Morder gegenseitig umgebracht.
        Das war naturlich sehr interessant. Aber der Kommissar hatte bald heraus gefunden, da? der Larm vom Krieg der Rosen verursacht worden war. Mehrere Personen, darunter auch Kalle Blomquist, hatten allerdings erklart, da? sie ein Auto zu dem bestimmten Zeitpunkt hatten anfahren horen. Und es wurde festgestellt, da? Doktor Forsbergs Auto, in dem er an diesem Abend seinen Krankenbesuch bei Friedrich mit dem Fu? gemacht hatte, dafur nicht in Frage kam.
        Schutzmann Bjorn hatte Kalle scherzend aufgezogen und gemeint, Kalle hatte doch auf dieses seltsame Auto etwas besser achtgeben konnen. »Du als Meisterdetektiv«, sagte er, »hattest dir doch die Nummer des Autos aufschreiben mussen! Was machst du eigentlich im Augenblick?«

»Ich hatte doch damals drei wilde Rote hinter mir her«, hatte Kalle verschamt zu seiner Verteidigung gesagt.

»Ein Mann mit Auto - wunderbar!« sagte der Kommissar und schuttelte sich wie ein wutender Terrier. »Er kann ja gut hundert Meilen von hier entfernt wohnen. Er kann den Wagen in der Nahe des Herrenhofes geparkt haben und ist dann nach der Tat hineingesprungen und hatte bereits einige Meilen Vorsprung, bevor wir uberhaupt wu?ten, da? etwas passiert war.«
        Man hatte unmittelbar nach dem Mord uberall auf den Wegen beim Herrenhof nach Autospuren gesucht. Aber es fanden sich keine. Der heftige Regen war dem Verbrecher sicher ein unschatzbarer Helfer gewesen. Und wie sie nach dem Schuldschein gesucht hatten! Jeder Busch, jeder Stein, jedes Erdloch war untersucht worden. Das wichtige Papier jedoch war und blieb unauffindbar.

»Unauffindbar wie der Morder«, sagte der Kommissar mit einem Seufzer. »Stellt euch vor, da? der Kerl nicht das geringste Lebenszeichen von sich gibt!«
        In dem Moment horte man im Vorraum ein paar eifrige Jun-genstimmen. Sie wollten deutlich den Kommissar sprechen, wurden aber von dem diensthabenden Schutzmann abgewiesen.
        Die Stimmen der Jungen wurden nur noch eigensinniger: »Wir mussen ihn sprechen, sage ich Ihnen!«
        Schutzmann Bjork erkannte die Stimme von Anders und ging hinaus.

»Onkel Bjork«, sagte Anders, als er ihn sah, »es handelt sich um den Mord … Kalle hat das jetzt in die Hand genommen …«

»Das habe ich gewi? nicht«, protestierte Kalle argerlich,

»aber …«
        Bjork sah sie mi?billigend an: »Ich dachte, ich hatte euch ganz deutlich gesagt, da? das hier nichts ist fur kleine Jungen und Meisterdetektive in spe«, sagte er.
»Uberla?t das Ganze ruhig der Staatspolizei. Das ist ihre Arbeit. Nach Hause mit euch!«
        Jetzt aber wurde Anders auch auf Bjork, den er sonst so gut leiden konnte, bose.

»Nach Hause!« schrie er. »Nach Hause gehen und dem Morder erlauben, die ganze Stadt mit Arsenik zu vergiften, wie?«
        Kalle kam ihm zu Hilfe. Er zog ein wohlverpacktes Stuck Schokolade hervor und sagte ernst: »Onkel Bjork, jemand hat Eva-Lotte vergiftete Schokolade geschickt.«
        Hilfesuchend sah er den gro?en, langen Schutzmann an, der da vor ihm stand und ihn hindern wollte. Aber Bjork hinderte ihn nicht mehr. »Kommt rein«, sagte er und schob die Jungen vor sich her.
        Es wurde still, als Kalle und Anders mit ihrem Bericht zu Ende waren. Dann sagte der Kommissar:

»War ich es, der ein Lebenszeichen von dem Morder haben wollte?« Er wog das Schokoladenstuck in seiner Hand. Ein solches Lebenszeichen hatte er sich allerdings nicht gewunscht.
        Dann sah er Anders und Kalle prufend an. Gewi?, es war moglich, da? diese Jungen in einem leeren Teich fischten. Er wu?te ja nicht, fur wie tuchtig er Kalle als Chemiker halten durfte und ob man seinem Bericht uber den Arsenspiegel glauben konnte: Vielleicht war seine Phantasie mit ihm durchgegangen. Nun, darauf mu?te eine gerichtschemische Untersuchung Antwort geben.
        Das mit dem Hund war ja unzweifelhaft seltsam. Es ware wichtig, auch eine Probe von der anderen Schokoladenhalfte zu bekommen. Aber die Jungen hatten erklart, da? sie gestern abend sorgfaltig allen Auswurf des Hundes beseitigt hatten. Alles, was getan werden konnte, um die Spur zu verwischen, war getan worden. Und um das Ungluck vollzumachen, hatte Eva-Lotte auch noch den Umschlag, in dem, wie die Jungen sagten, die Schokolade gewesen war, fortgeworfen. Ja, die Kleine schmei?t mit wertvollem Papier nur so um sich, dachte der Kommissar.
        Aber woher sollte sie eigentlich wissen, da? der Umschlag so wichtig war? Wie es auch sein mochte, danach suchen mu?te man selbstverstandlich. Aber ob man ihn finden wurde?
        Er wandte sich an Anders: »Du hast wohl nicht zufallig noch so ein kleines Stuck von deiner Halfte aufbewahrt?«
        Anders schuttelte den Kopf: »Nein, Beppo hat alles bekommen! Ich habe nur abgeleckt, was an meinem Finger klebte.«

»Ja, aber dann in deiner Hosentasche? Kann dort nichts kleben?«

»Oh! Mutter hat diese Hosen gestern gewaschen!« sagte Anders.

»Schade«, seufzte der Kommissar. Er schwieg eine Weile.
        Dann aber sah er Anders durchdringend an: »Da ist noch etwas, was ich gerade uberlege. Du hattest etwas in der Kuche des Postdirektors zu tun in der Nacht zu gestern, sagtest du. Du bist durch das Fenster geklettert, als alles schlief. Fur einen alten Polizeimann klingt das ziemlich beunruhigend. Durfte man einmal ganz genau wissen, was du dort zu tun hattest?«

»Na ja … also …« sagte Anders und wand sich.

»Na …« sagte der Kommissar.

»Da war also der Gro?mummrich …«

»Sachte, sachte, sag mir nur nicht, der Gro?mummrich habe wieder damit etwas zu tun«, bat der Kommissar bewegt. »Dieser Gro?mummrich fangt an, mir unheimlich zu werden, tatsachlich. Immer, wenn etwas passiert, dann taucht er auf.«

»Ich wollte ihn doch nur bei Sixtus in den Globus legen«, sagte Anders entschuldigend.
        Kalle unterbrach ihn mit einem Pfiff. »Der Gro?mummrich!« schrie er auf. »Auf ihm klebt vielleicht Schokolade! Anders hat ihn doch in den Schokoladenklo?, den er in der Tasche hatte, gedruckt!«
        Uber das Gesicht des Kommissars legte sich ein Lachen.

»Ich glaube, es wird Zeit, da? sich der Herr Gro?mummrich der Polizei zur Verfugung stellt«, sagte er.
        Und so bekam der Gro?mummrich noch einmal Polizeige-leit. Schutzmann Bjork begab sich eilig zur Villa des Postdirektors, und in seinem Kielwasser folgten ihm Kalle und Anders.

»Der Gro?mummrich wird auf diese Weise reichlich verwohnt«, sagte Kalle.
»Nachstens verlangt er noch berittene Polizei zur Begleitung, wenn er mal verlegt wird.«
        Mit der Entdeckung, da? es Anders gewesen war, der, ohne es zu wissen, Beppo vergiftet hatte, mu?te auch das Geheimnis des Gro?mummrich im Globus preisgegeben werden. Sie mu?ten ja jetzt Sixtus alles erzahlen, und das bedeutete, da? er das Kleinod sofort mit Beschlag belegen wurde - wenn nicht die Polizei mitkommen und es unter ihren Schutz stellen wurde.
        Und wie betrublich die Angelegenheit vorher fur Eva-Lotte und Beppo auch gewesen war, so konnten Anders und Kalle doch nicht unterlassen, die Abholung des Gro?mummrich durch die Polizei als eine Art Triumphzug zu betrachten.

»Ubrigens ist der Gro?mummrich ein Lebensretter«, sagte Kalle. »Denn wenn du, Anders, ihn nicht in den Globus gelegt hattest, hatte Beppo nie die Schokolade bekommen. Und wenn Beppo die Schokolade nicht bekommen hatte, ware sicher etwas viel Schlimmeres damit passiert. Und es ist nicht sicher, ob alle Arsen so gut vertragen wie Beppo.« Das fanden Bjork und Anders auch.

»Der Gro?mummrich ist eine ziemlich beachtliche Person«, sagte Bjork und offnete die Gartentur beim Postdirektor.
        Beppo lag in einem Korb auf der Veranda, noch schwach, aber unleugbar lebendig. Sixtus sa? neben ihm und sah ihn lie-bevoll an. Als er jemand kommen horte, sah er auf, und seine Augen wurden rund vor Staunen.

»Guten Tag, Sixtus«, sagte Schutzmann Bjork. »Ich komme, um den Gro?mummrich zu holen.«
        FUNFZEHNTES KAPITEL
        Wie schnell wird ein Mord vergessen? Ach, das dauert nicht allzu lange! Die Menschen reden eine Zeitlang davon, reden und ratseln, regen sich auf und schaudern und werfen der Polizei vor, nichts zu tun. Und dann hort es auf, interessant zu sein, und sie regen sich uber andere Dinge auf, die Menschen.
        Zuallererst vergessen naturlich die Kinder, die Kriege zwischen Rosen fuhren, die Eroberer des Gro?mummrich. Man hat viel zu tun. Man hat anderes zu denken. Wer hat gesagt, da? Sommerferien lang sind? Falsch! Vollkommen falsch! Sommerferien sind so besorgniserregend, so unbarmherzig kurz, zum Weinen kurz. Einer nach dem anderen laufen die goldenen Tage weg. Es gilt, jede Stunde auszunutzen. Da kann man die letzte sonnengetrankte Woche der Sommerferien nicht durch die Gedanken an dustere Gewalttat verdunkeln lassen.
        Die Mutter aber vergessen nicht so schnell. Sie halten ihre hellhaarige Tochter eine Weile im Haus, sie wagen nicht, sie aus den Augen zu lassen. Unruhig spahen sie aus dem Fenster, wenn sie ihre Sohne nicht in der Nahe toben horen. Ab und zu laufen sie aus dem Haus, um nachzusehen, ob ihren Lieblingen nichts geschehen ist. Aber schlie?lich schaffen sie es nicht mehr, sich zu beunruhigen. Auch sie mussen an andere Dinge denken.
        Und die beaufsichtigten Kinder begeben sich wieder mit tiefen Seufzern der Erleichterung an ihre gewohnten Spielplatze und Schlachtfelder, die ihnen eine Zeitlang verboten gewesen waren.
        Der Gro?mummrich war noch nicht von der gerichtschemi-schen Untersuchung in Stockholm zuruckgekommen. Der Un-tersuchungsbescheid aber war bereits hier: Die au?erst winzigen Schokoladenmengen, die am Gro?mummrich gefunden worden waren, hatten tatsachlich Spuren von Arsenik gezeigt, und Kalles Schokolade enthielt auch Arsen. Hatte Eva-Lotte die Tafel allein aufgegessen, sie hatte wenig Aussicht gehabt weiterzule-ben.
        Eva-Lotte wu?te um das Attentat auf sie. Es ware unmoglich gewesen, ihr etwas zu verheimlichen, wovon alle Zeitungen be-richteten. Au?erdem hielt der Kriminalkommissar es fur seine Pflicht, sie zu warnen. Gewi? war der Strom von Gaben und Leckereien nach dringender Ermahnung in der Presse abgestoppt worden; aber Eva-Lotte mu?te sich doch in acht nehmen. Fur einen gewalttatigen Menschen gab es sicher noch andere Wege, ihr zu schaden. Und deshalb hatte der Kommissar Eva-Lotte alles uber die vergiftete Schokolade erzahlt.
        Wenn er gefurchtet hatte, Eva-Lotte wurde erneut einen Schock erleiden, so hatte er sich, Gott sei Dank, geirrt. Eva-Lotte erlitt nicht den geringsten Schock. Sie wurde nur wutend, so wutend, da? sie knisterte.

»Beppo hatte ja sterben konnen«, schrie sie. »Eine Gemeinheit, beinahe einen unschuldigen Hund zu toten, der niemand etwas getan hat!« In Eva-Lottes Augen war das eine Freveltat, die alles ubertraf.
        Eine armselige Woche lang waren die Sommerferien nur noch.
        Alle Ritter der Wei?en und Roten Rose waren sich einig, die kurze Gnadenfrist mu?te zu etwas Besserem verwendet werden, als uber vergangene Dinge, die nicht zu andern waren, nachzu-grubeln.
        Beppo war wieder ganz gesund. Und Sixtus, der bisher, wie festgeklebt, nicht von seiner Seite gewichen war, wurde wieder von seiner alten Betriebsamkeit ergriffen. Aufs neue rief er seine Truppen unter die Fahnen. Sie versammelten sich in seiner Garage und schmiedeten neue Plane. Denn nun war die Zeit der Rache gekommen. Jetzt sollte abgerechnet werden fur den Gro?mummrich im Globus und fur ahnliche Bosheiten. Da? Anders beinahe Beppo vergiftet hatte, gehorte nicht dazu. Das hatte Sixtus ihm bereits von ganzem Herzen vergeben, und Anders hatte in ganz ruhrender Weise Anteil genommen an Beppos Krankheit.
        Lange vor der Ara des Gro?mummrich hatten schon Kriege zwischen Roten und Wei?en Rosen getobt. Und wenn auch der Gro?mummrich mit all den magischen Eigenschaften, die man ihm zuschrieb, ein unubertroffenes Kriegsobjekt war, so gab es doch noch andere Kostbarkeiten, die man dem Gegner rauben konnte. Da hatten die Wei?en zum Beispiel die Stahlkassette, angefullt mit geheimen Dokumenten. Anders fand, da? man ohne gro?e Gefahr diese Kassette in der Kommode auf dem Backereiboden aufbewahren konnte. Das konnte man sicher auch - zu normalen Zeiten. Jetzt aber, wo der Gro?mummrich auf einer Dienstreise war, kam Sixtus auf den Gedanken, da? die Kassette der Wei?en Rosen eine ganz au?erordentliche Kostbarkeit sei, die geraubt werden mu?te, und wenn die Roten Rosen bis zum letzten Mann dafur kampfen mu?ten. Benka und Jonte stimmten sofort zu, und selten waren sich zwei Jungen so einig, bis zum letzten Mann zu kampfen. Nachdem der heroi-sche Entschlu? durch heilige Eide bekraftigt worden war, ging Sixtus abends in aller Ruhe in das Hauptquartier der Wei?en Rosen und nahm auf dem Backereiboden die Kassette an
sich.
        Die erwarteten Entsetzensschreie der Wei?en blieben allerdings aus, und zwar weil sie gar nicht bemerkten, da? die Kassette verschwunden war. Zum Schlu? verlor Sixtus die Geduld, und er schickte Benka mit einem Handschreiben zu den Wei?en, um sie zum Erwachen zu bringen.
        Das Schreiben hatte folgenden Wortlaut:

»Wo ist wohl die Geheimkassette der Wei?en Rosen?
        Ja, wo sind sie wohl, die geheimen Dokumente?
        Dort, wo die Prarie zu Ende geht, da steht ein Haus. In dem Haus ist ein Zimmer.
        In dem Zimmer ist eine Ecke. In der Ecke liegt ein Papier.
        Auf dem Papier ist eine Landkarte. Auf der Landkarte - - -
        Ja, genau so!
        O du Wei?e Laus,
        such nur in dem Haus!«

»Nie in meinem Leben gehe ich dorthin«, sagte Eva-Lotte zuerst. Bei naherem Uberlegen aber sagte sie sich selbst, da? sie sich doch unmoglich ihr Leben lang von der Prarie, dem Spiel-platz aller Spielplatze, fernhalten konnte. Fruhling oder Herbst, Sommer oder Winter, die Prarie behielt ihre Anziehungskraft, sie blieb voller Moglichkeiten. Durfte sie nicht mehr auf der Prarie spielen - ja, dann konnte sie ebensogut sofort in ein Klo-ster gehen.

»Ich gehe mit«, sagte sie nach einem kurzen inneren Streit mit sich selbst.
»Besser sofort, als da? es zur fixen Idee bei mir wird.«
        Und am Morgen danach standen die Wei?en Rosen unnaturlich fruh auf, um zu vermeiden, da? sie wahrend ihres Suchens von den Feinden uberrascht wurden. Der Sicherheit wegen erzahlte Eva-Lotte zu Hause nicht, wohin sie ging. In aller Stille schlich sie aus dem Haus und vereinigte sich mit Anders und Kalle, die schon eine Weile am Zaun auf sie gewartet hatten.
        Die Prarie war gar nicht so erschreckend, wie Eva-Lotte gedacht hatte. Und der Herrenhof sah beinahe einladend aus, gar nicht, als ware er ein armes, unbewohntes Haus, sondern wie ein Heim, in dem die Menschen nur noch nicht aufgewacht waren.
        Bald wurden sie vielleicht die Fenster offnen, die Gardinen wurden sich im Morgenwind bauschen, die Zimmer von frohli-chen Stimmen widerhallen, und aus der Kuche wurde ein freundliches Rumoren zu horen sein, welches Fruhstuck bedeutete. Hier gab es wirklich nichts, wovor man sich angstigen konnte.

»O du Wei?e Laus, such nur in dem Haus«, hatten die Roten sie aufgefordert, und sie taten ihr Bestes. Sie mu?ten lange suchen. Das Haus war sehr gro? und hatte viele Zimmer und Ek-ken und Nischen. Aber schlie?lich wurde ihr Suchen von Erfolg gekront - genau wie die Roten es berechnet hatten. Jetzt sollten die Wei?en aber grundlich angefuhrt werden!
        Das Papier enthielt tatsachlich eine Landkarte, und es war nicht schwer, den Garten des Postdirektors darauf zu erkennen.
        Da war das Wohnhaus und die Garage und der Holzschuppen und das geheime Ortchen und alles andere und dann an einer Stelle ein Kreis mit dem Hinweis »Grabt hier!«

»Man kann von den Roten sagen, was man will; aber besonders witzig ist das hier nicht«, fand Anders, als er die Karte grundlich angesehen hatte.

»Bestimmt, das hier wirkt direkt kindisch«, sagte Kalle. »Das ist so lacherlich einfach, man schamt sich richtig. Aber wir werden wohl hingehen mussen und graben glaub’ ich.«
        Ja, sie wollten dorthin und graben. Aber zuerst wollten sie noch etwas anderes tun Weder Anders noch Kalle waren seit dem denkwurdigen Mittwoch hier drau?en gewesen. Damals waren sie von Schutzmann Bjork abgewiesen worden. Nun ergriff sie eine kleine ha?liche Neugierde. Sollte man nicht auf jeden Fall mal hingehen und sich die Stelle ansehen, wenn man schon hier war?

»Ich nicht«, sagte Eva-Lotte nachdrucklich. Lieber wollte sie sterben als den kleinen Pfad zwischen den Haselnu?strauchern noch einmal gehen. Aber wenn Anders und Kalle durchaus wollten - sie hatte nichts dagegen. Nur abholen mu?ten sie sie nachher.

»Gut, wir sind in zehn Minuten zuruck«, sagte Kalle.
        Dann gingen die beiden.
        Als Eva-Lotte allein war, begann sie das Haus einzurichten.
        In ihrer Phantasie moblierte sie es und bevolkerte es mit einer gro?en, kinderreichen Familie. Eva-Lotte hatte selbst keine Geschwister, und kleine Kinder waren das Schonste, was sie sich denken konnte.
        Hier ist das E?zimmer, dachte sie. Hier ist der Tisch. Es sind so viele Kinder, da? sie sich drangen. Und Krister und Kristine prugeln sich und mussen zur Strafe ins Kinderzimmer. Bertil ist so klein, da? er in einem hohen Kinderstuhl sitzen mu?. Die Mutter futtert ihn, aber oh, wie er sabbert! Da ist die gro?e Schwester Liliane. Sie ist so schon, sie hat ganz schwarze Haare und schwarze Augen und will abends auf den Ball gehen. Sie soll hier unter dem Kristalleuchter stehen, in einem wei?er Seiden-kleid, und mit den Augen funkeln. Eva-Lotte funkelte mit den Augen und war die gro?e Schwester Liliane.
        Der gro?e Bruder Klaus kommt gerade heute aus Upsala zuruck. Er hat sein Examen gemacht. Der Gutsherr ist sehr glucklich daruber. Er steht am Fenster und sieht hinaus und wartet auf seinen Sohn. Eva-Lotte streckte den Bauch vor und war der Gutsherr, der am Fenster stand und auf seinen Sohn wartete.
        Sieh mal an, da kommt er ja schon! Wie gut er doch aussieht
        - wenn er auch etwas junger sein konnte.
        Es dauerte einige Sekunden, bevor Eva-Lotte aus ihrer Phan-tasiewelt in die Wirklichkeit zuruckkam und begriff, da? das dort nicht der gro?e Bruder Klaus war, der mit langen, schnellen Schritten ankam, sondern ein richtiger Mensch aus Fleisch und Blut. Sie kicherte in sich hinein. Wie peinlich, wenn sie

»Hej, Klaus!« zu ihm hinuntergerufen hatte.
        Jetzt sah er auf und sah sie am Fenster stehen. Er zuckte zusammen, der Bruder Klaus. Er mochte es wohl nicht, da? dort der Gutsherr stand und ihn ansah. Er hatte es plotzlich eilig. So eilig! Dann aber besann er sich und kam zuruck. Ja, er kam zuruck!
        Eva-Lotte dachte nicht daran, ihn weiterhin nervos zu machen, indem sie ihn aus dem Fenster heraus ansah. Sie ging wieder in das E?zimmer, um zu sehen, ob Bertil mit seinem Supp-chen fertig war. Das war er nicht, und die gro?e Schwester Liliane mu?te ihm helfen. Sie war so damit beschaftigt, da? sie gar nicht horte, wie die Tur geoffnet wurde. Und sie schrie leicht auf vor Schreck, als sie hochsah und bemerkte, da? der gro?e Bruder Klaus ins Zimmer kam.

»Guten Tag«, sagte er - der gro?e Bruder Klaus oder wer er nun sonst war.

»Guten Tag«, sagte Eva-Lotte.

»Ich dachte tatsachlich, es ware eine alte Bekannte, die ich vorhin am Fenster stehen sah«, meinte der gro?e Bruder Klaus.

»Nein, das war nur ich«, sagte Eva-Lotte.
        Er sah sie prufend an. »Aber haben wir uns nicht schon einmal getroffen, du und ich?« fragte er.
        Eva-Lotte schuttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht«, sagte sie. »Daran kann ich mich nicht erinnern.«

»Unter Tausenden wurde ich ihn wiedererkennen«, hatte sie einmal gesagt. Aber da wu?te sie nicht, da? das Aussehen eines Menschen vollkommen verandert werden kann, wenn ein Bart abrasiert und langes, in die Stirn hangendes Haar zu einer kurzen, aufrecht stehenden Burste geschnitten wird. Der Mann, dem sie einmal auf dem schmalen Pfad begegnet war und dessen Bild ihrer Netzhaut unausloschlich eingepragt war, hatte damals au?erdem dunkelgrune Gabardinehosen getragen, und es war ihr unmoglich, sich vorzustellen, da? er irgendwie anders gekleidet sein konnte. Der gro?e Klaus trug einen kleinkarierten grauen Anzug.
        Er sah sie mit unruhigen Augen an, und dann fragte er: »Wie kann so ein kleines Fraulein wohl hei?en?«

»Eva-Lotte Lisander«, sagte Eva-Lotte.
        Der gro?e Klaus nickte. »Eva-Lotte Lisander«, sagte er nachdenklich.
        Eva-Lotte hatte keine Ahnung, wie gut es war, da? sie den gro?en Klaus nicht wiedererkannte. Auch ein Verbrecher scheut sich, einem Kind unnotig Boses zu tun. Aber dieser Mann gedachte sich um jeden Preis zu retten. Er wu?te, jemand, der Eva-Lotte Lisander hie?, konnte alles fur ihn zerstoren, und er war bereit, alles zu tun, um das zu verhindern. Und jetzt stand sie hier vor ihm, diese Eva-Lotte Lisander, die er schon durch das Fenster erkannt zu haben glaubte, als er ihr helles Haar gesehen hatte, stand hier vor ihm und sagte ganz ruhig, da? sie ihn nie vorher getroffen hatte. Und er fuhlte eine Erleichterung, da? er hatte schreien mogen. Er brauchte also diesen plappern-den Mund nicht zu schlie?en, diesen Mund, der ihm so viel Sorgen gemacht hatte. Er brauchte nicht mehr zu furchten, da? diese Eva-Lotte Lisander eines Tages in der Nachbarstadt, wo er wohnte, auftauchte und ihn wiedererkannte und mit dem Finger auf ihn zeigte und sagte: »Da geht der Morder!« Denn sie kannte ihn nicht. Sie war nicht langer mehr ein Zeuge gegen ihn.
        Er war so erleichtert, er war beinahe froh daruber, da? sie seinem Attentat mit der Schokolade entgangen war.
        Der gro?e Klaus wollte gehen. Er wollte gehen und nie wieder an diesen verdammten Platz zuruckkehren. Als er aber die Turklinke in der Hand hielt, erwachte sein Mi?trauen. Sie war doch wohl nicht etwa eine ausgekochte kleine Schauspielerin, die die Unschuldige markierte und nur so tat, als kenne sie ihn nicht mehr? Er warf ihr einen lauernden Blick zu. Aber sie stand da mit einem freundlichen Lacheln auf den Lippen, und ihr Kinderblick war offen und zuverlassig. Da gab es keine Verstellung, das konnte er deutlich sehen. Trotzdem fragte er: »Was machst du hier so allein?«

»Ich bin nicht allein«, sagte Eva-Lotte freundlich. »Anders und Kalle sind auch hier. Meine Freunde, verstehen Sie?«

»Spielt ihr hier?« wollte der gro?e Klaus wissen.

»Nein«, sagte Eva-Lotte, »wir haben blo? ein Papier gesucht.«

»Ein Papier?« fragte der gro?e Klaus, und sein Blick wurde hart. »Ein Papier habt ihr gesucht?«

»Ja, und so lange«, sagte Eva-Lotte, die fand, da? eine Stunde lang war, wenn es galt, die kindische Landkarte der Roten aufzuspuren. »Sie glauben gar nicht, wie wir gesucht haben! Aber wir haben es gefunden.«
        Er war verloren. Ein paar Kinder hatten ihn gefunden, den Schuldschein, den er selbst immer wieder gesucht hatte und den er heute zum allerletztenmal hatte suchen wollen. Er war verloren, und das jetzt, da er glaubte, in Sicherheit zu sein!
        Er zwang sich zur Ruhe. Noch wollte er nicht alle Hoffnung aufgeben. Er mu?te nur dieses Papier haben - mu?te es haben!

»Wo sind Anders und Kalle denn jetzt?« fragte er so unbeteiligt wie moglich.

»Die kommen gleich wieder«, antwortete Eva-Lotte. Sie sah aus dem Fenster. »Ja, da hinten kommen sie schon«, fuhr sie fort. Der gro?e Klaus stellte sich hinter sie, um aus dem Fenster zu sehen. Mit der Hand stutzte er sich auf das Fensterbrett, und als Eva-Lotte den Kopf ein wenig senkte, sah sie zufallig auf seine Hand.
        Und sie erkannte seine Hand wieder. Diese Hand erkannte sie.
        Sie war wohlgeformt und reichlich mit dunklen Harchen bewachsen. Jetzt wu?te sie, wer der gro?e Klaus war. Und der Schreck, der sie ergriff, war so gro?, da? er sie fast zu Boden warf. Alles Blut scho? ihr aus dem Gesicht, nur um Sekunden spater mit solcher Gewalt wieder zuruckzuschie?en, da? es in ihren Ohren drohnte. Es war gut, da? sie mit dem Rucken zu ihm stand. So konnte er das wilde Entsetzen in ihren Augen nicht sehen und auch ihren Mund nicht, der anfing zu zittern.
        Aber gleichzeitig war es furchtbar, ihn hinter sich zu fuhlen und nicht zu wissen, was er tat.
        Aber da kamen Anders und Kalle - Gott segne sie! Sie war nicht mehr allein auf der Welt. Die beiden Gestalten, die dort in ausgeblichenen blauen Hosen und nicht ganz sauberen Hemden und mit ungekammten Haaren angetrabt kamen, waren wie ein Geschenk des Himmels fur sie. Ritter der Wei?en Rose, Gott segne euch!
        Aber sie war auch ein Ritter der Wei?en Rose, und der durfte die Besinnung nicht verlieren. Ihr Gehirn arbeitete so fieber-haft, da? sie glaubte, der Mann hinter ihr musse es horen. Etwas war ihr klar: Er durfte nicht bemerken, da? sie ihn wiedererkannt hatte. Was auch geschah, sie mu?te ruhig aussehen. Sie offnete das Fenster und lehnte sich hinaus. Ihre ganze Verzweiflung lag in ihren Augen. Die beiden da drau?en aber merkten nichts davon.

»Aufgepa?t, gleich kommen sie!« schrie Anders hinauf.
        Der gro?e Klaus zuckte zusammen. War die Polizei schon unterwegs, um den Revers zu holen? Wer von den Kindern hatte ihn? Er mu?te sich beeilen. Die Zeit drangte. Es mu?te sofort etwas geschehen. Er ging nach vorn, dicht an das Fenster. Er hatte keine Wahl. Wenn sich auch sein Inneres dagegen straubte, er mu?te sich offen zeigen. Er lachelte den Jungen freundlich zu.

»Hallo, ihr dort!« sagte er. Sie sahen fragend zu ihm auf.

»Durft ihr denn eine kleine Dame so allein lassen?« fragte er in einem Ton, der scherzhaft sein sollte, der ihm aber nicht gelang. »Ich war direkt gezwungen, hier hineinzugehen und ein wenig mit Eva-Lotte zu plaudern, wahrend ihr drau?en Altpa-piersammlung spieltet.«
        Darauf gab es kaum etwas zu antworten, und Kalle und Anders schwiegen abwartend.

»Kommt rein, Jungen«, sprach der Mann hinter Eva-Lotte weiter. »Ich habe euch einen Vorschlag zu machen. Einen guten Vorschlag. Ihr konnt Geld dabei verdienen.« Nun wurden Anders und Kalle lebhaft. Wenn es darum ging, Geld zu verdienen waren sie immer bereit, sich sofort in die Startlocher zu legen.
        Eva-Lotte sa? jetzt auf dem Fensterbrett und sah sie so son-derbar an. Und sie machte mit der Hand das Geheimzeichen der Wei?en Rose. Und dieses geheime Zeichen bedeutete »Gefahr«. Anders und Kalle zogerten verwirrt. Da begann Eva-Lotte zu singen.

»Sommer ist, die Sonne scheint«, sang sie, wenn auch mit etwas zitternder Stimme. Und sie sang dieselbe frohe Melodie weiter - nur der Text war ein wenig verandert.

»Mom o ror dod e ror«, sang sie.
        Das klang wie ein zusammenhangloser Singsang, wie ihn Kinder sich ausdenken. Anders und Kalle aber wurden stocksteif, als sie es horten. Sie standen wie angenagelt. Dann aber nahmen sie sich zusammen und kniffen sich wie unabsichtlich ins Ohrlappchen - das geheime Zeichen der Wei?en Rose dafur, da? eine Botschaft verstanden worden war.

»Na, beeilt euch!« sagte der Mann am Fenster ungeduldig.
        Unschlussig standen die beiden. Aber plotzlich drehte sich Kalle um und ging mit raschen Schritten auf ein Gebusch zu, das in der Nahe war.

»Wo willst du hin?« schrie der Mann im Fenster argerlich.

»Willst du nicht dabeisein, wenn es Geld zu verdienen gibt?«

»Na klar«, sagte Kalle ruhig. »Aber deshalb darf man doch die naturlichen Bedurfnisse nicht vergessen, meine ich.«
        Der Mann bi? sich auf die Lippen. »Beeil dich!« schrie er.

»Ja, ja, werde ich machen«, rief Kalle zuruck.
        Es dauerte eine ganze Weile. Dann aber kam er doch wieder, demonstrativ seine Hosen zuknopfend.
        Anders stand noch auf demselben Platz. Bei ihm war nicht der Schatten des Gedankens aufgetaucht, Eva-Lotte etwa im Stich zu lassen. Er mu?te zu ihr in das Haus hinein, wo sich der Morder befand; aber er wollte Kalle dabei haben. Und nun gingen sie hinein. Anders ging vor zu Eva-Lotte und legte seinen Arm um ihre Schulter. Er sah auf ihre Armbanduhr, und dann sagte er:

»Donner noch mal, ist das aber spat! Wir mussen nach Haus, aber schnell!« Er nahm Eva-Lotte an die Hand und ging mit ihr zur Tur.

»Ja, ich glaube auch, das Geld, von dem Sie sprachen, verdienen wir uns wohl besser ein andermal«, meinte Kalle. »Jetzt mussen wir rennen.«
        Wenn sie aber dachten, der gro?e Klaus hatte nichts dagegen, so irrten sie sich. Plotzlich stand er vor der Tur und hinderte sie.

»Moment mal«, sagte er. »So eilig habt ihr es doch nicht!«
        Er fuhlte mit der Hand in seine Gesa?tasche. Ja, er war dort.
        Seit dem Mittwoch im Juli trug er ihn immer bei sich - fur alle Falle. Die Gedanken jagten sich in seinem Kopf. Es gab kein Zuruck mehr. Er hatte ein hohes Spiel begonnen und mu?te es zu Ende spielen, auch wenn es noch ein paar Menschenleben kosten sollte.
        Als er die drei Kinder vor sich ansah, ha?te er sie fur das, was zu tun er gezwungen war. Aber er konnte keine drei Zeugen brauchen, die hingingen, um auszusagen, wie der Mann aussah, der ihnen den Schuldschein weggenommen hatte. Nein, sie sollten niemals Gelegenheit bekommen, etwas daruber zu erzahlen.
        Dafur wollte er sorgen, wenn es ihm auch fast ubel war vor Schreck. Zuerst mu?te er jetzt wissen, wer von ihnen das Papier hatte, damit er nicht noch lange in ihren Taschen herumzusu-chen brauchte - nachher.

»Hort mal«, sagte er, und seine Stimme war heiser und unklar, »gebt das Papier her, das ihr da vorhin gefunden habt. Ich will es haben - aber schnell.«
        Die drei vor ihm gafften vor Erstaunen. Sie hatten nicht erstaunter sein konnen, wenn er gesagt hatte: »Los, singt: ›Bah, bah, wei?es Lamm‹!« Man hatte ja schon von wahnsinnigen Mordern gehort; aber nicht einmal ein Wahnsinniger konnte doch Spa? an der Landkarte der Roten Rosen mit dem Hinweis »Grabt hier«
        haben.
        Naturlich, eigentlich konnte er die Landkarte getrost bekommen, wenn er so wild danach war, dachte Anders, der die Karte in seiner Hosentasche fuhlte. Man konnte sie ihm ja geben.
        In wirklich kritischen Situationen aber war es trotz allem der Meisterdetektiv Blomquist, der am schnellsten dachte. Im Laufe einer kurzen Sekunde ging ihm auf, was fur ein Papier es war, von dem der Mann dachte, da? sie es hatten. Und noch mehr stand im selben Moment ganz klar vor Kalle. Dieser Mann hatte kaltblutig einen Menschen niedergeschossen, und gewi? war er auch jetzt bewaffnet. Die Zeugin Eva-Lotte hatte er durch vergiftete Schokolade aus dem Weg raumen wollen. Kalle begriff, wie gering ihre Chancen waren, lebend von hier wegzukommen.
        Wenn Anders jetzt die Karte aus der Tasche nehmen wurde und wenn es ihnen auch glucken wurde, den Morder davon zu uberzeugen, da? sie nie im Leben seinen Revers gesehen hatten, so waren sie doch verloren. Der Morder wu?te sicher, da? er sich durch seine heftigen Fragen verraten hatte, und Kalle begriff, da?, wenn er damals versucht hatte, einen Zeugen loszuwerden, er noch weniger zulassen wurde, da? es drei gab, die lebend umherliefen und ihn identifizieren konnten. Daruber dachte Kalle nicht in klaren, deutlichen Worten; aber es befand sich als Bewu?tsein innen in seinem Gehirn. Und diese Bewu?theit machte ihn ohnmachtsreif vor Angst. Aber er sagte wutend zu sich selbst: Du hast nachher Zeit, Angst zu haben - wenn es ein Nachher noch gibt!
        Es galt, Zeit zu gewinnen, oh, nur Zeit mu?te gewonnen werden!
        Anders wollte gerade die Karte aus seiner Taschen ziehen, als er plotzlich einen Puff von Kalle bekam.

»Non ei non«, zischte Kalle. »Lol a ?o? sos ei non!«

»Hort ihr nicht, was ich sage?« fragte der gro?e Klaus bose.

»Wer von euch hat das Papier?«

»Wir haben es nicht hier«, sagte Kalle ruhig.
        Anders fand wohl, es ware besser gewesen, dem Mann das Papier zu geben. Dann hatten sie vielleicht gehen durfen. Aber er wu?te auch, da? Kalle es besser gewohnt war, mit kriminellen Personen umzugehen, und deshalb schwieg er.
        Der Mann an der Tur wurde vollkommen wild uber Kalles Worte. »Wo habt ihr es?« schrie er. »Her damit! Schnell! Sofort!«
        Kalle uberlegte, so schnell er konnte. Wenn er jetzt sagte, das Papier sei auf dem Polizeirevier oder zu Hause bei Eva-Lotte oder weit drau?en irgendwo auf der Prarie, so war wahrscheinlich sofort alles aus. Er begriff, da? sie sich so lange sicher fuhlen konnten, wie der Morder noch Hoffnung hatte, das Papier rechtzeitig zu bekommen.

»Wir haben es im oberen Stockwerk«, sagte er zogernd.
        Der gro?e Klaus zitterte vor Erregung am ganzen Korper. Er zog den Revolver aus der Tasche. Eva-Lotte schlo? die Augen.

»Beeilt euch!« schrie er. »Vielleicht hilft euch dies hier, ein wenig Tempo in die Beine zu legen!«
        Und er trieb sie vor sich her aus dem Zimmer.

»Gog e hoh tot lol a non gog sos a mom«, sagte Kalle leise.

»Pop o lol i zoz ei kok o mom mom tot bob a lol dod!«
        Anders und Eva-Lotte sahen ihn verwundert an. Wie sollte die Polizei bald kommen? Glaubte er, sie durch Gedankenuber-tragung hierher zu lenken? Aber sie gehorchten und gingen langsam. Sie zogen die Beine nach, stolperten uber Turschwel-len, und Anders rutschte aus und sauste ruckwarts die Treppe hinunter wie vor tausend Jahren, als sie gerade an derselben Stelle mit den Roten gekampft hatten.
        Ihre Langsamkeit brachte den gro?en Klaus au?er Rand und Band. Er war so nahe an der Grenze, die Nerven zu verlieren, da? er furchtete, es jetzt schon zu tun - das, was er tun wollte. Aber er mu?te zuerst den Schuldschein haben. Oh, wie er diese Kinder ha?te! Die wu?ten anscheinend nicht einmal mehr, in welcher Ek-ke sie das Papier versteckt hatten. Langsam, ganz langsam trodel-ten sie sich von dem einen Zimmer in das andere und sahen sich um und sagten dann nachdenklich: »Nein, hier war es nicht.«
        Eine verwilderte Viehherde ware leichter vor sich her zu treiben gewesen. Die verdammten Satanskinder blieben stehen, um sich die Nasen zu putzen oder um sich zu kratzen oder um zu weinen - ja, es war naturlich das Madchen, das weinte.
        Dann kamen sie in ein kleines Zimmer mit herunterhangen-der Tapete. Und Eva-Lotte schluchzte auf, als ihr einfiel, wie sie und Kalle hier eingeschlossen gewesen waren vor langer Zeit, damals, als sie noch jung und glucklich waren.
        Kalle sah prufend an den Wanden entlang.

»Nee, hier war es doch wohl nicht«, sagte er.

»Nee, hier war es sicher nicht«, sagte Anders.
        Dieses Zimmer war aber das letzte im ganzen oberen Stockwerk, und der gro?e Klaus stie? einen unartikulierten Schrei aus.

»Glaubt ihr, ihr konnt mich zum Narren halten?« schrie er los. »Glaubt ihr, da? ich nicht merke, wie ihr mich an der Nase herumfuhrt? Aber jetzt sollt ihr mal auf mich horen, sage ich euch! Ihr holt sofort das Papier raus. Jetzt sofort. Und wenn ihr vergessen habt, wo es ist, wird es fur euch am schlimmsten. Bekomme ich es nicht in genau funf Sekunden, schie?e ich euch alle drei nieder.«
        Er stand mit dem Rucken zum Fenster und zielte auf sie. Kalle verstand, da? er es ernst meinte und da? seine Taktik nun nicht mehr taugte. Er nickte Anders zu. Anders ging hinuber zu der Wand, an der die Tapete in Fetzen herunterhing. Die Hand, die er in der Tasche hielt, zog er heraus und steckte sie hinter die Tapete. Als er sie nach einem Augenblick wieder hervornahm, hatte er ein Papier zwischen den Fingern.

»Hier ist es ja«, sagte er.

»Das ist gut«, sagte der gro?e Klaus. »Bleibt dort dicht beieinander stehen. Und du streckst deine Hand aus und gibst mir das Papier.«

»Wow e ror fof tot eu choch zoz u Bob o dod e non, wow e non non i choch non ie sos e«, sagte Kalle zungenzerbrechend.
        Anders und Eva-Lotte fa?ten sich an die Ohrlappchen zum Zeichen, da? sie verstanden hatten.
        Der gro?e Klaus horte zwar, da? eines der Kinder eine Art Kauderwelsch redete; was es aber war, interessierte ihn nicht. Er wu?te, da? er nun bald damit fertig war. Wenn er erst das Papier hatte, sollte es geschehen. Er streckte seine Hand nach dem Papier aus, das Anders ihm entgegenhielt, und hatte die ganze Zeit seinen Revolver in Bereitschaft. Aber seine Finger zitterten, als er mit nur einer Hand versuchte, den zusammengeknullten Schuldschein zu glatten.
        Schuldschein? Welcher Schuldschein? »Grabt hier« - das ist ja wohl nicht gerade das, was man auf einem Revers zu finden glaubt. Sein Verstand setzte eine halbe Sekunde aus, und genau da horte man Kalle kraftig niesen. Im selben Augenblick warfen sich die drei auf den Boden. Kalle und Anders schmissen sich nach vorn und bekamen die Beine vom gro?en Klaus zu fassen.
        Er plumpste zu Boden und schrie, als er fiel. Der Revolver rollte ihm aus der Hand, und Kalle hatte ihn im Bruchteil einer Se-
        kunde, bevor der Gegner sich recht besinnen konnte, an sich gerissen und war aufgesprungen.
        Das war also so eine Gelegenheit, wo der Meisterdetektiv Blomquist einen Morder entwaffnete. So etwas tat er ja oft -und stets mit der gleichen Eleganz. Und dann pflegte er lassig den Revolver auf den Verbrecher zu richten und zu sagen:

»Vorsicht in der Kurve, mein Guter!«
        Und so geschah es jetzt wohl auch? Nein, so geschah es nicht.
        In voller Panik nahm er das ha?liche schwarze Ding und warf es aus dem Fenster, so da? die Glassplitter flogen. Das war es, was er tat. Und das war doch wohl schlecht bedacht von einem Meisterdetektiv. Einen Revolver zur Hand zu haben, ware doch sicher gut gewesen. Die Wahrheit war aber, da? dem Meisterdetektiv jetzt himmelangst war vor allem, was sich Schu?waffe nannte, sein Katapult ausgenommen. Vielleicht tat er auch ganz recht. Ein Revolver in der Hand eines zitternden Jungen ist wohl doch nicht die geeignete Drohung einem Morder gegen-
        uber. Die Rollen waren sicher sofort wieder getauscht worden.
        Und darum war es besser, der Revolver lag fur beide au?er Reichweite. Der gro?e Klaus war inzwischen aufgesprungen und starrte verwirrt und mit wildem Blick aus dem Fenster, seine Waffe suchend. Das war sein gro?ter und schlimmster Fehler, und die drei Ritter der Wei?en Rose zogerten nicht, ihn auszunutzen. Sie sausten zur Tur. Der einzigen Tur im Haus, die wirklich zu verschlie?en war - das wu?ten sie ja aus eigener bitterer Erfahrung.
        Der gro?e Klaus war ihnen auf den Fersen. Aber sie schafften es im letzten Augen blick und pre?ten die Tur zu und setzten ihre Fu?e dagegen, so da? Kalle den Schlussel umdrehen konnte. Sie horten Gebrull hinter der Tur und wildes Klopfen. Kalle nahm sicherheitshalber den Schlussel heraus fur den Fall, da? zufallig der Morder auch wu?te, wie man eine von au?en abgeschlosse-ne Tur von innen offnen konnte.
        Sie rasten die zierliche Treppe hinunter, immer noch angst-gehetzt und am ganzen Korper zitternd. Zugleich quetschten sie sich durch die Au?entur. Sie rannten besinnungslos. Aber Kalle sagte beinahe weinend: »Wir mussen den Revolver holen.«
        Die Mordwaffe mu?te sichergestellt werden, das war klar. Im selben Augenblick aber, als sie sich umwandten, geschah es. Etwas kam aus dem geoffneten Fenster gesaust und landete genau vor ihnen. Der gro?e Klaus war gesprungen. Es war ein Sprung aus sieben Meter Hohe; aber in seiner Raserei hatte er diese Kleinigkeit nicht bedacht. Jetzt wurde er ohne viel Lamento handeln.
        Da horte er eine Stimme, in der Tranen und Jubel miteinander um den Vorrang kampften. Es war das Madchen, das schrie: »Die Polizei! Da kommen sie! Schnell, beeilt euch! Kommt! Onkel Bjork! Schnell, hierher!«
        Er sah uber die Prarie. Tatsachlich, bei allen schwarzen Machten, da kamen sie, in ganzen Scharen!
        Zu spat, die Kinder zum Schweigen zu bringen. Aber vielleicht noch nicht zu spat zum Fliehen. Er schnaufte vor Angst.
        Zu seinem Auto! Sich hineinwerfen! Aufdrehen und losrasen!
        Weit weg, in ein anderes Land!
        Er lief in der Richtung zu seinem Wagen. Er holte das Letzte aus seinen Beinen heraus. Denn dort kamen sie hinter ihm her, die Polizisten, genau wie in seinen schrecklichen Traumen.
        Aber sein Vorsprung war gut. Wenn er nur erst am Auto war …
        Da, da stand seine Rettung! Er fuhlte einen wilden Triumph in der Brust, als er die letzten Meter in langen Sprungen nahm. Er wurde durchkommen …
        Er drehte den Zundschlussel, und der Motor lief an. Adieu alle, die ihn halten wollten!
        Aber das Auto bewegte sich mit dumpfem Gepolter muhevoll wie eine Schnecke vorwarts. Er stie? einen Fluch zwischen den Zahnen hervor. Als er sich aus dem Wagen beugte, sah er es: Seine Reifen waren platt!
        Die Verfolger naherten sich immer mehr. Er sprang aus dem Auto. Er hatte schie?en konnen, aber er tat es nicht. Sie wurden ihn trotzdem fassen, das wu?te er. In seiner Nahe standen einige Busche, und dicht dahinter war ein Pfuhl, der trotz der Durre des Sommers mit schlammigem Wasser gefullt war. Dorthin lief er. Und in die morastige Tiefe versenkte er den Revolver. Die Mordwaffe sollten sie nicht finden. Dieses Beweisstuck sollte nicht gegen ihn zeugen.
        Dann lief er in einem gro?en Bogen zum Weg zuruck. Dort blieb er stehen und wartete. Er war jetzt bereit. Nun konnten sie ihn haben.
        SECHZEHNTES KAPITEL
        Der verhaftete junge Mann, der nach Eva-Lottes Aussagen der Morder war, leugnete hartnackig und geschickt, jemals etwas mit Gren zu tun gehabt, ja, ihn uberhaupt gekannt zu haben.
        Seine Spielerei mit den Kindern sei nicht bose gemeint gewesen
        - ja, sicherlich etwas dumm, und er habe sie wohl erschreckt, das gebe er zu. Wo sein Revolver sei? Ja, das wurde er selbst gern wissen … eine gute Waffe, von seinem Vater geerbt … sicher habe eins der Kinder ihn genommen … Grune Gabardinehosen seien in seinem Schrank gefunden worden? Ja, er habe nie gehort, da? es verboten sei, solche zu tragen … Und seinen Bart habe er sich abrasiert, weil er ihm langweilig geworden war. Er konnte es nicht andern, da? am Tage davor ein armer Greis erschossen worden war.
        Er hatte den Mut, so lange zu lugen, bis der Kommissar beinahe die Geduld verlor. Der gro?e Bruder Klaus war aus hartem Holz. Ja, gro?er Bruder Klaus - ein eigenartiger Zufall wollte es, da? er tatsachlich Klaus mit Vornamen hie?. Eva-Lotte hatte ihn richtig getauft.
        Die dramatischen Ereignisse drau?en im Herrenhof hatten Storungen im Krieg der Rosen zur Folge. Wieder einmal hatte die Angst die Mutter ergriffen. Wieder einmal bekamen die Kinder strenge Anweisung, sich im Haus zu halten. Und diese selbst waren noch so angegriffen, da? sie kaum Lust zu etwas verspur-ten.
        Sie sa?en im Garten des Backermeisters, die Roten und die Wei?en Rosen, und gingen noch einmal in der Erinnerung die entsetzlichen Minuten auf der Prarie durch. Und Kalle bekam wieder und wieder Lobesworte fur seine Klugheit zu horen; denn das war doch wohl der Gipfel der Klugheit, sich das mit dem »naturlichen Bedurfnis« auszutufteln! Er hatte gewu?t, da? die Roten unterwegs waren, und sie auch gesehen, wie sie sich in den Buschen herumdruckten. Deshalb war er ihnen entge-gengerannt, so schnell er konnte, und hatte ihnen den kurzen, aber unmi?verstandlichen Befehl gegeben:

»Der Morder ist im Herrenhof! Lauft und holt die Polizei!
        Und einer von euch rennt zu seinem Auto an der Wegbiegung und schraubt alle Ventile aus den Reifen und versteckt sie.«
        Wahrend die Geduld des Kommissars nach einem weiteren Verhortag mit dem gro?en Klaus erneut um einige Grade gesunken war, sa? Benka friedlich zu Hause und war mit seiner Briefmarkensammlung beschaftigt. An diesem regnerischen Nachmittag konnte man sich, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, friedlichen Innenraumbeschaftigungen hingeben, und Benka gab sich seinen Briefmarken hin. Er betrachtete sie liebe-voll. Er hatte eine fast vollstandige Serie schwedischer Marken und wollte gerade eine Anzahl von Neuerwerbungen einkleben, als sein Blick auf einen zerknitterten Umschlag fiel. Ach ja, das hatte er ja vor Lisanders Garten gefunden, vor einiger Zeit.
        Benka hatte den Umschlag aufgehoben, weil er eine neue, soeben herausgegebene Marke, die er noch nicht hatte, darauf sah.
        Nun glattete er den Umschlag zum erstenmal. Er hatte ihn vor-dem einfach so, wie er war, in den Karton gelegt, wo er seine Marken aufbewahrte.

»Fraulein Eva-Lotte Lisander« stand in Maschinenschrift auf dem Umschlag. Ja, sie hatte sehr viel Post gehabt in letzter Zeit, die Eva-Lotte. Er sah in den Umschlag hinein. Naturlich leer!
        Als er die Marke noch einmal sah, freute er sich. Sie war wirklich sehr schon. Wo der Brief abgesandt war, konnte man nicht sehen. »B. P.« stand auf dem Stempel. Das bedeutete »Bahn-post«. Das Datum aber konnte man deutlich erkennen.
        Und plotzlich kam ihm wie der Blitz ein Gedanke. Wenn das nun der Umschlag war, nach dem die Polizei so sehr gesucht hatte? Mal sehen … Der Tag, als die Wei?en in der Laube gesessen hatten und Sixtus ihn ausgeschickt hatte, die Wei?en zu reizen, - war das nicht der Tag, an dem Eva-Lotte die Schokolade bekommen hatte? Ja, klar, das war der Tag! Und an dem Tag hatte er auch den Umschlag gefunden. Was fur eine Nu? er doch war, nicht schon fruher den Umschlag etwas genauer anzusehen!
        In zwei Minuten war er bei Sixtus, der auch zu Hause sa?. Er spielte Schach mit Jonte. Und in zwei Minuten waren sie alle bei Eva-Lotte, die auch zu Hause sa?. Oben auf dem Backereiboden mit Anders und Kalle. Sie horten sich an, wie der Regen auf das Dach tropfte, und lasen Witzblatter. Und in zwei Minuten waren die sechs auf dem Polizeirevier. Aber es kostete die Durchna?ten beinahe eine Viertelstunde, hineinzugelangen, um Onkel Bjork und dem Kriminalkommissar klarzumachen, weshalb sie gekommen waren.
        Der Kommissar betrachtete den Umschlag durch die Lupe.
        Der Buchstabe t war deutlich sichtbar auf der Schreibmaschine, die man zur Beschriftung benutzt hatte, fehlerhaft. Jedes t hatte eine winzige Scharte.

»Kinder sind wie Hunde«, schmunzelte der Kommissar, als die sechs gegangen waren.
»Sie schnuffeln uberall umher und wuhlen in einer Menge Plunder rum, aber dann, hast du nicht gesehen, kommen sie doch mit etwas Genie?barem nach Haus!«
        Der Umschlag erwies sich als in hohem Ma?e genie?bar. Der gro?e Klaus hatte tatsachlich eine Schreibmaschine, und als festgestellt wurde, da? der Buchstabe t auf seiner Maschine den-selben Fehler aufwies wie die entsprechenden Buchstaben auf dem Umschlag, hielt der Kommissar die Zeit fur reif, ihn unter Mordanklage zu stellen. Aber nach wie vor weigerte sich der Verhaftete, zu gestehen. Man war gezwungen, ihn auf Indizien hin anzuklagen.
        Sixtus hatte eine neue Karte mit einem neuen »Grabt hier« angefertigt. Und eines schonen Abends kam er und ubergab sie den Rittern der Wei?en Rose, die vollzahlig im Garten des Bak-kermeisters versammelt waren.

»Grabt hier«, sagte Anders, als Sixtus ihm die Karte in die Hand steckte. »Ja, das sagst du. Aber was wird dein Vater sagen, wenn wir seinen Rasen umpflugen?«

»Wer hat gesagt, da? es Rasen ist? Folgt ihr nur der Karte, und ich garantiere dafur, da? kein Vater schimpfen wird. Benka und Jonte und ich, wir sausen jetzt. Wir werden inzwischen baden gehen.«
        Die Wei?en zogen zum Garten des Postdirektors. Sie rechneten die Abstande aus und verglichen mit der Skizze auf der Karte und kamen schlie?lich dahinter, da? die Kassette in einem alten, fast vollig zugewachsenen Erdbeerbeet eingegraben sein mu?te. Munter begannen sie zu graben, und bei jedem Stein, an den sie stie?en, jubelten sie laut auf in dem Glauben, es sei die Kassette, die von einem Spaten getroffen war. Aber jedesmal wurden sie enttauscht und gruben von neuem, so da? der Schwei? nur so rann. Als sie schlie?lich fast das ganze Erdbeerbeet durchgeackert hatten, sagte Kalle plotzlich mit einem Seufzer:

»Na endlich, hier haben wir sie.« Und er grub die Finger in den Sand und holte die erdige Kassette hervor, die so heimtuk-kisch in die au?erste Ecke verlagert worden war.
        Anders und Eva-Lotte warfen ihre Spaten beiseite und eilten hinzu. Vorsichtig sauberte Eva-Lotte mit dem Taschentuch ihren kostbaren Reliquienschrein, und Anders nahm den Schlussel, den er an seinem Hals trug, heraus. Die Kassette war so unheimlich leicht. War es denkbar, da? die Roten einen falschen Schlussel benutzt und einige der Kostbarkeiten einfach gestohlen hatten? Um sich zu uberzeugen, offneten sie schnell ihre Kassette.
        Tatsachlich, da lagen keine Geheimdokumente und Kostbarkeiten mehr. Da lag nur ein Zettel, beschrieben mit der verab-scheuungswurdigen Handschrift von Sixtus. Und der Zettel enthielt folgende Aufforderung:

»Grabt hier mehr! Macht weiter, wie Ihr angefangen habt!
        Ihr braucht nur noch ein paar tausend Meilen zu graben, dann kommt Ihr in Neuseeland raus. Dort konnt Ihr dann bleiben!«
        Die Wei?en stie?en einen Ruf der Verbitterung aus. Und hinter der Hecke horte man ein entzuckt gluckerndes Lachen.
        Sixtus, Benka und Jonte kamen hervor.

»Ihr Lummel, wo habt ihr unsere Urkunden gelassen?«
        schrie Anders sie an.
        Sixtus schlug sich auf die Knie und lachte erst ausgiebig, bevor er antwortete.

»Maulwurfe!« sagte er. »Glaubt ihr, wir haben irgendein Interesse an euren schmierigen Urkunden? Die liegen unter all dem anderen Plunder in eurer Kommodenschublade. Aber ihr hort ja weder noch seht ihr.«

»Nein, sie graben nur und graben und graben«, sagte Jonte.

»Ja, graben konnt ihr gro?artig«, lobte Sixtus. »Wie wird Vater zufrieden sein, wenn er mich nicht mehr mit dem Umgraben dieses alten Erdbeerbeetes zu qualen braucht! Ich hatte namlich in der Sommerwarme keine rechte Lust dazu.«

»Na, du hast ja wahrscheinlich auch Blasen an den Handen, seit du so tuchtig nach dem Gro?mummrich gegraben hast«, vermutete Kalle.

»Das wird euch teuer zu stehen kommen, meine Herren«, sagte Anders.

»Ja, darauf konnt ihr die Kurve nehmen«, sagte Eva-Lotte.
        Sie schuttelte das erdige Taschentuch aus und stopfte es wieder in ihre Tasche. Da steckte schon etwas, ganz unten in der Tiefe der Tasche. Es war ein Stuck Papier. Sie nahm es heraus und sah es an. »Revers« stand ganz oben. Eva-Lotte lachte auf.

»Nee, kann man sich so etwas vorstellen!« sagte sie. »Hier steckt doch dieser olle Revers! Die ganze Zeit uber mu? er schon hier gesteckt haben, wahrend alle moglichen Leute drau-
        - en auf der Prarie zwischen den Buschen rumkrochen und danach suchten. Habe ich es nicht immer gesagt - es ist irgendwie blodsinnig mit Reversen!«
        Sie sah sich das Papier genauer an. »Klaus«, sagte sie. »Ja, stimmt. Ubrigens hat er eine ganz nette Handschrift.«
        Dabei knitterte sie das Papier wieder zu einem Ball zusammen und warf es ins Gras, wo der Sommerwind damit zu spielen begann. »Nun ist er ja verhaftet«, sagte sie.
»Jetzt ist es ja gleich, was fur eine Handschrift er hat.«
        Kalle schrie auf und warf sich uber das kostbare Papier. Er sah Eva-Lotte vorwurfsvoll an: »Ich will dir mal etwas sagen, Eva-Lotte. Es wird einmal sehr unglucklich mit dir enden, wenn du nicht endlich damit aufhorst, so mit wichtigen Papieren umherzuwerfen.«
        SIEBZEHNTES KAPITEL

»Ei non Hoh o choch dod e non Ror o tot e non Ror o sos e non«, sagte Sixtus mit einiger Anstrengung. »Eigentlich eine verflixt einfache Sprache, wenn man daruber nachdenkt.«

»Ja, das kannst du jetzt sagen, wo du den Trick kennst«, sagte Anders lachend.

»Und au?erdem mu?t ihr noch lernen, sie viel, viel schneller zu sprechen« sagte Kalle.

»Ja, nicht einen Buchstaben heute und einen morgen«, stichelte Eva-Lotte. »Die Rors mussen nur so knattern!«
        Wieder sa?en sie alle auf dem Backereiboden, die Ritter der Wei?en und die der Roten Rose. Die Roten hatten soeben ihre erste Lektion in der Raubersprache bekommen. Bei naherer Uberlegung hatten namlich die Wei?en eingesehen, da? es ein Gebot der Nachstenliebe war, die Roten in das Geheimnis ihrer Sprache einzuweihen. Der Nutzen durch die Kenntnisse in fremden Sprachen kann nicht hoch genug gewertet werden, pflegte ja auch der Lehrer in der Schule stets zu sagen. Oh, wie hatte er recht! Denn wie waren wohl Anders, Kalle und Eva-Lotte im Herrenhof klargekommen, wenn sie nicht die Raubersprache beherrscht hatten! Kalle hatte einige Tage daruber nachgedacht und schlie?lich zu Eva-Lotte und Anders gesagt:

»Wir konnen es einfach nicht verantworten, die Roten in einer so bodenlosen Unwissenheit leben zu lassen. Es mu? glatt schiefgehen, wenn sie mal mit Mordern zu tun haben.«
        Und deshalb hatten die Wei?en nun ihren Sprachunterricht auf dem Backereiboden gestartet. Sixtus hatte ein wunderbar schlechtes Zeugnis in Englisch, und eigentlich hatte er von morgens bis abends ununterbrochen englische Grammatik uben mussen. Aber er hielt es fur wichtiger, sich ganz der Raubersprache zu widmen.

»Englisch kann jeder Morder«, sagte er. »Davon hat man also keinen besonderen Nutzen. Ohne die Raubersprache aber ist man glatt verkauft.« Und folglich sa?en er und Benka und Jonte stundenlang zwischen dem Plunder auf dem Backereiboden und trainierten mit ruhrendem Eifer.
        Der Sprachunterricht wurde durch Eva-Lottes Vater unterbrochen, der von der Backerei her die Treppe emporgeklettert war. Er hielt einen Teller mit frisch gebackenen Schnecken in der Hand, reichte ihn Eva-Lotte und sagte: »Schutzmann Bjork hat eben angerufen. Der Gro?mummrich ist zuruckgekommen.«

»Fof ei non«, sagte Eva-Lotte entzuckt und nahm sich eine Schnecke. »Kommt, wir flitzen zum Polizeirevier!«

»Fof ei non, non a tot u ror lol i choch«, sagte der Backermeister. »Aber verfahrt in Zukunft etwas vorsichtiger mit dem Gro?mummrich!«
        Alle Ritter der Wei?en und der Roten Rose beteuerten, da? sie in Zukunft vorsichtiger verfahren wurden, viel vorsichtiger. Und gemachlich stieg der Backermeister wieder die Treppe hinunter,

»Ubrigens dieser Klaus - das wollte ich euch noch erzahlen -, der hat endlich gestanden«, sagte er noch, bevor er ganz entschwand.
        Ja, der gro?e Klaus hatte gestanden. Die Beweiskraft des Schuldscheins mit seiner Unterschrift konnte er nicht bestreiten.

»Der Gro?mummrich?« sagte Schutzmann Bjork zogernd, als die sechs Rosen kamen und begehrten, das Kleinod ausgeliefert zu erhalten. »Der Gro?mummrich ist nicht hier.
        Sie starrten ihn entgeistert an. Was meinte er? Hatte er nicht eben noch selbst angerufen und gesagt, er ware zuruckgekommen?
        Bjork sah sie ernst an. »Sucht hoch uber der Erde«, sagte er mit feierlicher Stimme. »La?t die Vogel des Himmels euch den Weg weisen. Fragt die Krahen, ob sie den ehrwurdigen Gro?mummrich gesehen haben!«
        Ein verklartes Lacheln breitete sich uber die jungen Gesichter der Rosen aus. Und Jonte sagte unter zufriedenem Glucksen:

»Fof ei non! Der Kampf geht weiter!«

»Der Kampf geht weiter!« sagte Benka entschlossen.
        Eva-Lotte sah anerkennend auf Schutzmann Bjork, der dort sa? und so gut aussah in seiner Uniform und der versuchte, sein gutmutiges Gro?ejungengesicht in ernsthafte Falten zu legen.

»Onkel Bjork«, sagte sie, »wenn du nicht so ungeheuer alt warst - Onkel Bjork, du konntest direkt den Krieg der Rosen mitmachen.«

»Ja, Onkel Bjork ware eine feine Rote Rose«, sagte Sixtus.

»Kaum«, sagte Anders. »Eine Wei?e!«

»Blo? nicht, nein!« wehrte Schutzmann Bjork ab. »An so lebensgefahrliche Sachen wage ich mich nicht heran. Die ruhige, sichere Arbeit eines Polizeimannes pa?t viel besser zu mir ungeheuer altem Mann!«

»Bah, man mu? doch auch mal gefahrlich leben«, sagte Kalle mit Uberzeugung und wolbte die Brust vor.
        Einige Stunden spater lag er in seiner Lieblingsstellung unter dem Birnbaum und dachte uber dieses »Gefahrlich-Leben«
        nach. Er dachte nach und starrte so beharrlich hinauf in die ziehenden Sommerwolken, da? er kaum bemerkte, wie sein erdachter Zuhorer vorsichtig angeschlichen kam und sich zogernd neben ihn setzte.

»Stimmt es, Herr Blomquist, Sie haben da schon wieder einen Morder festgesetzt?« fragte er einschmeichelnd.
        Da plusterte plotzlich die helle Wut in Kalle Blomquist hoch.

»Habe ich?« fragte er und starrte bose auf den erdachten Zuhorer, der sich nicht fernhalten konnte. »Reden Sie nicht so dummes Zeug! Ich habe keinen Morder festgesetzt. Die Polizei hat das getan, weil das ihre Arbeit ist. Ich gedenke auch in meinem ganzen Leben keinen Morder festzusetzen. Ich gedenke mit der Detektiverei Schlu? zu machen. Man bekommt nur einen Haufen Arger davon.«

»Aber ich dachte, Herr Blomquist, Sie lieben es, gefahrlich zu leben?« sagte der erdachte Zuhorer, und es horte sich, ehrlich gesagt, ein wenig vorwurfsvoll an.

»Als ob ich nicht trotzdem gefahrlich leben kann!« sagte der Meisterdetektiv.
»Junger Freund, Sie sollten nur ahnen, wie es im Krieg der Rosen zugeht …«
        Hier wurde der Flu? seiner Gedanken jah durch einen Pflaumenstein unterbrochen. der seinen Kopf traf. Mit der Schlauheit eines Meisterdetektivs rechnete er sich sofort aus, da? ein Pflaumenstein nicht gut von einem Birnbaum herunter-fallen kann, und wandte sich suchend nach dem Tater um.
        Anders und Eva-Lotte standen am Zaun.

»Wach auf, der du dort schlafst!« schrie Anders. »Wir wollen den Gro?mummrich erjagen!«

»Und wei?t du, was wir glauben?« rief Eva-Lotte. »Wir glauben, da? Onkel Bjork ihn auf dem Aussichtsturm im Stadtpark versteckt hat. Du wei?t doch, wie viele Krahen dort zur Zeit hausen.«

»Pop ror i mom i sos sos i mom a!« schrie Kalle begeistert.

»Die Rotlichen schlagen uns zu Brei, wenn wir ihn zuerst finden«, sagte Anders.

»Das ist egal«, meinte Kalle. »Man mu? doch auch mal gefahrlich leben!«
        Fragend sah Kalle seinen erdachten Zuhorer an. Verstand er nun endlich, da? man gefahrlich leben konnte, ohne Meisterdetektiv zu sein? Heimlich winkte er einen Abschiedsgru? zu dem netten jungen Mann hinuber, der noch dastand und ihn genauso bewundernd ansah wie immer.
        Dann trommelten Kalles nackte braune Fu?e frohlich auf den Gartenweg, als er hinauslief zu Anders und Eva-Lotte. Und sein erdachter Zuhorer verschwand - verschwand so still und un-merklich, als hatte ihn der leichte Sommerwind verweht.
        BAND DREI. 
        KALLE BLOMQUIST, EVA-LOTTE UND RASMUS
        ERSTES KAPITEL

»Kalle! Anders! Eva-Lotte! Seid ihr da?«
        Sixtus sah zum Backereiboden hinauf und wartete, ob jemand von den Wei?en Rosen den Kopf aus der Luke stecken und auf seinen Ruf antworten wurde.

»Darf man fragen, warum ihr nicht da seid?« schrie Jonte, als sich im Hauptquartier der Wei?en nichts regte.

»Seid ihr wirklich nicht da?« wunderte sich Sixtus, diesmal sehr unglaubig.
        In der Bodenluke wurde Kalle Blomquists strohgelber Kopf sichtbar. »Nein, wir sind nicht hier«, versicherte er in aller Ruhe. »Wir tun nur so.«
        Die feine Ironie dieser Satze war an Sixtus einfach verschwendet. »Was macht ihr?« wollte er wissen.

»Ja, was meinst du?« fragte Kalle. »Glaubst du, wir spielen Vater, Mutter, Kind?«

»Euch kann man doch alles zutrauen«, entgegnete Sixtus.

»Sind Anders und Eva-Lotte auch oben?« Zwei andere Kopfe tauchten in der Bodenluke auf.

»Nein, wir sind auch nicht hier«, sagte Eva-Lotte. »Was wollt ihr ubrigens, ihr Roten?«

»Ach, euch nur so ein wenig auf den Kopf klopfen«, sagte Sixtus sanft.

»Und endlich wissen, was mit dem Gro?mummrich werden soll«, erganzte Benka.

»Oder sollen etwa die ganzen Sommerferien draufgehen, ehe ihr euch entscheiden konnt?« brummte Jonte. »Habt ihr ihn nun versteckt oder nicht?«
        Anders rutschte am Seil hinab, dem Seil, das die Wei?en Rosen stets benutzten, um schnell von ihrem Boden-Hauptquartier auf die Erde zu kommen.

»Klar, da? wir den Gro?mummrich versteckt haben«, sagte er. Er ging auf den Chef der Roten Rosen zu, sah ihm ruhig ins Gesicht und sprach, jedes Wort betonend:

»Schwarz und wei? der Vogel, baut ein Nest, nicht weit von oder Burg. Sucht heute nacht!«

»Lausepudel!« war das einzige, was der Rote Chef auf diese nachdruckliche Mahnung erwiderte. Aber er nahm sofort seine Getreuen mit an einen geschutzten Platz hinter den Johannis-beerstauchern, um sich mit ihnen zu beraten.

»Bah, das ist naturlich ’ne Elster«, rief Jonte. »Der Gro?mummrich liegt in einem Elsternnest! Das kann sich doch ein Saugling an den zehn Fingern ausrechnen.«

»Ja, ja, kleiner Jonte, das kann sich ein Saugling ausrechnen«, rief Eva-Lotte vom Backereiboden herunter. »Sogar ein so kleiner, winziger Saugling wie du kann sich das ausrechnen.«

»Kann ich nicht schnell einmal Urlaub haben, um sie zu verprugeln, Chef?« fragte Jonte.
        Aber Sixtus hielt den Gro?mummrich fur das Wichtigste auf der Welt, und Jonte mu?te auf seine Strafexpedition verzichten.

»… nicht weit von oder Burg. Damit kann nur die Schlo?ruine gemeint sein«, flusterte Benka leise und vorsichtig, damit Eva-Lotte diesmal nichts horen konnte.

»In einem Elsternnest nahe bei der Schlo?ruine«, sagte Sixtus, denkbar zufrieden.
»Kommt, wir hauen ab, und zwar sofort.«
        Hinter den drei Rittern der Roten Rose flog die Tur im Zaun des Backermeisters mit einem Knall zu. Eva-Lottes Katze auf der Veranda fuhr erschrocken aus ihrem Vormittagsschlaf hoch.
        Backermeister Lisander steckte sein gutmutiges Gesicht aus dem Fenster und rief seiner Tochter zu: »Na, Eva-Lotte, wie lange, glaubst du, wird es noch dauern, bis ihr die Backerei zerstort habt?«

»Ihr?« Eva-Lotte war sehr erstaunt. »Konnen wir dafur, wenn die Roten das Grundstuck wie eine Herde Bisonochsen verlassen? Wir knallen nicht so mit der Tur.

»Glaube ich«, sagte der Backermeister und hielt den Wei?en Rosen aufreizend ein Backblech mit zuckerbegossenen Schnek-ken vor die Nasen: »Ihr knallt keine Gartenturen zu.«
        Wenige Augenblicke spater rasten auch die Wei?en Rosen aus dem Garten, und die Zauntur flog mit einem Knall zu, da? die Blumen auf den Rabatten mit einem wehmutigen Seufzer ein paar welke Blatter zu Boden fallen lie?en. Der Backermeister seufzte auch wehmutig. »Bisonochsen« hatte Eva-Lotte doch wohl gesagt. »Ja, ja …«
        An einem friedlichen Sommerabend vor Jahren war der Krieg zwischen den Wei?en und den Roten Rosen ausgebrochen.
        Lange wahrte er nun, und keine der kriegfuhrenden Parteien zeigte Ermudungserscheinungen. Im Gegenteil! Anders sprach in letzter Zeit sehr oft vom Drei?igjahrigen Krieg als einem nachahmenswerten Beispiel.

»Wenn die fruher so lange durchhalten konnten«, beteuerte er voller Enthusiasmus,
»so konnen wir noch viel langer.«
        Eva-Lotte sah die Sache nuchterner. »Stell dir vor, wenn du als dicker Brocken von vierzig durch die Graben kriechst, um den Gro?mummrich zu suchen! Die Goren der ganzen Stadt werden aus dem Kichern nicht herauskommen.«
        Der Gedanke war nicht angenehm. Ausgelacht und - schlimmer noch - vierzig Jahre alt zu werden, wahrend es gleichzeitig Gluckliche gab, die nicht mehr als dreizehn, vierzehn waren!
        Anders empfand einen ausgesprochenen Widerwillen gegen diese Kleinen, die einmal die Spielplatze, die Verstecke und den Krieg der Rosen ubernehmen wurden und au?erdem so unverschamt sein durften, uber ihn zu lachen. Uber ihn, den Chef der Wei?en Rosen aus vergangenen gro?en, stolzen Tagen, als diese Rotznasen noch nicht einmal geboren waren.
        Anders war bekummert. Eva-Lottes Worte hatten ihn erkennen lassen, da? das Leben kurz war und da? es darauf ankam, zu spielen, solange man das konnte - ohne ausgelacht zu werden.

»Auf jeden Fall wird niemand so viel Spa? haben wie wir«, trostete Kalle seinen Chef. »Den echten Krieg zwischen den Wei?en und Roten Rosen wird es nie mehr geben! Das konnen die kleinen Kleckerchen sich merken.«
        Eva-Lotte war derselben Meinung. Nichts konnte sich mit dem Krieg der Rosen messen. Selbst wenn sie einmal so beklagenswerte Vierziger wurden, wie sie eben geschildert hatte, blieb ihnen eines: die unausloschliche Erinnerung an ihre herrlichen Sommerspiele. Das wundervolle Gefuhl, wie man mit nackten Fu?en uber das weiche Gras der Prarie lief, wie das Wasser beim Baden einem warm und freundlich zwischen den Zehen perlte oder wie die Sonne durch die offenen Luken so lange in den Backereiboden schien, bis sogar die Holzbalken nach Sommer rochen, - das alles konnte nie aus ihrer Erinnerung getilgt werden. Ja, der Krieg der Rosen war fur ewige Zeiten mit Sommerferien, milden Winden und hellem Sonnenschein verknupft. Herbstdunkel und Winterkalte brachten unwillkurlich Waffenruhe in den Kampf um den Gro?mummrich.
        Wenn die Schule begann, wurden die Feindseligkeiten einge-stellt, und der Krieg flackerte nicht eher wieder auf, als bis die Kastanien in der Hauptstra?e wieder in voller Blute standen und die Fruhjahrszeugnisse an den kritischen Elternaugen vorbeige-rutscht waren.
        Jetzt aber war Sommer, und der Rosenkrieg bluhte mit den echten Rosen im Garten des Backermeisters um die Wette.
        Schutzmann Bjork, der die Kleine Stra?e entlangschlenderte, wu?te, was im Gange war, als er zuerst die Roten den Weg zur Schlo?ruine galoppieren sah und einige Minuten spater die Wei?en in sausender Fahrt an ihm vorbeisturmten.
        Eva-Lotte konnte gerade noch »Hej, Onkel Bjork!« rufen, bevor ihr heller Haarschopf hinter der nachsten Ecke verschwand. Schutzmann Bjork lachelte vor sich hin. Dieser Gro?mummrich - mit wie wenig die Kleinen doch zufrieden waren! Der Gro?mummrich war ja nur ein Stein, nichts anderes als ein seltsam geformter kleiner Stein, und doch reichte er aus, den Krieg der Rosen in Gang zu halten. Ja, ja, es war oft sehr wenig notig, um einen Krieg zu entfesseln. Schutzmann Bjork seufzte, als er daran dachte, wie wenig tatsachlich dazu notig war. Dann ging er mit bedachtsamen Schritten weiter, um sich ein Auto anzusehen, das auf der anderen Seite des Flusses falsch parkte. Auf halbem Weg blieb er stehen und starrte philoso-phierend in das Wasser, das langsam unter dem Bruckenbogen hervorglitt. Da kam eine alte Zeitung mit dem Strom angese-gelt. Sie schaukelte sacht auf den Wellen. Die gro?en Buchstaben ihrer Schlagzeile verkundeten, was gestern oder vorgestern oder vor einer Woche neu gewesen war. Bjork las sie zerstreut.
        UNZERSTORBARES LEICHTMETALL
        REVOLUTION IN DER KRIEGSINDUSTRIE
        Schwedischer Wissenschaftler lost das Problem, das die Wissenschaft der ganzen Welt beschaftigt hat.
        Wieder seufzte Schutzmann Bjork: »Wie schon ware es, wenn die Menschheit sich auf den Kampf um Gro?mummriche beschranken wurde. Dann hatte man eine Kriegsindustrie gar nicht notig …« Jetzt aber mu?te er sich um das falsch parkende Auto kummern.

»Hinter der Schlo?ruine werden sie bestimmt zuerst suchen«, versicherte Kalle und machte bei diesem Gedanken einen munteren Luftsprung.

»Deshalb habe ich auch dort eine kleine Mitteilung fur die Rotlichen hingelegt«, grinste Anders. »Wenn sie die gelesen haben, werden sie schon wild werden. Ich glaube, wir konnen in der Nahe warten und uns ihren Anfall ansehen.«
        Auf einer Anhohe vor ihnen reckte die alte Schlo?ruine ihre geborstenen Mauern in den bla?blauen Sommerhimmel. Einsam lag sie dort, eine ha?liche alte Burg, seit Jahrzehnten der Verlassenheit und dem Verfall anheimgegeben. Tief unter sich hatte sie die anderen Bauten der Stadt gelassen. Nur das eine oder andere Haus war vorwitzig ein wenig den Berg hinaufge-klettert, um sich der Gro?en, Gewaltigen oben auf der Hohe zu nahern.
        Als letzter Posten stand auf halbem Weg zur Ruine eine altertumliche Villa, fast versteckt hinter einer uppigen Hecke aus Hagedorn, Fliederbuschen und Kirschbaumen. Ein wackliger Zaun umgab das kleine Idyll. Gleich hinter der Villa zweigte ein Pfad vom Fahrweg ab und lief durch den Wald zur Schlo?ruine hinauf.
        Anders hatte beschlossen, hier die Ruckkehr der Roten abzuwarten. Er lehnte sich mit dem Rucken bequem an den Zaun.

»Nicht weit von oder Burg …« sagte Kalle und warf sich neben Anders ins Gras.
»Kommt ganz darauf an, wie man es ansieht. Wenn wir den Abstand von hier zum Sudpol als Vergleich nehmen, konnen wir den Gro?mummrich in der Gegend von Jonkoping verstecken und doch behaupten, es sei nicht weit von oder Burg.«

»Vollkommen richtig«, stimmte Eva-Lotte zu. »Wir haben nie behauptet, da? das Elsternnest sich durchaus am Rand der Schlo?ruine befinden musse. Aber die Roten sind viel zu vernagelt, um das zu begreifen.«

»Eigentlich mu?ten sie uns auf blo?en Knien danken«, sagte Anders erbittert. »Es hatte nahegelegen, den Gro?mummrich in der Gegend von Jonkoping zu verstecken. Aber wir haben ihn freundlicherweise ganz in der Nahe - bei Eklunds Villa - versteckt. Das ist doch wirklich anstandig.«

»Klar sind wir anstandig.« Eva-Lotte lachte zufrieden. Und dann sagte sie etwas vollig Unerwartetes: »Seht mal, da drinnen auf der Verandatreppe sitzt ein kleiner Knirps.«
        Wirklich, da sa? ein Knirps auf der Verandatreppe. Mehr war nicht notig, um Eva-Lotte ein Weilchen den Gro?mummrich vergessen zu lassen. Die beruhmte Eva-Lotte die ein so tapferer Krieger war, hatte eben einen Augenblick weiblicher Schwache.
        Es hatte noch nie etwas geholfen, wenn der Anfuhrer ihr klarzumachen versuchte, da? fur so etwas im Krieg der Rosen kein Platz war. Anders und Kalle waren immer wieder erstaunt uber Eva-Lottes Veranderung, sowie sie in die Nahe kleiner Kinder kam. Fur Anders und Kalle waren Kleinkinder nur beschwerlich, na? und rotznasig. Aber auf Eva-Lotte wirkten sie, als waren es alles kleine entzuckende Lichtelfen. Kam sie in den Zau-berkreis einer dieser Elfen, so veranderte sich ihr jungenhafter kleiner Amazonenkorper, und sie benahm sich in einer Weise, die nach Anders’ Meinung vollig unbeherrscht war. Sie stie? wunderliche weiche Laute aus, die Kalle und Anders einfach auf die Nerven gingen. Die lebendige, ubermutige Eva-Lotte, Ritter der Wei?en Rose, war wie fortgeblasen. Es fehlte nur noch, da? die Roten sie einmal in einer solchen Stunde der Schwache uberraschten - der Fleck auf dem Wappenschild der Wei?en Rose konnte so schnell nicht weggewaschen werden, meinten Kalle und Anders.
        Der Kleine auf der Verandatreppe hatte wohl bemerkt, da? vor seinem Zaun etwas Ungewohnliches geschah, denn er trottete jetzt langsam zur Gartenpforte. Er blieb stehen, als er Eva-Lotte sah. »Hej«, sagte er etwas schuchtern.
        Eva-Lotte stand am Zaun und hatte das im Gesicht, was Anders und Kalle Idiotenlachen nannten. »Hej«, sagte sie. »Wie hei?t du?«
        Der Kleine sah sie mit ruhigen, dunklen blauen Augen an und schien fur das Idiotenlachen nicht sonderlich empfanglich.

»Rasmus hei?’ ich«, antwortete er und malte mit dem gro?en Zeh im Sand des Gartenweges. Dann kam er naher. Er steckte ein kleines, stumpfes, sommersprossiges Naschen durch die Latten im Zaun und sah Kalle und Anders, die drau?en im Gras sa-
        - en. Sein ruhiges Gesicht wurde von einem breiten, entzuckten Grinsen gespalten.
»Hej«, sagte er. »Ich hei?e Rasmus!«

»Ja, haben wir gehort«, erwiderte Kalle gnadig.

»Wie alt bist du?« fragte Eva-Lotte.

»Funf Jahre«, antwortete Rasmus. »Aber nachstes Jahr, da werde ich sechs. Wie alt wirst du denn nachstes Jahr?«
        Eva-Lotte lachte. »Nachstes Jahr werde ich eine alte Tante«, sagte sie. »Was machst du ubrigens hier? Wohnst du bei Eklunds?«

»Das gerade nicht«, antwortete Rasmus. »Ich wohne bei meinem Vater.«

»Wohnt er in Eklunds Villa?«

»Klar macht er das«, sagte Rasmus energisch. »Ich konnte doch sonst nicht hier bei ihm wohnen. Das verstehst du doch wohl!«

»Das ist reinste und feinste Logik, Eva-Lotte«, kicherte Anders.

»Hei?t sie Eva-Lotte?« fragte Rasmus und zeigte mit dem gro?en Zeh auf Eva-Lotte.

»Ja, sie hei?t Eva-Lotte«, sagte Eva-Lotte. »Und sie findet dich prima!«
        Da die Roten noch nicht in Sicht waren, kletterte sie uber den Zaun und naherte sich dem reizenden Kleinen in Eklunds Garten. Es konnte Rasmus nicht entgehen, da? zumindest einer da war, der an ihm interessiert war, und er beschlo?, als Gegenleistung artig zu sein. Nun kam es nur noch darauf an, einen passenden Gesprachsstoff zu finden.

»Mein Vater macht Bleche«, begann er nach kurzer Uberlegung.

»Bleche macht er?« fragte Eva-Lotte. »Ist er Schmied?«

»Nein, Schmied ist er nicht«, sagte Rasmus. »Er ist ein Professor, der Bleche macht.«

»Wunderbar«, sagte Eva-Lotte. »Dann kann er vielleicht fur meinen Vater Bleche machen. Der ist Backer, verstehst du, und der kann eine Menge Bleche brauchen.«

»Ich werde meinen Vater bitten, da? er ein Blech fur deinen Vater macht«, versicherte Rasmus freundlich und legte seine Hand in Eva-Lottes.

»Ach, Eva-Lotte, la? doch blo? den Bengel sausen«, sagte Anders. »Die Roten konnen jeden Moment kommen.«

»Immer ruhig«, beschwichtigte ihn Eva-Lotte. »Ich werde die erste sein, die ihnen auf den Kopf klopft.«
        Rasmus starrte Eva-Lotte voller Bewunderung an.

»Wem wirst du als erste auf den Kopf klopfen?« fragte er.
        Und Eva-Lotte erzahlte. Vom ehrenvollen Krieg zwischen den Roten und den Wei?en Rosen. Von wilden Verfolgungsjag-den durch Stra?en und uber Zaune. Von gefahrvollen Auftragen, heimlichen Befehlen und spannendem Schleichen in dunklen Nachten. Von dem verehrten Gro?mummrich, und da? nun bald die Roten auftauchen wurden, wild wie die Hornissen, und welch einen gro?artigen Kampf es dann geben wurde.
        Das verstand Rasmus gut. Endlich, endlich verstand er den eigentlichen Sinn des Lebens! Eine Wei?e Rose mu?te man sein! Etwas Herrlicheres konnte es nicht geben. Tief unten in seiner funfjahrigen Seele wurde in dieser Stunde der Wunsch geboren, so sein zu durfen wie diese Eva-Lotte und Anders und der andere - wie hie? er doch
…? Kalle! Genauso stark und gro? zu sein, den Roten auf den Kopf zu klopfen, Haarstrauben zu bekommen, auf dunklen Wegen zu schleichen - und all das andere noch. Mit Augen, die voll waren von all seinen Wunschen, sah er begeistert zu Eva-Lotte auf und fragte beschworend:

»Eva-Lotte, darf ich auch eine Wei?e Rose werden?«
        Eva-Lotte gab seiner sommersprossigen Nase spielerisch einen leichten Stups.
»Nein, Rasmus«, sagte sie. »Dafur bist du noch zu klein!«
        Da wurde Rasmus bose. Eine heilige Wut packte ihn, als er die verha?ten Worte
»Dafur bist du noch zu klein« horte. Immer und immer und immer wieder bekam man sie zu horen!
        Wutend starrte er Eva-Lotte an.

»Dann finde ich, da? du blod bist«, sagte er.
        Als er das festgestellt hatte, uberlie? er sie ihrem Schicksal.
        Jetzt wollte er zu diesen Jungen gehen und dort fragen, ob er nicht eine Wei?e Rose werden durfe. Sie standen am Zaun und sahen interessiert zum Schuppen hinuber.

»Du, Rasmus«, fragte der, der Kalle hie?, »wem gehort denn das Motorrad da?«

»Vater naturlich«, sagte Rasmus.

»Donner!« murmelte Kalle. »Ein Professor, der Motorrad fahrt! Wie sieht das wohl aus? Ich denke, sein Bart wird sich in den Radern verwickeln.«

»Was fur ein Bart?« fragte Rasmus wutend. »Mein Vater hat keinen Bart!«

»Hat keinen?« grunzte Anders. »Jeder Professor hat doch wohl einen Bart?«

»Na bitte, stell dir vor, hat nicht jeder Professor«, sagte Rasmus und ging mit wurdigen Schritten zur Veranda zuruck. Diese Kinder dort waren alle blod, und er dachte nicht mehr daran, mit ihnen zu sprechen! Als er in die Sicherheit der Veranda gekommen war, drehte er sich um und schrie den dreien am Zaun zu: »Pfui Blase, was seid ihr blod! Mein Vater ist ein Professor und ohne Bart, und er macht Bleche!«
        Kalle, Anders und Eva-Lotte sahen belustigt auf die bose kleine Gestalt oben auf der Veranda. Sie wollten ihn doch nicht reizen. Eva-Lotte machte einige schnelle Schritte, um ihm nachzueilen und ihn ein bi?chen zu trosten, aber sie blieb gleich wieder stehen. Denn hinter Rasmus offnete sich die Tur, und jemand kam heraus. Es war ein sonnenverbrannter Mann in den Drei?igern. Mit festem Griff packte er Rasmus und schwang ihn sich auf die Schulter.

»Du hast recht, Rasmus«, sagte er. »Dein Vater ist ein Professor ohne Bart, und er macht Bleche.« Er kam den Weg herunter, Rasmus auf der Schulter, und Eva-Lotte schamte sich ein wenig: Sie war ja auf privatem Grund und Boden.

»Siehst du nun wenigstens, da? er keinen Bart hat!« schrie Rasmus triumphierend Kalle zu, der sich vorsichtig an der Zauntur herumdruckte. »Dann kann er also auch Motorrad fahren«, setzte er stolz hinzu. Vor seinem inneren Auge sah er seinen Vater mit langem, wallendem Bart, der sich um die Radach-sen wickelte, und es war ein au?erst emporender Anblick fur ihn.
        Kalle und Anders machten hoflich ihre Verbeugungen.

»Rasmus sagt, Sie machen Bleche, Herr Professor«, sagte Kalle schnell, um von der Sache mit dem Bart abzukommen.
        Der Professor lachte: »Ja, das kann man beinahe sagen. Bleche … Leichtmetall … Ich habe eine kleine Erfindung gemacht, versteht ihr?«

»Eine Erfindung?« fragte Kalle interessiert.

»Ich habe eine Moglichkeit gefunden, Leichtmetall unzerstorbar zu machen«, erklarte der Professor. »Das nennt Rasmus nun ›Bleche machen‹.«

»Oh, davon habe ich in der Zeitung gelesen«, sagte Anders eifrig. »Dann sind Sie ja direkt beruhmt!«

»Klar, sicher ist er beruhmt«, bestatigte Rasmus von seinem erhohten Platz aus.
»Und einen Bart hat er auch nicht, bitte sehr!«
        Der Professor lie? sich auf keine Diskussion uber seine Beruhmtheit ein. »Na, Rasmus«, sagte er, »wollen wir ins Haus gehen und fruhstucken? Ich konnte dir Schinken braten.«

»Ich habe gar nicht gewu?t, Herr Professor, da? Sie hier in der Stadt wohnen«, sagte Eva-Lotte.

»Nur wahrend des Sommers«, gab der Professor zuruck.

»Ich habe diese Zuflucht fur den Sommer gemietet, um in Ruhe arbeiten zu konnen.«

»Ja, Vati und ich machen hier Sommerferien, wir beide ganz allein«, sagte Rasmus,
»und Mutti ist bei Gro?vater in Indien.
        Stell dir vor, da wohnen namlich Gro?vater und Gro?mutter.
        Und ich hab’ sie noch nie gesehen, blo? als ich ganz klein war.
        Aber nachstes Jahr hat Vati mehr Zeit, und dann fahren wir zu Weihnachten alle hin, Vati und Mutti und ich - bitte sehr!«
        ZWEITES KAPITEL
        Eltern sind oft hinderlich, wenn man Krieg fuhren will. Sie greifen auf verschiedene Weise storend in den Gang der Geschehnisse ein. Manchmal bekam der Lebensmittelhandler Blomquist den Einfall, da? sein Sohn in den schwersten Stunden im Geschaft helfen sollte. Und der Postdirektor kam einfach daher und wunschte, da? Sixtus die Gartenwege harke und den Rasen sauber schneide. Vergeblich versuchte Sixtus, seinem Vater klarzumachen, da? ein wildwachsender Garten viel, viel schoner sei. Der Postdirektor schuttelte nur verstandnislos den Kopf und zeigte stumm auf den Rasenmaher.
        Noch verstockter in seinen Forderungen war der Schuhmacher Bengtsson. Er hatte von seinem dreizehnten Lebensjahr an selbst fur sich sorgen mussen, und das sollte sein Sohn auch, meinte der Schuhmachermeister. Deshalb versuchte er, mit au-
        - erster Strenge Anders wahrend der Sommerferien an den Schuhmacherhocker zu fesseln. Anders hatte im Laufe der Zeit eine komplizierte Technik entwickelt, allen Attentaten auf seine goldene Freiheit zu entgehen.
        Der Hocker, auf dem Anders sitzen sollte, war deshalb meistens leer, wenn der Schuhmacher in die Werkstatt kam, um seinen altesten Spro?ling in die Geheimnisse seiner Kunst einzuweihen.
        Richtig menschlich dachte nur Eva-Lottes Vater. »Wenn du nur glucklich bist - und nicht zuviel Unfug anstellst, will ich mich nicht weiter darum kummern, was du treibst«, sagte der Backermeister und legte sanft seine vaterliche Hand auf Eva-Lottes blonden Schopf.

»Solch einen Vater mu?te man haben«, sagte Sixtus verbittert und mit lauter Stimme, um das Klippklippklipp des Rasenmahers zu ubertonen.
        Das war nun seit kurzer Zeit das zweite Mal, da? sein unbarmherziger Vater ihn zur Gartenarbeit zwang. Benka und Jonte hingen am Zaun und sahen Sixtus teilnahmsvoll bei seinen Anstrengungen zu. Sie versuchten, ihn mit gluhenden Schilde-rungen eigener Leiden zu trosten. Hatte Benka nicht tatsachlich den ganzen Vormittag Himbeeren gepfluckt, und hatte Jonte nicht den ganzen Vormittag auf seine kleinen Geschwister auf-passen mussen?

»Klar, auf diese Weise wird man ja gezwungen, die Nachte zu Hilfe zu nehmen, wenn man den Wei?en an den Kragen will«, sagte Sixtus betrubt. »Man hat ja tagsuber kaum eine Stunde fur das Notwendigste ubrig.«
        Jonte nickte zustimmend: »Du hast das richtige Wort gesagt.
        Wollen wir nun heute nacht den Wei?en an den Kragen?«
        Sixtus warf sofort die Rasenmahmaschine beiseite.

»Da hast du gar nicht so unrecht, Jonte«, rief er. »Kommt, wir wollen in das Hauptquartier und Kriegsrat halten.«
        Und im Hauptquartier der Roten Rosen in Sixtus’ Garage wurde der Plan fur die kommende Nacht entworfen. Dann wurde Benka mit der Botschaft des Roten Chefs zu den Wei?en geschickt.
        Anders und Eva-Lotte sa?en in der Laube des Backermeisters und warteten darauf, da? der Lebensmittelladen geschlossen und Kalle fur diesen Tag frei wurde. In der warmen Julisonne sah der Wei?e Chef reichlich faul und nicht besonders kriegerisch aus. Aber er zuckte doch zusammen, als er Benka uber Eva-Lottes Steg springen sah, da? das Wasser nur so uber seine nackten Fu?e spritzte. Benka hielt ein Papier in der Hand, und dieses Papier uberreichte er dem Chef der Wei?en Rosen mit abgemessener Verbeugung. Dann verschwand er schnell auf demselben Weg, auf dem er gekommen war. Anders spuckte einen Kirschstein aus, bevor er mit lauter Stimme las:

»In dieser Nacht bei des Mondes Schein wird ein Fest in meiner Vater Burg sein. Denn die Rote Rose wird die glor-reiche Wiedereroberung des Gro?mummrich aus den Handen der Heiden feiern.
        WARNUNG: Stort uns nicht!!! Alles schleichende Ungezie-fer der Wei?en Rose wird schonungslos zertreten werden.
        Sixtus,
        Edelmann und Chef der Roten Rose
        P.S. Punkt 12 Uhr in der Schlo?ruine.«
        Anders und Eva-Lotte grinsten zufrieden.

»Komm, dann sausen wir und warnen Kalle«, sagte Anders.
        Er stopfte den Zettel in die Hosentasche. »Denk an meine Worte: Hier zieht es sich zusammen zu einer Nacht der Schrek-ken.«

»Bei des Mondes Schein« schlief die kleine Stadt unbekummert und tief. Von der
»Nacht der Schrecken« ahnte sie nichts.
        Schutzmann Bjork, der durch die menschenleeren Stra?en schlenderte, ahnte auch nichts davon. Alles war still. Er horte nur den Laut seiner eigenen Absatze auf dem Pflaster. Die Stadt schlief in einer Flut aus Mondschein; aber zwischen den schlafenden Hausern und den Garten lag die dunkle Schwarze der Schatten, und wenn Schutzmann Bjork etwas aufmerksamer gewesen ware, hatte er merken mussen, da? in dieser Schwarze Leben war.
        Er hatte horen mussen, wie dort jemand schlich und sich vorbei-schlangelte und flusterte. Er hatte sehen mussen, wie im Haus des Backermeisters Lisander vorsichtig ein Fenster geoffnet wurde und wie Eva-Lotte die Leiter hinunterkletterte. Er hatte an der Blomquistschen Ecke Kalle leise das Signal der Wei?en Rosen pfeifen horen und den Schimmer von Anders sehen mussen, bevor er im schutzenden Schatten der Fliederhecke verschwand.
        Schutzmann Bjork war nur leider sehr mude und wunschte sich, da? sein Rundgang endlich ein Ende nehmen moge. Deshalb begriff er nicht, da? dies die Nacht der Schrecken war.
        Die armen, unwissenden Eltern der Wei?en und Roten Rosen schliefen ruhig in ihren Betten. Keiner hatte sie nach ihrer Meinung uber die nachtlichen Ubungen ihrer Kinder gefragt.
        Nur Eva-Lotte hatte fur alle Falle einen Zettel geschrieben und auf ihr Kopfkissen gelegt. Sollte bei ihr zu Hause jemand auf den Einfall kommen, zu bemerken, da? sie verschwunden war, bitte, dort standen die beruhigenden Zeilen:

»Hej, alle miteinander! Stellt Euch blo? jetzt nicht an. Ich bin drau?en und kampfe und komme bald zuruck, glaube ich.
        Eva-Lotte«

»Nur eine kleine Beruhigungspille«, erklarte sie Kalle und Anders, wahrend sie den steilen Weg zur Schlo?ruine hinaufklet-terten.
        Eben schlug die Rathausuhr zwolf. Die Zeit war da.

»Meiner Vater Burg …« sagte Kalle. »Was meint Sixtus damit? Soviel mir bekannt ist, hat hier noch nie ein Postdirektor gewohnt.« Vor ihnen lag im Mondlicht die Schlo?ruine und sah wirklich nicht besonders postalisch aus.

»Die gewohnliche Angabe der Roten. Ist dir doch klar?« sagte Anders. »Sie mussen Prugel haben. Diese Angabe, weil sie nun schon mal den Gro?mummrich gefunden haben!«
        In seinem Innern war Anders gar nicht so unzufrieden damit, da? die Roten schlie?lich das rechte Elsternnest gefunden und den Gro?mummrich zuruckerobert hatten. Die Voraussetzung fur den Krieg der Rosen war ja, da? das Kleinod dann und wann den Besitzer wechselte.
        Ziemlich atemlos nach dem ermudenden Aufstieg standen die drei ein kleines Weilchen vor dem Eingang zur Ruine herum. Sie standen da und horchten auf die Stille und fanden, da? es drinnen unter den tiefen Gewolben recht duster und gefahrlich aussah.
        Da horten sie aus dem Dunkel eine Gespensterstimme, die rief: »Nun herrscht Kampf zwischen der Roten und der Wei?en Rose, und tausend und aber tausend Seelen werden in den Tod gehen - hinein in die Nacht des Todes.«
        Darauf folgte ein entsetzlich grausiges Lachen, dessen Echo zwischen den Steinwanden hin und her geworfen wurde. Und dann Stille, eine furchtbare Stille, als sei der, der vorher gelacht hatte, selber von Entsetzen uber etwas Unbekannt-Grausiges in der Dunkelheit gepackt worden.

»Vorwarts zu Kampf und Sieg!« schrie Anders entschlossen und sturzte sich kopfuber in die Ruine. Kalle und Eva-Lotte folgten ihm.
        Unzahlige Male waren sie tagsuber hier gewesen. Aber nie zuvor in der Nacht. Sie erinnerten sich gut, da? sie sogar schon einmal im Keller der Schlo?ruine von Verbrechern eingeschlossen gewesen waren. Das war damals gewesen; und doch schien es ihnen jetzt, da? es nicht so schaurig gewesen war wie heute, wo sie sich mitten in der Nacht durch eine vollig ungewisse Dunkelheit zwangten und wo uberall in den Schatten etwas Unheimliches verborgen sein konnte. Nicht nur die Roten! Nein, bestimmt nicht nur die! Gab es nicht auch Geister und Gespenster, die vielleicht ihre gestorte Nachtruhe dadurch rachten, da? sie aus irgendeinem Loch in der Wand, naturlich dort, wo man es am wenigsten vermutete, eine Knochenhand hervorstreckten, um einen zu erwurgen?
        Noch einmal schrie Anders: »Vorwarts zu Kampf und Sieg!«
        Er wollte wohl ihren Mut beleben, aber es klang in der Stille so entsetzlich, da? Eva-Lotte ihn zitternd bat, nicht noch einmal zu rufen. »Und la?t mich nicht allein, was ihr auch tun mogt«, setzte sie hinzu, »denn ich fuhle mich unter Gespenstern nun einmal nicht besonders wohl.«
        Kalle stie? sie beruhigend in den Rucken, und sie schlichen vorsichtig weiter. Nach jedem Schritt hielten sie an und horchten. Irgendwo in der Dunkelheit waren die Roten - denn es waren doch wohl hoffentlich ihre schleichenden Schritte, die man horte. Ab und zu schien der Mond durch ein gewolbtes Fenster, und dann sah man alles fast so deutlich wie am Tage: die verwit-terten Wande und den ausgetretenen Boden. Wo aber das Mondlicht nicht hinkam, da waren nur beangstigende Schatten und erschreckendes Dunkel und taube Stille. Und aus dieser Stille konnte man, wenn man ganz genau hinhorchte, schwaches Gefluster auffangen, flatterndes kleines Gefluster, das einem ins Ohr flo? und es mit Schrecken erfullte.
        Eva-Lotte hatte Angst. Ihre Schritte wurden langsamer. Wer flusterte dort? Waren es die Roten, oder war es das Echo langst gestorbener Stimmen, das jetzt noch unruhig zwischen den Schlo?mauern umhergeisterte? Sie streckte die Hand aus, um sich zu vergewissern, da? sie nicht allein war. Sie mu?te Kalles Windjacke mit ihren Fingerspitzen fuhlen konnen - als einen Schutz gegen die lauernde Angst. Aber da war keine Windjacke, und da war auch kein Kalle, nur ein schwarzer Hohlraum! Eva-Lotte stie? vor Entsetzen einen schrillen Schrei aus.
        Da scho? aus einer tiefen Nische in der Wand ein Arm hervor und fing sie mit festem Griff. Eva-Lotte schrie. Sie schrie, weil sie wirklich glaubte, dies seien die letzten Minuten ihres Lebens.

»Halt den Schnabel!« sagte Jonte. »Das hort sich ja an, als ob ein Idiot schreit.«

»Liebster, bester alter Jonte!« Plotzlich hielt Eva-Lotte ihren Gegner fur den herrlichsten aller Menschen. Innerlich wunderte sie sich verbittert, wo Anders und Kalle geblieben waren. Aber dann horte sie, nicht allzu weit entfernt, die Stimme ihres Chefs:

»Was schreist du nur so ’rum, Eva-Lotte? Sag uns lieber, wo das Fest hier eigentlich stattfindet.«
        Jonte war nicht besonders stark, und Eva-Lotte hatte sich mit ihren kleinen, harten Fausten bald befreit. Sie eilte in dem langen, dunklen Gang, so schnell sie konnte, vorwarts, und Jonte blieb ihr eifrig auf den Fersen. Jetzt kam von der anderen Seite auch noch jemand, und Eva-Lotte schlug wild um sich, damit sie den Weg frei bekam. Aber dieser Gegner war starker. Eva-Lotte spurte den Griff der Fauste wie eine eiserne Zange um ihre Handgelenke - sicher war das Sixtus -, aber einen leichten Match wollte ihm Eva-Lotte bestimmt nicht gonnen, nein, bestimmt nicht! Sie spannte jeden Muskel ihres Korpers an und stie? zu einer Art gewaltigem Kinnhaken ihren Kopf unter das Kinn ihres Gegners.

»Ajajajaj!« stohnte er, der Gegner. Und es war Kalles Stimme, die stohnte.

»Was ist blo? los mit dir?« fragte Eva-Lotte. »Du bist so streitsuchtig.«

»Und warum prugelst du mich?« gab Kalle zuruck. »Wenn man schon kommt, um dir zu helfen?«
        Jonte grinste vor Behagen und bekam es mit der Eile, der gefahrlichen Gesellschaft zu entkommen. Das war nichts fur ihn: einsam mit zwei Wei?en Rosen in einem dunklen Gang. Er rannte, so schnell er konnte, auf die helle Maueroffnung zu, um auf den Schlo?hof zu kommen. Zum Abschied hetzte er:

»Wunderbar! Herrlich! Schlagt euch nur richtig zusammen!
        Wir sparen dann viel Arbeit.«

»Ihm nach!« schrie Kalle, und sie rasten dem Ausgang zu.
        Aber drau?en im Schlo?hof hatten sich nun die beiden Anfuhrer getroffen und kampften miteinander. Jeder mit seinem Holzschwert bewaffnet, fochten sie im Mondlicht gegenein-ander. Eva-Lotte und Kalle zitterten vor Spannung, als sie die schwarzen Schatten um den kreisformigen Hof hasten sahen.
        Ja, das war in Wahrheit der Krieg der Rosen! Gerade zwischen solchen mittelalterlichen Mauern mu?ten sich die Kam-pen in nachtlichem Streite treffen. So war es doch gewesen, als der richtige Krieg zwischen den richtigen Roten und Wei?en Rosen getobt hatte und tausend und aber tausend Seelen in den Tod gegangen waren - hinein in die Nacht des Todes! Wie ein ha?licher kalter Luftzug streifte sie eine Ahnung, wie es wohl sein wurde, wenn der Krieg der Rosen nicht mehr nur ein lustiges Spiel ware. Denn dieses Duell im Mondschein war fur sie plotzlich kein Spiel. Ein Kampf auf Leben und Tod war es, und er konnte damit enden, da? einer der schwarzen Schatten, die jetzt noch an der Burgmauer hin und her jagten, schlie?lich re-gungslos liegenblieb und nicht mehr aufstand.

»Tausend und aber tausend Seelen …« flusterte Kalle vor sich hin.

»Ach, sei blo? ruhig«, sagte Eva-Lotte.
        Ihre Augen hingen an den kampfenden Schatten, sie flog am ganzen Korper vor Aufregung. Dicht bei ihr standen Benka und Jonte, und sie verfolgten genauso aufgeregt und atemlos den bewegten Kampf. Die Schatten machten Ausfalle, parierten und gingen in den Nahkampf, zogen sich zuruck, um sofort wieder zur Attacke uberzugehen. Sie waren vollig stumm. Man horte nur das dumpfe Klappen, wenn sich die Schwerter kreuzten.

»Wiege sie zur ew’gen Ruh mit der Schwerter Wiegenlied«, deklamierte Benka. »Und gib’s ihm, da? es nur so hagelt«, fugte er hinzu, um die seltsame Verzauberung, die die gleitenden Schatten auf ihn ausubten, zu brechen.
        Da erwachte Eva-Lotte, und befreit atmete sie auf. Quatsch, das waren doch blo? Anders und Sixtus, die da ihre holzernen Klingen kreuzten.

»Jag ihn hinaus aus seiner Vater Burg!« rief Kalle seinem Chef aufmunternd zu.
        Der Chef tat, was er konnte. Aus seiner Vater Burg konnte er Sixtus zwar nicht vertreiben, aber mit der Kraft seines Schwertes trieb er ihn ruckwarts gegen die Pumpe in der Mitte des Schlo?-hofes. Neben der Pumpe war eine alte Fontane in einem schmutzigen Wasserbecken. Und etwas Besseres konnte es gar nicht geben, als was jetzt geschah: da? der Rote Chef durch einen unvor-sichtigen Schritt ruckwarts in das Becken fiel.
        Mit ihren Jubelschreien ubertonten Kalle und Eva-Lotte die zornigen Protestrufe der Roten. Aber Sixtus erhob sich aus seinem Bad, und jetzt war er richtig wild. Wie ein gereizter Stier sturzte er sich auf Anders, der der Abwechslung halber kehrt-machte und ausruckte. Vor Lachen glucksend, sauste er auf die Schlo?hofmauer zu und begann sie zu erklettern. Bevor er es aber geschafft hatte, war Sixtus bei ihm und kletterte ihm nach.

»Wohin mit dir?« reizte Anders und sah auf seinen Verfolger hinunter. »Du willst wohl zu dem Fest auf deiner Vater Burg?«

»Zuerst will ich dich aber skalpieren«, versicherte Sixtus.
        Auf leichten Fu?en sprang Anders auf der Mauer entlang. Er dachte allerdings verwundert daran, was wohl geschehen sollte, wenn Sixtus ihn erreichen wurde. Hier oben kampfen war ausgesprochen lebensgefahrlich: An einer Seite der Burgmauer gahnte ein Abgrund. Sixtus brauchte ihn nur zwanzig Meter weit nach Osten zu jagen, und schon gab es nicht mehr die weiche Grasmatte in Mannshohe unterhalb der Mauer, sondern nur noch die erschreckende Tiefe von mindestens drei?ig Metern.
        Diese zu erwartenden drei?ig Meter konnten ja eigentlich Anders nicht daran hindern, von der Mauer zu klettern, bevor er uber der grausigen Tiefe war; aber er hatte einfach keinen Gedanken dafur ubrig. Was gefahrlich war, machte Spa?, und diese Nacht war fur Schrecken bestimmt. Vielleicht hatte ihn auch eine besondere Art von Mondwahnsinn gepackt, denn er spurte eine wilde Lust, Handlungen von au?erster Verwegenheit zu begehen. Er wollte etwas anstellen, was die Roten so richtig nach Luft schnappen lie?.

»Komm, komm, komm, kleiner Sixtus«, lockte er. »Wie war’s mit einer netten Mondscheinpromenade?«

»Halt du blo? die Luft an! Ich komme schon«, brummte Sixtus. Er begriff sehr gut, was Anders vorhatte. Aber er war nicht einer von denen, die man so im Handumdrehen dazu bringen konnte, nach Luft zu schnappen.
        Der Pfad auf der Mauer war ungefahr vierzig Zentimeter breit, also eine richtige Promenade fur den, der es gewohnt war, in der Turnstunde auf dem viel schmaleren Schwebebalken zu balancieren.
        Jetzt hatte Anders die ostliche Ecke erreicht. Er stand auf einer kleinen runden Plattform, einer Schutzwehr, und von hier ab schwenkte die Mauer nach Suden und folgte der jahen Tiefe.
        Anders machte einige Probeschritte. In diesem Augenblick horte er in seinem Innern die Stimme der Vernunft, und noch war es nicht zu spat, ihr zu folgen. Sollte er - oder sollte er nicht?
        Lieber nicht!
        Sixtus hatte sich beunruhigend genahert. Er grinste entzuckt, als er Anders zaudern sah.

»Hier naht einer, der dein Herzblut sehen will«, sagte er zartfuhlend. »Du hast doch nicht etwa Angst?«

»Angst?« schrie Anders und bedachte sich nicht langer. Mit ein paar schnellen Schritten war er wieder drau?en auf der Mauer. Ein Zuruck gab es jetzt nicht mehr. Mindestens funfzig Meter mu?te er an der grauenhaften Tiefe entlangbalancieren.
        Er versuchte, nicht hinunterzusehen, sah nur den Mauerpfad entlang, der sich wie ein Silberband im Mondlicht ausstreckte.
        Ein sehr langes Silberband - und sehr schmal. Plotzlich so be-
        angstigend schmal! Hatte er deshalb so ein weiches Gefuhl in den Beinen?
        Gern hatte er sich umgedreht, um zu sehen, wo Sixtus war.
        Aber er getraute es sich nicht.
        Jetzt war es auch nicht mehr notig, denn jetzt horte er Sixtus’
        Atemzuge dicht hinter sich. Sehr nervose Atemzuge, stellte er fest. Sixtus war bestimmt angstlich, er auch! Anders selbst schwebte jetzt in volliger Todesangst. Es war nutzlos, etwas anderes zu behaupten. Und hinten waren die anderen Rosen auf die Schutzwehr geklettert. Dort standen sie und starrten voller Entsetzen auf die Wahnsinnstat ihrer Anfuhrer.

»Hier naht - ei - ner, der dei - n Herzblut - se - hen will«, murmelte Sixtus. Aber seine blutdurstigen Reden horten sich nicht mehr sehr uberzeugend an.
        Anders uberlegte. Naturlich konnte man noch in den Burghof springen. Das wurde aber auf jeden Fall ein Sprung von drei Metern, hinunter auf unebene Steine. Man konnte sich nicht langsam und vorsichtig hinuntergleiten lassen, denn dazu ware immer vorher auf der Mauer eine Kniebeuge notig gewesen.
        Und Anders verspurte wirklich keine Lust, in der Nahe einer gahnenden Tiefe Kniebeugen zu machen. Nein, es gab nur eine Moglichkeit: weiterzulaufen und die Augen eisern auf die rettende Schutzwehr am anderen Ende der Mauer zu richten.
        Moglich, da? Sixtus doch gar nicht so angstlich war. Er hatte noch etwas von seinem grausigen Humor ubrig. Anders horte dicht hinter sich seine Stimme.

»Ich komme naher«, sagte er. »Immer naher komme ich, und bald werde - ich - dir - ein - Bein stellen«.
        Das war naturlich nicht ernst gemeint. Aber fur Anders wurde es verhangnisvoll. Allein die Vorstellung, da? ihm jetzt jemand von hinten ein Bein stellen konnte, jagte ihm einen wahnsinnigen Schrecken ein. Er drehte sich halb zu Sixtus um -und wackelte.

»Pa? auf!« schrie Sixtus unruhig.
        Da wackelte Anders noch einmal - und von der Schutzwehr erklang in derselben Sekunde ein gellender Schrei. Zu ihrem Entsetzen sahen die Rosen den Wei?en Chef in die Tiefe sturzen.
        Eva-Lotte hatte die Augen geschlossen. Verzweifelte Gedanken rasten durch ihren Kopf. Wo, oh, wo gab es einen Menschen, der ihnen jetzt helfen konnte? - Wer wurde zu Frau Bengtsson gehen und ihr erzahlen, da? Anders tot war? - Was sollten sie zu Hause sagen?
        Da horte sie Kalles Stimme, schrill und grell vor Aufregung:

»Seht, er hangt im Busch!«
        Eva-Lotte offnete die Augen und starrte angstlich in die Tiefe. Tatsachlich, dort hing Anders! Ein Busch hatte in der Berg-wand ein Stuck unterhalb der Mauer Wurzeln geschlagen und hatte vorsorglich den Wei?en Chef aufgefangen, als er so plotzlich in einen sicheren Tod fallen wollte.
        Von Sixtus sah Eva-Lotte zuerst nichts. Der Schreck hatte auch ihn zu Fall gebracht. Aber mit viel Geistesgegenwart hatte er sich in den Burghof fallen lassen, wo er sich zwar Knie und Hande blutig geschlagen hatte, aber am Leben geblieben war.
        Ob Anders am Leben bleiben wurde, war mehr als zu bezweifeln. Der Busch bog sich beangstigend unter seiner Last. Eva-Lotte stohnte.

»Was machen wir? Was in aller Welt sollen wir tun?« wimmerte sie und starrte Kalle mit verzweifelten Augen an.
        Wie gewohnlich mu?te Meisterdetektiv Blomquist die Leitung ubernehmen, wenn Gefahr drohte.

»Festhalten, Anders!« schrie er. »Ich hole ein Seil!«
        In der vorigen Woche hatten sie hier oben bei der Schlo?ruine Lassowerfen geubt. Irgendwo mu?te das Seil noch herumliegen. Es mu?te.

»Beeil dich, Kalle!« rief Jonte, als Kalle aus der Burgpforte lief.

»Beeil dich, beeil dich, beeil dich!« Alle schrien sie diese eigentlich uberflussige Ermahnung. Kalle konnte sich nicht mehr beeilen, als er tat.
        Unterdessen versuchte man, Anders den Mut zu starken.

»Sei nur ruhig«, trostete Eva-Lotte ihn. »Bald kommt ja Kalle mit einem Seil.«
        Anders benotigte viel Trost. Seine Situation war wirklich gefahrlich, wie er auf dem Busch ritt wie die Hexe auf ihrem Be-sen. Er getraute sich nicht, in die Tiefe zu sehen. Er getraute sich nicht, zu schreien. Er getraute sich nicht, sich zu bewegen.
        Er getraute sich uberhaupt nichts. Er konnte nur warten.
        Er starrte an der Mauer hoch. Wenn Kalle das Seil nicht finden wurde, konnten ihm diese kleinen Mauervorsprunge auch nicht viel helfen. Er starrte auf den Busch, der sich bog und knackte.

»Warum kommt er denn blo? nicht?« schluchzte Eva-Lotte.

»Warum beeilt er sich denn nicht?«
        Sie hatten nur sehen sollen, wie sehr sich Kalle beeilte. Wie eine Wespe schwirrte er umher und suchte uberall. Suchte, suchte, suchte … Aber es fand sich kein Seil.

»Hilfe!« murmelte Kalle angstlich.

»Hilfe!« murmelte Anders mit bleichen Lippen und sa? dort auf seinem Busch.

»Ojojojoj«, murmelte Sixtus oben auf der Schutzwehr, »ojo-jojoj!«
        Aber da kam - endlich! - Kalle, und das Seil hatte er auch.

»Eva-Lotte, du bleibst dort oben und haltst Ausschau!« kommandierte er. »Ihr anderen kommt herunter!«
        Jetzt mu? alles schnell gehen. Kalle wei?, was er zu tun hat.
        Einen Stein aussuchen und an einem Ende des Seiles festbinden.
        Ihn dann uber die Mauer schleudern, moglichst ohne Anders’
        Schadel zu treffen. Hoffen, bitten, wunschen, da? Anders das Seil packen kann, ehe es zu spat ist. Hande und Finger werden so fahrig, wenn es eilig ist. So entsetzlich eilig …
        Da unten klebt Anders an der Mauer und starrt mit brennenden Augen hoch. Wird die Rettung nicht endlich kommen?
        Ja, sie kommt. Da fliegt das Seil uber die Mauer. Viel zu weit weg. Unerreichbar fur seine sehnsuchtigen Hande.

»Mehr nach rechts!« schreit Eva-Lotte von ihrem Aussichts-posten.
        Kalle und die anderen unten an der Mauer rei?en und zerren am Strick und versuchen, ihn dichter an Anders heranzube-kommen. Es ist unmoglich. Das Seil mu? sich an irgendeiner Unebenheit auf dem Mauersims verfangen haben.

»Ich halte es nicht mehr aus«, flusterte Eva-Lotte. »Ich halte es nicht mehr aus.«
        Sie sieht, wie die Jungen vergeblich an dem Seil zerren. Sie sieht Anders in seiner Angst - - o Anders, wei?este Wei?e Rose, Edelmann unserer Wei?en Rose!

»Ich halte es keine Sekunde mehr aus!«
        Mit schnellen, leichten nackten Fu?en lauft sie auf die Mauer hinaus. Mut Eva-Lotte! Nicht nach unten sehen! Nur vorwarts laufen bis zu dem Seil und sich bucken ja, ja, sich bucken, wenn die Beine auch noch so sehr zittern! Das Seil losen, es auf Anders zuschieben, sich auf der schmalen Mauer umdrehen und zur Schutzwehr zurucklaufen.
        Das tut sie - und heult nachher los wie ein Schlo?hund.
        Die Jungen haben sie mit keinem Wort gestort. Jetzt la?t Kalle das Seil sachte abwartsgleiten. Der Stein schaukelt vor Anders. Vorsichtig, ganz, ganz vorsichtig streckt er seine Finger danach aus, und Eva-Lotte verbirgt ihr Gesicht in den Handen.
        Aber sie soll ja Ausschau halten. Sie mu? sich zum Sehen zwingen. Und da - da hat Anders das Seil in den Handen.

»Er hat es!« schreit Eva-Lotte gellend. »Er hat es!«
        Nachher stehen sie um Anders herum und haben ihn alle so gern und sind so froh, da? er gerettet ist. Er ist famos, dieser Anders! Auf jeden Fall ist es herrlich, da? er lebt!

»Was hattest du eigentlich unten im Busch zu tun?« fragt Sixtus. »Hast du Vogeleier gesucht?«

»Ja, ich dachte, da? du vielleicht einige Verlorene Eier zu dem Fest auf deiner Vater Burg brauchen konntest«, entgegnete Anders.

»Und da bist du beinahe selbst ein Verlorenes Ei geworden«, sagt Kalle. Und daruber lachen sie sehr: Haha, da ware doch Anders beinahe ein Verlorenes Ei geworden! Sixtus schlagt sich beim Lachen auf die Knie. Da fuhlte er, da? seine verwundeten Kniescheiben weh tun. Au?erdem friert er in seinen nassen Kleidern.

»Kommt, Benka und Jonte, jetzt hauen wir ab!«

»Ja«, sagt Eva-Lotte. »Jetzt mu? der Chef der Roten endlich trockengelegt werden. Hoffentlich bekommt ihm das Bad, das er auf seiner Vater Burg genommen hat!«

»Schlaft gut!« ruft Benka im Davonlaufen. »Und wenn wir wieder mal Verlorene Eier brauchen, wenden wir uns an euch.«
        Sixtus legt ein schones Tempo vor, und seine Getreuen folgen ihm zur Burghoftur. Im Tor dreht er sich um und winkt Kalle und Anders und Eva-Lotte zu.

»Hallo, ihr alle, ihr Wurmchen der Wei?en Rose«, ruft er zuruck. »Morgen werden wir euch von der Erdoberflache ver-tilgen!«
        Hier irrt der Rote Chef. Es wird eine Zeit dauern, bis die Rosen sich wieder treffen werden.
        DRITTES KAPITEL
        Glucklich und zufrieden wanderten die drei Wei?en Rosen heimwarts. Die Nacht hatte ihnen allerlei beschert, aber Anders’
        Abenteuer hatte ihr Gleichgewicht nicht durcheinanderge-bracht. Solange Anders auf dem Busch gesessen hatte, waren sie vor Angst au?er sich gewesen. Aber wozu mu?te man hinterher noch Angst haben? Es war doch alles gutgegangen, und Anders hatte wahrhaftig keinen Nervenschock davongetragen. Er nahm sich gar nicht erst vor, wegen dieses kleinen Erlebnisses Alp-traume zu haben. Er gedachte, nach Hause zu gehen, ruhig zu schlafen und voller Vertrauen am nachsten gefahrlichen Tag aufzuwachen. Aber in den Sternen stand geschrieben, da? keine der Wei?en Rosen in dieser Nacht Schlaf finden sollte.
        Im Gansemarsch liefen sie den kleinen, schmalen Pfad zur Stadt zuruck. Besonders mude waren sie nicht, aber Kalle gahnte doch sehr lange und laut und sagte, das Schlafen in der Nacht sei bei vielen Leuten tatsachlich richtig popular geworden, und man konnte es ja schlie?lich auch einmal versuchen, um zu sehen, was »da eigentlich dran« sei.

»Dem Rasmus gefallt es bestimmt«, flusterte Eva-Lotte zartlich und blieb stehen. Sie waren im Wald neben Eklunds Villa angelangt, kurz bevor der Pfad auf den Fahrweg mundete, und konnten das Haus durch die Baume sehen. »Oh, wie wird Rasmus su? aussehen, wenn er schlaft«, fuhr Eva-Lotte fort.

»Nein, nein, nein, Eva-Lotte«, sagte Anders beschworend,

»fang doch bitte nicht wieder damit an!«
        Sicher schliefen Rasmus und sein Vater um diese Zeit in ihrem einsamen Haus. Im oberen Stockwerk stand ein Fenster offen, und eine wei?e Gardine wehte leicht, als wollte sie den drei Nachtwanderern unten auf dem Pfad nur schnell einmal zuwin-ken. So still, so leise war es, da? Anders unwillkurlich die Stimme gesenkt hatte, um die Menschen, die dort oben hinter der leicht wehenden Gardine schliefen, nicht zu wecken.
        Aber es gab jemand, der weniger rucksichtsvoll war, wenn es anderer Menschen Schlaf galt. Jemand, der Auto fuhr. An- und abschwellendes Brummen fra? sich in die Stille, man konnte den Gangwechsel horen. Dann wurde nervenaufpeitschend ge-bremst - und dann war alles wieder wie zuvor: nur Stille.

»Wer, zum Teufel, kutschiert um diese Zeit mit dem Auto hier herum?« wunderte sich Kalle.

»Was geht’s dich an?« sagte Anders kurz. »Komm jetzt.
        Worauf warten wir eigentlich?«
        Aber tief, tief unten in Kalles Seele reckte Meisterdetektiv Blomquist hellwach seinen Kopf in die Hohe. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, in welcher Kalle ausschlie?lich »Herr Karl Blomquist, Meisterdetektiv« gewesen war: der scharfsinnige, unbestechliche Meisterdetektiv, der uber die Sicherheit der Stadt wachte und seine Mitmenschen hauptsachlich in zwei Ka-tegorien, »die Verhafteten« und »die noch nicht Verhafteten«, einteilte. Aber inzwischen war auch Kalles Verstand gewachsen, und jetzt kam es nur bei ganz bestimmten Begebenheiten vor, da? er sich wie ein Meisterdetektiv fuhlte. Und hier war eine solche Begebenheit. Tatsachlich: Hier war eine solche Begebenheit!
        Wo will er hin, der im Auto kommt? Hier oben gibt es nur ein Haus, Eklunds Villa. Wie ein vorgeschobener Posten liegt sie ein weites Stuck uber allen ubrigen Hausern der Stadt. Es kann nicht sein, da? der Professor jetzt Besuch erwartet: Das Haus schlaft doch. Kann in dem Auto ein verliebtes Paar sitzen?
        Ein Paar, das hier heraufgefahren ist, um den Mond anzu-schwarmen? Lokalkenntnis fehlt ihnen dann aber. Der richtige Schwarmplatz der Stadt liegt genau in entgegengesetzter Richtung. Und man mu? schon vor lauter Liebe geistig ziemlich umnachtet sein, wenn man sich diesen steilen, schmalen und krummen Weg zu einer Autoschwarmerei ausgesucht hat. Aber wer ist es dann, der mit dem Auto hier heraufkommt? Kein echter Detektiv kann diese Frage ungelost liegenlassen. Das geht einfach nicht.
        Sie waren an den Fahrweg gekommen.

»He, hort mal, konnen wir nicht noch ein Weilchen warten, um zu sehen, wer kommt?« fragte Kalle.

»Warum blo??« fragte Eva-Lotte. »Glaubst du im Ernst, hier laufen Mondmorder herum?«
        Sie hatte noch nicht ausgesprochen, als vor dem Zaun der Villa, ungefahr funfundzwanzig Meter von ihnen entfernt, zwei Manner auftauchten. Man konnte die Gartentur schwach in ihren Angeln quietschen horen, als die beiden vorsichtig die Tur offneten und hineingingen. Ja, sie gingen tatsachlich hinein!

»Runter mit euch in den Graben!« flusterte Kalle erregt, und Sekunden spater lugten die Kopfe der drei Rosen gerade noch so weit uber den Grabenrand, da? ihre Augen verfolgen konnten, was im Garten des Professors geschah.

»Ach, so ein Quatsch - wenn die nun vom Professor eingela-den sind«, zischelte Anders.

»Denkst du«, sagte Kalle leise.
        Wenn es tatsachlich Gaste des Professors waren, benahmen sie sich wahrhaftig eigentumlich. Wenn man ein gern gesehener Gast ist, schleicht man doch nicht, als sei man angstlich, ertappt zu werden. Man umkreist nicht das Haus. Man geht nicht hin und her und betastet Turen und Fenster. Ein lieber Gast, der das Haus verschlossen findet, stellt doch wohl keine Leiter gegen ein offenes Fenster im oberen Stockwerk und klettert dort hinein! Aber gerade all diese Dinge taten die nachtlichen Besucher.

»Ich gehe ein«, keuchte Eva-Lotte. »Die klettern tatsachlich durchs Fenster!«
        Und das taten die Manner zweifellos, soweit man seinen eigenen Augen trauen konnte. Die drei lagen im Graben und starrten erschrocken auf das offene Fenster mit seiner spielerisch gebauschten Gardine. Es dauerte eine Ewigkeit. Eine Ewigkeit an Warten. Eine Ewigkeit an Stille ohne andere Laute als ihre unruhigen Atemzuge und das schwache Rascheln des Nachtwindes in den Kirschbaumen.
        Endlich kam einer der beiden wieder auf die Leiter. Er trug etwas im Arm. Um aller Barmherzigkeit willen - was trug er da?

»Rasmus«,flusterte Eva-Lotte und wurde schneewei? im Gesicht. »Seht, sie rauben Rasmus!«
        Aber nein, dachte Kalle, das war ja unmoglich. So etwas konnte hier doch gar nicht passieren. Hier nicht! In Amerika vielleicht - davon hatte man ja schlie?lich schon einiges in den Zeitungen gelesen -, aber hier: nein! Aber anscheinend konnte es auch hier geschehen. Der Mann dort - trug Rasmus. Wahrhaftig, das war Rasmus. Er hielt ihn sorgfaltig im Arm, und Rasmus schlief.
        Als der Mann mit seiner kleinen Last den Fahrweg hinunter verschwunden war, begann Eva-Lotte leise zu wimmern. Sie wandte Kalle ihr leichenblasses Gesicht zu und beschwor ihn, genau wie vorhin, als Anders auf dem Busch gesessen hatte.

»Was machen wir? Was in aller Welt sollen wir tun, Kalle?«
        Kalle war zu aufgewuhlt, um eine vernunftige Antwort zu geben. Er fuhr sich mit den Fingern nervos durch das Haar und stammelte: »Ich wei? nicht. Wir … wir … mussen Schutzmann Bjork holen … wir mussen …«
        Wild kampfte er gegen die furchtbare Lahmung in seinem Innern an. Er mu?te doch klar denken! Irgend etwas mu?te sofort geschehen, aber jetzt war er nicht der Mensch, zu bestimmen, was. Niemals wurden sie es schaffen, die Polizei zu holen.
        So viel konnte er noch begreifen. Die Banditen wurden Zeit haben, noch ein Dutzend Kinder zu rauben, bevor die Polizei hier war.
        Da kam der Mann zuruck. Rasmus hatte er nicht mehr auf dem Arm.

»Naturlich in das Auto gelegt«, flusterte Anders.
        Eva-Lotte antwortete darauf mit einem erstickten Stohnen.
        Sie sahen dem Kindesrauber mit vor Schreck ganz runden Augen nach. Nein, da? es derartig verabscheuenswerte Menschen gab - solche satanischen Schurken …
        Jetzt offnete sich die Verandatur, und der andere wurde sichtbar. »Schnell, Nicke«, rief er mit tiefer Stimme. »Wir haben es bald geschafft!«
        Der Mann, der Nicke hie?, war mit ein paar schnellen Schritten oben auf der Veranda, und dann verschwanden beide wieder in der Villa.
        Jetzt kam Leben in Kalle. »Kommt«, flusterte er hastig.

»Kommt, wir mussen Rasmus zuruckrauben.«

»Wenn wir es schaffen«, sagte Anders.

»Wenn wir es schaffen, jaja, naturlich - wenn wir es schaffen«, erwiderte Kalle.
»Los! Wo steht das Auto?«
        Es stand gleich unterhalb einer steilen Stelle des Fahrweges und hatte dort gewendet. Sie rannten hin. Schnell und leise liefen sie in der Grabenvertiefung, und sie fuhlten bei dem Gedanken, da? sie nun Rasmus den Klauen der Banditen entrei?en wurden, einen wilden Triumph. Einen wilden Triumph und eine gleich wilde Angst.
        In diesem Augenblick entdeckten sie, da? das Auto bewacht wurde. An der gegenuberliegenden Stra?enseite stand ein Mann. Er wandte ihnen glucklicherweise den Rucken zu und war in hochst privater Weise beschaftigt. Sie waren ihm sonst sicher nicht entgangen. Nun konnten sie sich blitzschnell hinter einige schutzende Busche werfen. Etwas Beunruhigendes hatte der Mann sicher gehort, denn er drehte sich um und kam auf ihre Stra?enseite heruber. Mi?trauisch starrte er genau in die Busche hinein, hinter denen sie lagen. Horte er wirklich ihre hammernden Herzen und ihren keuchenden Atem nicht?
        Es kam ihnen wie ein Wunder vor, da? er es nicht tat. Er stand ein Weilchen und horchte, machte einen kleinen Gang zum Auto und sah durch ein Seitenfenster hinein. Schlenderte etwas aufgeregt auf der Stra?e hin und zuruck. Blieb mal stehen und starrte wie gebannt zur Villa hinuber. Fand er, da? seine Kumpane zu lange blieben?
        Hinter den Buschen herrschte Verzweiflung. Was konnte man schon fur Rasmus tun, solange die Figur dort umherlief?
        Eva-Lotte weinte. Kalle mu?te ihr einen kraftigen Puff geben, um sie zum Schweigen zu bringen, und schlie?lich nahm er sich mit dem Puff auch etwas von seiner eigenen Angst.

»Jammer und Elend«, sagte Anders. »Was sollen wir denn blo? tun?«
        Da schluckte Eva-Lotte energisch einen Schluchzer hinunter und sagte: »Ich, auf jeden Fall - ich mu? zu Rasmus in das Auto.
        Wird er geraubt, so werde ich auch geraubt! Er soll nicht ganz allein mit einem Haufen Rauber sein, wenn er aufwacht.«

»Ja aber …« wollte Kalle einwenden.

»Ruhig! Red nicht!« wehrte Eva-Lotte ab. »Geht und macht verdachtige Gerausche in den Buschen - etwas weiter weg naturlich -, damit der Kerl das Auto eine Weile vergi?t.«
        Anders und Kalle sahen sie erschrocken an, aber sie merkten, Eva-Lotte war entschlossen. Und wenn Eva-Lotte entschlossen war, konnte man nichts dagegen tun. Das wu?ten sie aus Erfahrung.

»La? mich das fur dich machen«, schlug Kalle vor, obwohl er genau wu?te, da? es zwecklos war.

»Los, los, lauft schon!« sagte Eva-Lotte. »Beeilt euch! Beeilt euch!« Sie gehorchten ihr. Bevor sie verschwanden, horten sie hinter sich noch Eva-Lottes flusternde Stimme:

»Wie eine Mutter werde ich zu Rasmus sein. Und dann werde ich, wenn ich kann, Spuren zurucklassen. Ihr wi?t doch: so wie in ›Hansel und Gretel‹.«

»Fein«, sagte Kalle. »Wir werden dir wie zwei Bluthunde folgen.«
        Sie winkten ihr noch einmal zu und liefen dann lautlos zwischen den Buschen fort.
        Wie gut, wenn man bei solchen Gelegenheiten leise schleichen kann! Also ist er doch nicht nutzlos gewesen, der Krieg der Rosen. Man hat sich eine gewisse Ubung darin erworben, Wacht-posten zu tauschen. Diesen Idioten auf der Stra?e zum Beispiel.
        Er hat den Auftrag bekommen, Rasmus zu bewachen. Und treu und brav schlendert er nun auf der Stra?e um das Auto herum.
        Hin und her. Hin und her. Dann aber hort er plotzlich weiter entfernt in den Buschen ein verdachtiges Geknacke. Und dann mu? er naturlich dorthin und sehen, was das wohl sein kann.
        Springt also resolut uber den Graben und taucht hinein in die Haselnu?straucher. Sehr aufmerksam, sehr wachsam, klar, klar, er ist ja so wachsam! Aber es ist doch das Auto, auf das er achtgeben soll, der Dumme! Was kann nicht alles am Auto passieren, wahrend er zwischen den Haselnu?strauchern sucht! Vollig sinnlos sucht. Denn er findet dort nichts, einfach gar nichts.
        Freilich liegen da zusammengekauert hinter einem Gebusch zwei Jungen versteckt, aber die sieht er naturlich nicht. Und in seiner Einfalt glaubt er, falsch gehort zu haben, oder er glaubt, da? da ein Tier zwischen den Buschen geraschelt hat. Er ist schon ein wachsamer Bursche! Er hat es jedenfalls bewiesen.
        Und als er zum Auto zuruckgeht, ist er richtig zufrieden mit sich selbst.
        Und nun kommen auch endlich seine Kumpane. Die beiden Jungen, die vorsichtig aus dem Haselnu?busch hervorlugen, sehen sie auch.

»Guck, der Professor«, flusterte Kalle. »Sieh blo?, die rauben auch den Professor!
        Ist das uberhaupt wahr? Ist das alles nur ein Traum? Ist das wirklich der Professor, der da zum Auto gezerrt wird? Ein wilder, wutender, sich wehrender, widerspenstiger Professor mit auf dem Rucken gebundenen Handen und einem Knebel im Mund.
        Es ist wie im Traum und unheimlich. Aber ist es denn ein Traum? Jetzt, da es anfangt hell zu werden, sieht man alles so entsetzlich klar. Der Staub, den der Professor mit seinen widerstrebenden Fu?en aufwirbelt, der ist kein Traum. Der Knall, als die Autotur hinter ihm zugeworfen wird, ist auch Wirklichkeit.
        Nun rast der Wagen die abschussige Stra?e hinunter und verschwindet. In dem klaren Dammerlicht liegt die Stra?e jetzt einsam und leer da. Es konnte alles ein Traum gewesen sein, wenn nicht noch ein schwacher Dunst von Benzin in der Luft hangen wurde. Und wenn nicht dort am Stra?enrand ein kleines feuchtes Taschentuch liegen wurde. Eva-Lottes Taschentuch.

»Ob sie Eva-Lotte rauswerfen, wenn sie sie entdecken?« fragt Anders.

»Die werden sich huten«, murmelt Kalle, »den einzigen Augenzeugen, den es ihrer Meinung nach gibt, in Freiheit zu setzen.«
        Unten schlaft die Stadt. Sie wird bald erwachen. Die ersten Sonnenstrahlen blitzen bereits auf den vergoldeten Turmspitzen des Rathauses.

»Guter Moses!« sagt Kalle und schuttelt sich.

»Ja, du guter Moses!« sagt Anders. »Worauf wartest du noch, Kalle? Bist du nun Meisterdetektiv Blomquist oder nicht?«
        VIERTES KAPITEL
        In Windungen und Bogen tastet sich die Stra?e weich durch die grune Sommerlandschaft. Zwischen wei?en Birkenstammen lauft sie vorbei an kleinen, runden Hugeln, an kleinen, blitzen-den Seen, an kleinen Kieferngeholzen, an bluhenden Waldlich-tungen, an grunen Wiesen und an sich wiegenden Kornfeldern.
        Auf vielen krummen Wegen kommt sie so langsam an die Kuste zum Meer. Diese Stra?e entlang rast an diesem herrlichen Sommermorgen ein gro?es schwarzes Auto, das mit wilder Geschwindigkeit um die Kurven schleift und Steinchen und Staub uber die gelben Blumen an den Stra?enkanten wirft. Es ist ein ganz gewohnliches Auto. Aber ein aufmerksamer Beobachter konnte doch eine Besonderheit an dem Wagen finden. Er hinterla?t namlich so merkwurdige Spuren - und nicht von den Reifen.
        Durch das offene Seitenfenster reckt sich dann und wann eine Madchenhand, und spater kann man auf dem kiesigen Stra?en-grund kleine rote Papierstuckchen oder auch manchmal wei?e Milchbrotchenkrumel entdecken. Ja, haargenau: Milchbrotchenkrumel! Denn Eva-Lotte ist ja nicht fur nichts und wieder nichts die Tochter eines Backers. Sie hat sich, bevor sie wegging, ein paar Milchbrotchen in die Kleidertaschen gesteckt. Die roten kleinen Papierstuckchen sind Teile eines Plakates. Sie hat es von einem Telegraphenmast heruntergerissen, bevor sie zu dem schlafenden Rasmus in das Auto schlupfte. GROSSES SOM-MERFEST stand in schwarzen Buchstaben auf dem Plakat.
        TOMBOLA TANZ KAFFEEPAUSE. Gott segne Kleinkopings Sportverein fur dieses Plakat!
        Die Fahrt wird lang werden, und wie lange reichen denn einige Milchbrotchen? Bald mu? Eva-Lotte anfangen, sie und die Plakatstuckchen zu rationieren. Bei jeder Weggabelung mu? ein leuchtendroter Zettel liegen. Wie konnen wohl sonst die Retter wissen, welchen Weg sie nehmen sollen?
        Werden ubrigens Retter kommen? Wenn nicht, wie wird dann dieses Abenteuer enden? O Anders! O Kalle …
        Eva-Lotte sieht sich im Auto um und macht sich innere No-tizen. Dort neben ihr im hinteren Sitz hockt immer noch gebunden und mit einem Knebel im Mund der Professor, und seine Augen sind voller Verzweiflung. Neben ihm sitzt der, der das Auto so treu und brav bewacht hat. Im Vordersitz sieht sie den sogenannten Nicke mit dem schlafenden Rasmus im Arm. Am Steuerrad neben ihm sitzt der andere Fassaden-kletterer - Blom hei?t er, Eva-Lotte hat es schon gehort. Sie nimmt alles mit ihren Augen auf und la?t die Blicke dann durch die Fensterscheibe weiterwandern. Sie rasen durch eine schwedische Sommerlandschaft, da gibt es keinen Zweifel.
        Die reifen Roggenfelder mit den Kornblumen und dem Mohn darin, das ist ja wohl schwedisch. Und die wei?en Birkenstamme auch. Nur dieses Auto und seine wunderlichen Passa-giere gehoren nicht hierher. Die gehoren in einen amerikani-schen Gangsterfilm.
        Eva-Lottes Herz klopft tatsachlich etwas schneller, wenn sie daran denkt, da? die drei fremden Manner im Auto wirklich und wahrhaftig Kidnapper[Amerikanische Bezeichnung fur Kinderrauber.] sind - es wirkt direkt lacherlich in dieser sonnigen schwedischen Landschaft! Kidnapper, die fahren ja doch wohl ausschlie?lich in stromendem Regen und an dunklen Herbstabenden in Chicago herum!
        Nicke fuhlt sicher ihren mi?billigenden Blick im Nacken, denn er dreht sich um und glotzt sie unzufrieden an.

»Wer, zum Donnerwetter, hat dich eigentlich gebeten, sich in unsere Angelegenheiten zu mischen?« sagt er. »Warum bist du in das Auto gekrochen, dummes Lamm, du?«
        Eva-Lotte hat Angst. Gro?er aber ist ihre Wut. Und sie denkt nicht daran, einen solchen Hundsfott merken zu lassen, wie gro? ihre Herzensangst ist.

»Kummere dich nicht um mich«, sagt sie. »Es ist ratsamer fur dich, du uberlegst, was du sagen wirst, wenn die Polizei kommt, um dich zu schnappen.«
        Der Professor bekommt aufmunternde Augen, und das starkt ihren Mut. Sie ist dankbar, da? er hier ist, wenn er auch hilflos ist. Auf jeden Fall ist er ein Erwachsener, der auf ihrer Seite steht.
        Nicke verzieht den Mund, aber er sagt nichts und dreht sich wieder um. Er hat einen dicken Nacken und helles Haar, das geschnitten werden mu?te, denkt Eva-Lotte. Ganz feine helle Harchen wachsen bis unter den Hemdkragen. Wie sieht er ubrigens sonst aus? Personalbeschreibung, denkt Eva-Lotte. Kalle, wenn er hier ware, hatte sofort damit angefangen. Am besten, sie macht es jetzt fur ihn. Dann kann sie damit der Polizei helfen. Das hei?t, wenn sie jemals Gelegenheit haben wird, ihre Beobachtungen an die Polizei weiterzugeben.
        Er hat ein Paar gutmutige Augen, dieser Nicke, und ein ha?liches, sommersprossiges Gesicht. Jawohl, die Augen sind gutmutig, wenn er auch gerade jetzt recht murrisch dreinblickt. Er sieht nicht besonders ungezogen aus und nicht besonders begabt, denkt Eva-Lotte weiter und schmeichelt sich, da? ihre Personalbeschreibung viel ausfuhrlicher ist als eine von Kalle, der nur von der Augenfarbe spricht, aber niemals vom Charakter. Na, und die beiden anderen dann? Blom ist dunkel und sieht schlapp aus, bleich und finnig, ein richtiger Heini, denkt Eva-Lotte, macht fur Geld sicher alles, was man von ihm will.
        Und der im Rucksitz ist dem Idiotenstadium wohl am nachsten.
        Er ist ein vollkommenes Nichts mit fast gar keinem Kinn und weniger Intelligenz, als auf dem Nagel eines kleinen Fingers Platz hat. Was in aller Welt hat diese drei Unterweltler dazu gebracht, sich auf Menschenraub zu legen? Irgendein Gedanke mu? schon dahinterstecken, obwohl keiner der drei aussieht, als konne er uberhaupt denken. Aber es kann ja hinter ihnen einer stehen, der fur sie denkt, ein anderer, der woanders wartet.
        So - nun schwenkt das Auto plotzlich in einen holprigen kleinen Waldweg ein. Eva-Lotte hat es sehr eilig, eine ganze Menge Zettelchen und Krumel zu verstreuen. (Oh, da? blo? keiner der Gauner es sieht!) Denn hier konnten die Retter leicht auf einen falschen Weg kommen. Wo sie jetzt fahren, ist namlich gar kein richtiger Weg mehr, und sicher ist hier auch noch kein Auto gefahren. Wie das Auto auf dem unebenen Pfad hopst, und wie es geruttelt wird! Es wird so geruttelt, da? Rasmus aufwacht. Zuerst offnet er nur halb die schlafrigen dunklen Augen, dann aber setzt er sich auf und starrt Nicke an.

»Wolltest du nicht zu uns kommen und unseren Kuchenherd in Ordnung bringen, oder … oder …?«
        Hilflos bricht er ab. Eva-Lotte streckt die Hand vor und streichelt ihm das Kinn.

»Ich bin ja hier«, sagt sie. »Bist du nicht froh, da? ich hier bin? Dein Vater ist auch hier, wenn er auch …«

»Wohin fahren wir denn, Eva-Lotte?« fragt Rasmus.
        Nicke antwortet fur Eva-Lotte. »Wir machen eine kleine Autofahrt«, sagt er mit einem breiten Lachen. »Nur eine kleine Autofahrt.«

»Wolltest du nicht zu uns kommen und unseren Kuchenherd in Ordnung bringen?« will Rasmus noch immer wissen. »Vati, ist er das?« Aber Vati antwortet nicht - er kann ja nicht.
        Nicke findet die Frage einfach kostlich. Er lacht noch lauter.

»Kuchenherd in Ordnung bringen … Nee, Haschen, diesmal nicht.«
        Es ist, als hatte ihn Rasmus’ Frage in gute Laune gebracht. Er setzt Rasmus bequemer auf sein Knie und fangt plotzlich an zu singen:
        »Der Graf hatte einen kleinen Hund.
        Trulle war sein Name und …«

»Und du, wie hei?t du?« wundert sich Rasmus.

»Ich hei?e Nicke«, sagt Nicke mit einem Grinsen. »Nicke ist mein Name, und …« singt er donnernd los.

»Ich finde, du konntest endlich unseren Herd heil machen«, sagt Rasmus. »Aber wie Vater ja immer gesagt hat - nur Versprechungen und Versprechungen; aber da? mal was daraus wird …!«
        Eva-Lotte sieht bekummert zum Professor. Er denkt sicher an andere Sachen als an kaputte Kuchenherde. Sie klopft ihm ermunternd auf den Arm, und er dankt ihr mit den Augen.
        Dann wirft sie vorsichtig den letzten roten Zettel aus dem Fenster. Er flattert so spielerisch im Sonnenschein, bevor er zur Erde fallt und liegenbleibt. Wird ihn jemand finden? Und wann?
        FUNFTES KAPITEL

»Nein, nein, nicht zur Polizei rennen«, sagte Kalle. »Dazu haben wir jetzt keine Zeit. Wir mussen zuerst die Kerle verfolgen und sehen, wo sie bleiben.«

»Fein«, sagte Anders, »und logisch! So ein Auto hat ja gar keine Chance, wenn ein Sprinter wie du ihm nachsetzt.«
        Kalle beantwortete diese dumme Bemerkung nicht. Er lief durch den Garten und zu dem Motorrad des Professors.

»Komm!« rief er. »Das hier nehmen wir!«
        Anders sah ihn mit schreckgemischter Bewunderung an.

»Wir konnen doch nicht …« fing er an, aber Kalle unterbrach ihn.

»Wir mussen«, sagte er kurz. »Das hier ist eine sogenannte Notlage. Da kann man sich nicht hinsetzen und lange uber Fuh-rerscheine grubeln. Es gilt doch Menschenleben, Anders!«

»Hm, und ubrigens fahrst du ja fast besser als dein alter Herr!« sagte Anders.
        Sie schoben das Rad auf die Landstra?e. Dort waren im Sand noch einige undeutliche Abdrucke von Autoreifen zu sehen, die einzige Spur, die von den Kidnappern hinterlassen worden war.
        Das schwarze Auto war lange fort.

»Eva-Lotte sagte ja, sie wurde es wie Hansel und Gretel machen«, schrie Kalle, als das Motorrad die Stra?e hinunterraste.

»Wie haben das Hansel und Gretel ubrigens gemacht?«

»Streuten Brotkrumel hinter sich«, schrie Anders. »Und auch Kieselsteine.«

»Ja, wenn Eva-Lotte Kieselsteine mit in das Auto genommen hat, ist sie noch seltsamer, als ich dachte«, rief Kalle. »Aber irgendwie sieht es ihr auch wieder ahnlich. Sie denkt sich immer so etwas aus.«
        Sie kamen zur ersten Wegkreuzung, und Kalle bremste.
        Welchen Weg? Welchen Weg?
        Dort war ein roter Zettel zu sehen. Das Stuckchen Papier hatte sich im Gras an der Stra?enkante verfangen. TANZ stand darauf.
        Nun liegen ja aber immer allerlei Papierfetzen an den Stra?enkanten, und deshalb beachteten sie diesen nicht besonders. Ein Stuck weiter lag etwas anderes. Ein Stuck Wei?brot, aus einem Milchbrotchen herausgebrochen. Mit einem Triumphgeschrei zeigte Anders darauf. Eva-Lotte machte es wirklich wie Hansel und Gretel! Da lag, einige Meter weiter, noch ein rotes Papierstuck.
        Dann mu?ten diese Schnitzel ja wohl auch etwas bedeuten.
        Sehr ermuntert steuerten sie auf die Stra?e, die sich bergab schlangelte. Ihre Mudigkeit hatten sie vergessen. Es ware un-ehrlich zu sagen, da? sie bei guter Laune waren, aber in all ihrer Unruhe und Angst fand sich auch eine merkwurdige, fast heitere Anspannung. Das Motorrad knatterte so wunderbar gleichma-
        - ig unter ihnen und schluckte ohne Zaudern Kilometer nach Kilometer des geschlangelten Weges, der sie einem geheimnisvollen Ziel entgegenfuhrte, einem Ziel, an dem unbekannte Gefahren lauerten. Die Gefahr in Verbindung mit der Freude an der Fahrt bewirkte sicher diese seltsame Anspannung bei ihnen.
        Sie starrten auf die Stra?e vor sich. Hier und dort lag ein rotes Zettelchen wie ein kleiner freundlicher Gru? von Eva-Lotte.
        An der Abzweigung des Waldweges ware es beinahe schiefge-gangen. Sie erreichten ihn und fuhren an ihm vorbei. Er war ja auch so unbedeutend, da? man ihn leicht ubersehen konnte.
        Aber Anders entdeckte einen wohlbekannten roten Zettel, der durch die Kiefern winkte.

»Stopp, stopp«, schrie er, »wir fahren falsch! Unsere Gangster sind in den Wald hinein!«
        Einen freundlicheren Waldweg konnte es wirklich nicht geben. Zwischen den Baumen huschten die Strahlen der Morgensonne hindurch. Sie schienen auf das dunkelgrune Moos des Bodens und auf die kleinen Blumen dazwischen. In der Nahe, auf einer Tannenspitze, trillerte ein Vogel seinen Morgengru? so entzuckt in die Welt hinein, als gabe es keine Bosheit.
        Als aber Kalle und Anders zwischen die Kiefern hineinsteuer-ten, spurten sie deutlich, da? der Vogel unrecht hatte. Sie spurten in jeder Fiber ihres Korpers, da? sie sich schnell etwas Bosem und Drohendem naherten. Dieses Bose und Drohende hatte mit Sonne, Blumen und Vogelsang nichts zu tun.
        Es ging abwarts. Abwarts. Abwarts. Da schimmerte etwas Blaues zwischen den Baumen hindurch: das Meer! Dann kam ihnen eine alte verfallene Landungsbrucke entgegen, und - ihre Fahrt war zu Ende. Am au?ersten Ende der Brucke fanden sie den letzten Gru? von Eva-Lotte, ihre rote Haarspange.
        Sie standen da und sahen nachdenklich uber den Fjord hinaus. Die dunnen Morgennebel hoben sich, und die Sonne spielte auf der Wasserflache, die der Morgenwind sacht krauselte.
        Wie still hier alles war! Wie tot. So leer wie am ersten Schop-fungstag, bevor sich Menschen auf der Welt einfanden.
        Grune Inseln und kahle Klippen beengten den Blick zum Horizont. Man hatte glauben konnen, diese kleine, schmale blaue Meeresbucht sei ein Binnensee. Einige hundert Meter vor der Brucke lag eine gro?e Insel und verdeckte die Ausfahrtrinne zum offenen Meer. Eine gro?e, bergige Insel mit Waldern. Sie schien vollkommen unbewohnt. Nein, unbewohnt war sie nicht.
        Ein dunner, leichter Rauch stieg uber die Baumspitzen in den Himmel hinauf.

»Da hast du das Wespennest!« sagte Kalle.

»Ersticken sollen sie!« antwortete Anders.

»Was glaubst du, schaffen wir es, so weit zu schwimmen?«

»Pfff«, sagte Anders, »das ist doch wohl ’ne Kleinigkeit. Und wenn sich hier kein Boot findet …«
        Neben der Brucke lag ein Schuppen. Kalle ging hin und fuhlte an der Tur. Geschlossen! Konnte da drinnen ein Boot sein? Auf jeden Fall ist ein Auto in dem Schuppen, dachte er, als er Spuren im taufrischen Gras sah. Da? dort drinnen das schwarze Auto versteckt war, wu?te er plotzlich ganz sicher. Und er empfand eine tiefe Zufriedenheit daruber, da? es ihnen gelungen war, den Kinderraubern zumindest bis hierher zu folgen. Es war richtig gewesen, ihnen sofort zu folgen, das wu?te er jetzt. Die Zettelspuren und die Krumelchen von Eva-Lotte hatten der Wind und die Vogel bald vertilgt, und wer hatte spater daran gedacht, ausgerechnet hier in dieser oden, menschenleeren Gegend zu suchen.
        Kalle warf noch einen abschatzenden Blick auf die Insel. Ja, sie waren gezwungen hinuberzuschwimmen, aber es war nicht so weit, da? sie es nicht hatten schaffen konnen. Das Motorrad mu?ten sie zuerst noch im Wald verstecken.
        Wie Entdeckungsreisende, die an einer unbekannten Kuste an Land gehen, fuhlten sie sich, als sie nach der langen Schwimm-tour blaugefroren das Ufer erreichten. Eine fremde Kuste split-terfasernackt zu entdecken, war auch keine reine Freude. Man fuhlte sich ohne Kleider noch hilfloser und ausgelieferter.
        Feinde waren nicht zu sehen. Deshalb setzten sie sich auf eine besonnte Klippe, um trocken zu werden und etwas Warme in den Korper zu bekommen. Dann losten sie die Knoten ihrer Kleiderbundel und stellten fest, da? ihre Hemden und Hosen auf keinen Fall zu na? waren, um angezogen zu werden.

»Ich mochte wissen, was die Roten wohl sagen wurden, wenn sie von dieser Sache wu?ten«, sagte Kalle, den Kopf irgendwo innen in seinem Hemd.

»Die wurden sagen, typisch Meisterdetektiv Blomquist«, sagte Anders. »Du stolperst uber Strolche und Banditen wie gewohnlich Menschen uber Baumwurzeln.«
        Kalle hatte das Hemd nun endlich anbekommen. Nachdenklich den Kopf zur Seite geneigt, stand er vor Anders. Unter dem kurzen Hemd ragten ein Paar lange braune Beine hervor, und der ganze Junge sah sehr kindlich und gar nicht nach Meisterdetektiv aus.

»Ja, sag mal, ist das nicht wirklich eigenartig?« sagte er. »Wo wir immer hineingeraten, unausgesetzt, unausgesetzt …!«

»Ja«, sagte Anders, »was uns passiert, passiert sonst nur in Buchern.«

»Du, Anders, Junge, Junge - vielleicht ist das hier alles ein Buch«, uberlegte Kalle.

»Sag mal, du bist wohl nicht ganz bei Troste?«

»Aber, Anders, stell dir doch blo? vor - wir sind nicht da«, sagte Kalle traumend.
»Mit einemmal sind wir nur ’n paar Jungs in einem Buch, das sich einer ausgedacht hat.«

»Ja, du vielleicht«, sagte Anders argerlich. »Wurde mich gar nicht wundern, wenn du uberhaupt nur ein Druckfehler warst. Aber ich nicht. Ich mach’ da nicht mit, verstehst du? Das will ich dir noch ganz deutlich gesagt haben.«

»Kannst du gar nicht wissen«, hielt ihm Kalle entgegen.

»Moglicherweise bist du nur in einem Buch, das ich mir ausgedacht habe.«

»Oho«, sagte Anders. »Wenn es so aussieht, bist du in einem Buch, das ich mir aus gedacht habe, und ob du es glaubst oder nicht - es tut mir schon beinahe leid, da? ich dich uberhaupt ausgedacht habe.«

»Ubrigens habe ich Hunger!« sagte Kalle.
        Sie begriffen gut, da? es fortgeworfene Zeit war, herumzu-hocken und die eigene Existenz zu bezweifeln. Auf sie warteten wirkliche, wichtige und gefahrliche Auftrage. Irgendwo dort, hinter all den Tannen und Kiefern, mu?te sich ein Haus befinden und ein Schornstein, der einen schmalen Streifen Rauch in die Luft blasen konnte. Irgendwo mu?ten sich Menschen befinden. Irgendwo mu?te Eva-Lotte sein und der kleine Rasmus und der Professor. Es war also notwendig, sie zu finden.

»Da gehen wir entlang«, sagte Kalle und zeigte in den Wald hinein. »Da hinten haben wir namlich den Rauch gesehen.«
        Zwischen dichten Tannen, kleinen, kugeligen Moosrucken, durch Blaubeergestrupp, uber Sandhugel, an Ameisenhaufen vorbei und zwischen Distelbuschen lief ein kleiner Pfad, dem sie folgten. Sie waren sehr still und wachsam, jederzeit bereit, zu fliehen, wenn es notig sein sollte. Sie fuhlten, es wurde gefahrlich.
        Und als Kalle, der vorausging, sich plotzlich hinter eine Tanne warf, wurde Anders bla? vor Angst. Er folgte ihm blitzschnell und ohne Zeit fur Fragen zu verschwenden.

»Da!« flusterte Kalle und zeigte zwischen die Tannen. »Da sieh mal!«
        Aber es war nichts Entsetzliches zu sehen, als Anders langsam, ganz langsam und vorsichtig hinter den Tannen hervorlugte, im Gegenteil. Ein Wochenendhaus, ein wirklich vornehmes Wochenendhaus, und eine offene, sonnenbeschienene Grasflache davor. Eine schone kleine Flache mit samtweichem grunem Gras, ringsum gegen harte Winde durch dichte Tannen geschutzt. Und mitten auf der Grasflache sa? der Professor und hatte Rasmus auf dem Knie. Ja, tatsachlich, da sa?en sie. Rasmus und der Professor und noch irgend so ein anderer.

»Ich finde, Sie sind sehr unvernunftig, Herr Professor Rasmusson«, sagte der andere.
        Besonders vernunftig wirkte der Professor im Augenblick wirklich nicht. Er schien in allernachster Zeit vor Wut explodie-ren zu wollen. Deutlich war auch, da? er sich am liebsten auf sein Gegenuber gesturzt hatte. Nur die Tatsache, da? er gebundene Hande hatte, schien ihn daran zu hindern.

»Wirklich, riesig unvernunftig«, sprach der andere weiter.

»Jaja, ich gebe zu, mein Vorgehen ist etwas ungewohnlich. Aber war ich nicht dazu gezwungen? Es war sehr wichtig. Ich mu?te mich einmal mit Ihnen aussprechen.«

»Nun aber Schlu?!« sagte der Professor. »Sie haben sicher zu viele Groschenhefte gelesen. Oder Sie sind nicht richtig klug.«
        Der andere lachte, ein trockenes, uberlegenes, kurzes Lachen, und begann, auf dem Gras hin und her zu promenieren.
        Es war ein gro?er Mann mit einer guten Figur, wohl in den Vierzigern, und sein Gesicht hatte man schon nennen konnen, wenn nicht ein unmenschlich harter Zug darin gewesen ware.

»Es braucht Sie nicht zu interessieren, ob ich klug bin oder nicht«, sagte er.
»Mich aber interessiert: Nehmen Sie meinen Vorschlag an?«

»Und das einzige, was mich interessiert, ist, wann und wo ich Ihnen aufs Maul schlagen kann.«

»Ich finde, das sollte er gleich machen«, flusterte Kalle hinter der Tanne, und Anders nickte zustimmend.
        Der Fremde sah den Professor an, als sahe er auf ein kleines unvernunftiges Kind.

»Warum wollen Sie eigentlich hunderttausend Kronen wegwerfen, vollig unnotig wegwerfen?« sagte er. »Ich biete Ihnen fur die Formeln hunderttausend - der Preis ist doch wohl mehr als anstandig. Dabei brauchen Sie mir die Papiere, falls es Ihr Gewissen zu sehr belastet, nicht einmal selbst in die Hande zu geben. Ein kleiner Hinweis, wo ich sie finde, genugt, und die Auszahlung kann beginnen.«

»Horen Sie, Ingenieur Peters, oder wie zum Teufel Sie sich nennen, Ihr Spatzengehirn hat wohl noch nicht begriffen, da? diese Formeln Eigentum des schwedischen Staates sind.«
        Peters zuckte ungeduldig mit den Schultern. »Niemand braucht zu wissen, da? es Ihre Erfindung ist, die aus dem Lande geht. Verstehen Sie doch, man wird bald auch in anderen Landern unzerstorbares Leichtmetall herstellen konnen. Das ist nur noch eine Frage der Zeit. Nur um Zeit zu gewinnen, will ich die Formeln jetzt von Ihnen kaufen.«

»Nun aber Schlu?«, sagte der Professor wieder.
        Peters’ Augen wurden schmal.

»Ich mu? sie haben«, sagte er. »Ich mu? Ihre Formeln haben.«
        Rasmus hatte bis jetzt stillgesessen, nun aber mischte er sich in das Zwiegesprach. »›Mu? haben‹ und ›mu? haben‹, so sagt man doch wohl nicht. ›Ich bitte sehr darum‹, sagt man.«

»Ruhig, Rasmus«, sagte der Professor.
        Der Ingenieur Peters sah die beiden nachdenklich an.

»Netten kleinen Jungen haben Sie«, meinte er. »Ihn mochten Sie sicher nicht gern verlieren?« Der Professor schwieg.
        Voller Abscheu sah er den Mann an, der vor ihm stand. »Wollen wir nicht trotzdem einen kleinen Kuhhandel miteinander machen?« fuhr Peters fort. »Berichten Sie mir, wo sich diese Papiere befinden. Ich schicke einen Mann los und lasse sie holen. Sie bleiben so lange hier, bis ich mich davon uberzeugt habe, da? die Dokumente echt sind, und dann sind Sie frei und au?erdem um hunderttausend Kronen reicher.«

»Halten Sie den Mund«, sagte der Professor. »Ich will nichts mehr horen.«

»Wie gesagt, um hunderttausend Kronen reicher«, fuhr Peters unberuhrt fort. »In Ihrem eigenen Interesse rate ich Ihnen, auf meinen Vorschlag einzugehen. Denn wenn Sie das nicht tun …«
        Es entstand eine kleine, gehassige Pause.

»Ja, denken Sie doch einmal an, wenn ich es nun nicht tue«, sagte der Professor hohnisch. »Was wird dann?«
        Der Schimmer eines Lachelns, eines ha?lichen kleinen Lachelns, flog uber Peters’ Gesicht. »Dann haben Sie Ihren Sohn zum letztenmal gesehen«, sagte er.

»Sie sind wirklich verruckter, als ich glaubte«, sagte der Professor. »Bilden Sie sich tatsachlich ein, da? mich Ihre kindischen Drohungen erschrecken konnen?«

»Das werden wir ja sehen. Es ware jedenfalls gut fur Sie, wenn Sie sich an den Gedanken gewohnen konnten, da? Sie es nicht mit leeren Drohungen zu tun haben.«

»Und fur Sie ware es gut, wenn Sie sich an den Gedanken gewohnen konnten, da? ich niemals erzahlen werde, wo ich meine Papiere aufbewahre.«
        Rasmus setzte sich kerzengerade auf seines Vaters Knie hoch und beobachtete Peters.

»Nein, und ich werde auch niemals etwas von den Papieren erzahlen«, sagte er triumphierend, »obwohl ich wei?, wo sie sind.« Der Professor zuckte vor Unbehagen zusammen.

»Was redest du da fur Dummheiten«, sagte er. »Das wei?t du doch gar nicht.«

»Wei? ich nicht?« sagte Rasmus. »Wollen wir wetten?«

»Sei ruhig, du wei?t ja nicht einmal, wovon wir sprechen!«
        sagte der Professor kurz.

»Naturlich wei? ich das«, trumpfte Rasmus auf, der es nicht leiden mochte, wenn jemand daran zweifelte, da? er einem Gesprach folgen konnte. »Ihr sprecht von den Papieren mit all den vielen kleinen roten Zahlen darauf. Und die Zahlen, sagtest du einmal, seien geheim, so geheim, so geheim, so …«

»Ja, gerade davon haben wir gesprochen«, sagte Peters eifrig.

»Aber wo die Papiere mit den Zahlen sind, das kannst du doch wohl nicht wissen. Dafur bist du doch zu klein!«
        Der Professor unterbrach ihn wutend. »Das fuhrt doch zu nichts. Begreifen Sie doch, da? ich aus Sicherheitsgrunden jede einzelne Seite der Dokumente in ein Bankfach gelegt habe.«
        Rasmus sah seinen Vater vorwurfsvoll an. »Jetzt schwindelst du aber, Vater!« sagte er streng. »Die Papiere sind doch gar nicht in ein, wie du gesagt hast, Bankfach gelegt.«

»Schweig, Rasmus!« schrie der Professor au?ergewohnlich heftig.
        Kalles Herz klopfte, da? er es bis in den Hals hinauf spurte, und er fuhr sich voller Verzweiflung in die Haare. Anders sah aus, als wolle er am liebsten hinsturzen und den Kleinen am Weiterreden hindern. Aber Rasmus glaubte sicher, noch uber die Papiere sprechen zu mussen, zumal es ja aussah, als hatte sein Vater ganz vergessen, wie es gewesen war.

»Die sind ganz bestimmt nicht in einem Bankfach, denn das wei? ich«, sagte er uberzeugend. »An dem Abend, Vater, als du dachtest, ich liege in meinem Bett und schlafe, habe ich dich namlich gesehen. Ich stand auf der Treppe in der Diele, und du stecktest …«

»Schweig, Rasmus!« schrie der Professor noch heftiger.

»Warum schreist du denn so?« fragte Rasmus gekrankt. »Ich werde nicht sagen, wo sie sind.« Dann sah er mitleidig zu Peters.

»Aber ich konnte ihm doch schlie?lich sagen, ob es ›Feuer‹ ist, oder ›Kohle‹ oder
›Wasser‹ - so macht man es doch!«
        Der Professor schuttelte ihn sehr unsanft.

»Wirst du wohl endlich ruhig sein!« schrie er.

»Ja, ja, ja, ich werde«, sagte Rasmus ungeduldig. »Habe ich denn schon etwas gesagt?« Er schob uberlegend die Unterlippe vor und dachte nach, dann blieb sein Blick an Peters hangen.

»Also ›Kohle‹ ist es auf keinen Fall«, sagte er. »Und ›Wasser‹
        auch nicht!« Triumphierend sah er seinen Vater an.
        Eva-Lotte sah sich in ihrem Gefangnis um. In ihrem, ehrlich gesagt, recht netten Gefangnis. Wenn dieser Nicke nicht ein paar dicke Latten uber die Fensteroffnung genagelt hatte, die Einbildung, sie sei ein sehnsuchtig erwarteter Gast auf der Insel, ware vollkommen gewesen. Hatte sie nicht wirklich das allersu?este kleine Gasthaus nur fur sich ganz allein bekommen?
        Wie gemutlich: vier Sitzbanke an den Seitenwanden, mit ka-riertem Baumwollstoff bezogen, ein Vorhang uber der Wasch-gelegenheit, am Fenster ein kleiner Tisch mit Zeitungen und Buchern fur die Unterhaltung des Gastes. Von allen Kidnapperwohnungen auf der Welt war diese sicher die eigentumlichste, dachte Eva-Lotte. Viele Kidnapperwohnungen mit einer solchen Aussicht gab es sicher schon gar nicht. Hinter den auf-genagelten Latten stand das Fenster offen, und durch die Zwischenraume sah man auf eine Sommerlandschaft von uberwaltigender Schonheit. Der Fjord lag im glitzernden Sonnenschein und hielt kleine grune Inselchen in seinen blauen Armen. Eva-Lotte holte tief Luft. Denkt nur, jetzt den nadeldunnen Pfad zwischen den Tannen entlang zur Brucke laufen konnen, kopf-
        uber in das kristallklare Wasser tauchen, auf der Brucke liegen und sich sonnen, die Augen schlie?en und nur noch das gleichma?ige, leise Schwabben horen, wenn die Boote an ihrer Vertauung zerren!
        Ja, die Boote, die Boote der Kinderrauber! Sie hatten mehrere. Eva-Lotte konnte das Motorboot sehen, in dem man sie uber den Sund gebracht hatte. Ganz nahe schaukelten in der schwachen Dunung drei Ruderboote. Auf der Brucke lag au?erdem ein gro?es kanadisches Kanu.
        Die Insel mu? fur Kinderrauber hochst bequem sein, dachte Eva-Lotte. Und Platz war hier, wenn es notig sein sollte, fur eine ganze Schwadron. Zu drangen brauchte sich hier niemand.
        Viele kleine Hauschen lagen wie spielerisch hingeworfen im Gelande. Alle hatten den rechten Abstand zu dem gro?en, feinen, wo der Kidnapperchef residierte. Vielleicht wohnten in all den vielen kleinen Hauschen Kidnapper. Jeder fur sich sein eigenes kleines Bienennest. Klopfte man gegen die Tur, kam moglicherweise ein aufgeregter kleiner Kidnapper herausgesurrt und erschreckt einen zu Tode!
        Als Eva-Lotte so weit gedacht hatte, machte sie den Nacken steif und sah sehr bestimmt aus. Sie wurde sich nicht erschrek-ken lassen. Niemand durfte hier kommen und sich auf die Nase von Eva-Lotte Lisander setzen! Dieser Nicke sollte wissen, da? Eva-Lotte lebendig war. Mit ihren Fausten ging sie auf die verschlossene Tur los.

»Nicke«, schrie sie. »Nicke, herkommen! Ich will etwas zu essen haben. Sonst kippe ich das Haus um!«
        Anders und Kalle, die unter den Baumen dem Gesprach zwischen dem Professor und Peters zuhorten, nahmen den Larm mit Zufriedenheit zur Kenntnis. Gott sei Dank! Eva-Lotte war am Leben und, wie zu horen war, in keiner Weise angebrochen!
        Nicke horte den Larm naturlich auch. Bei ihm war die Zufriedenheit daruber wesentlich geringer. Verargert brummend, machte er sich auf, den Larm zu beenden. Eva-Lotte wurde still, als sie den Schlussel im Schlo? horte. Nicke kam naher, bereit, sie ordentlich abzukanzeln. Aber seine Zunge war nicht besonders schnell, und Eva-Lotte kam ihm zuvor.

»Die Bedienung in diesem Hotel la?t aber zu wunschen ubrig!« sagte sie mit spitzer Betonung jedes einzelnen Wortes.
        Nicke hatte plotzlich alles vergessen, was er ihr hatte sagen wollen. Er glotzte Eva-Lotte an, erstaunt und beinahe ein wenig verletzt.

»Nee du, hor du mal«, sagte er. »Nee du, hor …«

»Ja du, hor du mal«, sagte Eva-Lotte. »Reiner Mist ist das hier mit der Bedienung in diesem Hotel. Ich will mein Essen haben! Essen! Falls du Schwedisch verstehst!«

»Dich haben wir unserer Sunden wegen bekommen«, sagte Nicke bitter. »Und daran hat der zweimal dumme Svanberg schuld, der nicht richtig auf das Auto achten konnte. Es wird wirklich interessant sein zu horen, was der Chef davon halt.«

»Na, mit mir habt ihr schlie?lich einen guten Fang gemacht«, sagte Eva-Lotte. »Fur einen Kinderrauber mu? es doch wundervoll sein, plotzlich an zwei Kinder zu kommen, wo er nur mit einem gerechnet hat.«

»Nee du, hor du mal«, sagte Nicke wieder. »Der Quatsch gefallt mir nicht. Fur dich bin ich noch lange kein Kinderrauber.«

»Bist du nicht? Ja, aber genau bist du fur mich der Kinderrauber Nicke. Wenn man Kinder klaut, ist man ein Kinderrauber, das ist dir doch wohl klar. Oder ein Kidnapper. Aber das ist dasselbe auf englisch.«
        Wieder sah Nicke so erstaunt und zugleich verletzt aus. Von dieser Seite hatte er das alles vorher sicher nicht angesehen, und er hatte auch jetzt nicht die Absicht, es zu tun.

»Ich bin aber kein Kinderrauber fur dich«, sagte er etwas unsicher. »Und ubrigens horst du jetzt auf, solchen Larm zu machen«, schrie er los, plotzlich uberwutend. Er packte Eva-Lotte an den Armen und schuttelte sie. »Horst du, du horst auf, solch einen Larm zu machen, sonst bekommst du eine Tracht Prugel von mir, da? es nur so hagelt.«
        Eva-Lotte sah ihm schnurgerade in die Augen. Ihr schwebte unklar vor, so tate man, wenn man wilde Bestien zahmte.

»Ich will etwas zu essen haben«, sagte sie bestimmt. »Bald wird es sich hier anhoren, als fordere eine ganze Schulklasse ihr Essen, wenn ich nicht mein Essen kriege.«
        Nicke fluchte und lie? sie los. Er ging auf die Tur zu.

»Jaja, du sollst zu essen haben«, sagte er. »Haben die Gna-digste besondere Wunsche?«

»Hm, na - Schinken und Ei vielleicht«, sagte Eva-Lotte. »So etwas mag ich zum Fruhstuck recht gern. Und die Eier auf beiden Seiten gebraten, bitte sehr! Und vor allem: schon mit Tempo, etwas schneller, wenn ich bitten darf.«
        Nicke schlug die Tur mit einem lauten Knall hinter sich zu.
        Eva-Lotte horte, wie der Schlussel im Schlo? umgedreht wurde.
        Und sie horte, wie Nicke in ganzen Serien fluchte.
        Bald danach aber horte sie etwas anderes, etwas, was sie mit grenzenloser Freude erfullte. Sie horte, wie ganz leise vor ihrem Fenster das Signal der Wei?en Rosen gepfiffen wurde. Ganz leise - aber herrlicher als alle Harfentone des Himmels.
        SECHSTES KAPITEL
        Kalle wachte mit einem Ruck auf. Ziemlich verwirrt sah er sich um. Wo war er? War es Abend oder Morgen? Und warum lag dort Anders?
        Langsam begann es sich in seinem Gehirn zu klaren: Es war Abend. Er lag in einer Hutte, die er zusammen mit Anders gebaut hatte. Die letzten Strahlen der Sonne farbten drau?en die Kiefern bei den Felsen rot. Und Anders lag einfach dort, weil er ubermudet war. Was fur ein Tag! Strenggenommen, hatte er ja bereits gestern abend in der Schlo?ruine begonnen. Und jetzt war wieder Abend. Fast den ganzen Nachmittag hatten Anders und er geschlafen. Der Schlaf war notig gewesen. Vorher aber hatten sie sich noch diese wunderbare Hutte gebaut.
        Kalle streckte seine Hand aus und betastete die Wand aus Tannenzweigen. Ja, er liebte diese Hutte! Sie war jetzt ihr Zu-hause, ein kleiner Ort des Friedens, den sie sich, so weit als irgend moglich von den Kidnappern entfernt, geschaffen hatten.
        Hier konnte keiner sie finden. Die Reisighutte lag eingebettet in einer Mulde zwischen zwei Felsen. Wenn man nicht direkt auf sie zukam, war es sehr schwer, sie zu entdecken. Hier war Schutz vor allen Winden und weiches Tannengrun, darauf zu schlafen. Die Felsen hatten noch viel von der Sonnenwarme des Tages aufgespeichert; zu frieren brauchten sie in der Nacht nicht. Ja, es war eine wunderbare Hutte.

»Bist du hungrig?« fragte Anders. Es kam so unerwartet, da? Kalle zusammenzuckte.

»Bist du aufgewacht?«
        Anders setzte sich auf seinem Bett aus Tannenzweigen auf.
        Seine Haare waren struwwelig, und auf einer Backe zeigte sich ein zierliches rotes Tannenzweigmuster.

»Ich bin so hungrig, ich glaube, ich konnte jetzt sogar gekochten Schellfisch essen«, stohnte er.

»Sprich nicht davon, Anders«, sagte Kalle. »Ich wollte gerade hinausgehen, um etwas Borke von den Baumen abzunagen.«

»Ja, ja, wenn man einen langen Tag von Blaubeeren gelebt hat, mochte man ja schlie?lich abends etwas Hartes zwischen die Zahne kriegen«, gab Anders zu.
        Eva-Lotte war ihre einzige Hoffnung. Sie hatte ihnen versprochen, etwas zu essen zu beschaffen. »Ich werde Nicke um den Verstand bringen«, hatte sie gesagt. »Ich werde ihm erzahlen, da? der Doktor mir verordnet hat, jede, aber auch jede Stunde zu essen. Ihr werdet schon nicht verhungern, keine Angst! Kommt zuruck, wenn es dunkel wird.«
        Das war am Morgen gewesen. Sie hatten vor Eva-Lottes Fenster gestanden und gepfiffen, bereit, beim ersten Zeichen von Gefahr zu fliehen. Und als Nicke mit Eva-Lottes Fruhstuck zuruckkam, hatten sich Anders und Kalle davongeschlangelt wie zwei aufgescheuchte Eidechsen. Im Nu waren sie verschwunden, obwohl ihnen der Duft von dem gebratenen Schinken nicht aus der Nase ging. Sie horten nur noch Eva-Lottes bitteren Vorwurf gegen Nicke: »Glaubst du, ich bin hierhergekommen, um Hunger-kuren mitzumachen?« Nickes Antwort ging ihnen verloren. Die Eidechsen waren bereits tief im Wald verschwunden.
        Sie waren dann zur anderen Seite der Insel ubergewechselt.
        Dort hatten sie den Tag damit zugebracht, ihre Hutte zu bauen, bei den Felsen zu baden, zu schlafen und Blaubeeren zu essen.
        Viel zuviel Blaubeeren. Und jetzt waren sie hungriger, als sie je fur menschenmoglich gehalten hatten.

»Aber wir mussen ja warten, bis es dunkel wird«, sagte Anders finster.
        Sie krochen aus der Hutte und kletterten auf den Felsen. In einer Spalte machten sie es sich bequem, um die Nacht und das Dunkel, die Rettung vor dem Hungertod, abzuwarten. Da sa?en sie nun und beobachteten mit sauren Gesichtern den schonsten Sonnenuntergang ihres Lebens und empfanden wirklich deutlich nur die Ungeduld daruber, da? es so langsam ging. Wie eine Feuersbrunst leuchtete druben der Himmel uber den Baumspitzen des Festlandes. Noch war ein Stuck der roten Sonnen-scheibe zu sehen, aber bald wurde auch dieses in den dunklen Waldern dort druben verschwinden. Die Finsternis, die gute, die gesegnete Finsternis, wurde sich dann uber Land und Wasser und uber alle senken, die Schutz vor Kidnappern brauchten.
        Wenn es blo? etwas schneller gehen wurde!
        Der Felsen fiel steil zum Wasser ab, und unten, wo Fels und Wellen sich trafen, konnte man ein kleines spielerisches Schwabben horen. Irgendwo drau?en uber dem Fjord schrie wild und melancholisch ein Seevogel, sonst war alles still.

»Es geht mir langsam auf die Nerven«, stellte Kalle fest.

»Und ich denke gerade daran, was die zu Hause wohl sagen«, meinte Anders. »Glaubst du, wir werden schon vom Radio gesucht?«
        Anders hatte es kaum ausgesprochen, als sie sich beide des Zettels erinnerten, den Eva-Lotte gestern abend »als Beruhigungspille« zu Hause auf ihr Kopfkissen gelegt hatte. »Stellt Euch blo? jetzt nicht an, ich komme bald zuruck, glaube ich.«
        Selbst wenn die Eltern in diesem Falle ziemlich argerlich und sicher auch uber ihr Verschwinden beunruhigt waren, so war damit noch lange nicht gesagt, da? sie nach dem Bescheid von Eva-Lotte Hals uber Kopf die Polizei alarmiert hatten. Und wenn Anders’ und Kalles Eltern sich erst einmal mit Backermeister Lisander besprochen hatten, so wurden sie ja wohl, wenn auch mit einigem Zorn uber die vielen dummen Streiche der Wei?en Rosen, Ruhe geben. Das war vielleicht auch gut so.
        Wer wei?, ob es sehr klug sein wurde, die Polizei in diese Angelegenheit hineinzuziehen? Kalle hatte ausreichend viele Kidnapper-Geschichten gelesen, um zu wissen, wie gefahrlich das werden konnte. Auf jeden Fall sollte man doch zuerst auf irgendeine Weise mit dem Professor reden.
        Bei dem Ingenieur Peters war Licht. Uberall sonst war es dunkel. Und still. Es war eine so tiefe Stille, da? man sie fast horen konnte. Alle Menschen hier mu?ten wohl schlafen.
        Nein, es schliefen nicht alle! Schmerzhaft wach lag der Professor auf seinem Bett und qualte sich selbst in endlosem Gegru-bel. Seit vielen Jahren war er es gewohnt, eine Losung fur die Probleme, die ihn beschaftigten, zu finden. Das Problem, mit dem er sich jetzt zu befassen hatte, war so au?erordentlich ver-worren, da? er uber alles nur hilflos den Kopf schutteln konnte.
        Es gab fur ihn keine Moglichkeit, etwas zu tun, - er mu?te es sich in ohnmachtiger Wut eingestehen. Er konnte nur warten.
        Worauf konnte er warten? Da? ihn jemand vermissen und suchen wurde? In Kleinkoping bestimmt nicht. Die alte Villa dort hatte er ja gerade deshalb gemietet, weil er allen Menschen fern sein und Ruhe fur seine Arbeit haben wollte, bis seine Frau zuruckkam. Nur mit Rasmus wollte er dort den Sommer verbringen. Es konnte wirklich noch sehr lange dauern, bis uberhaupt jemand bemerkte, da? er verschwunden war.
        Als der Professor in seinen Gedanken so weit gekommen war, sprang er heftig von seinem Bett auf. Es war unmoglich einzuschlafen! Kreuz, wenn man doch nur diesen Peters in winzig kleine Stuckchen hauen konnte!
        Eva-Lotte schlief auch nicht. Sie sa? an ihrem Fenster und horchte angespannt auf jeden Laut von drau?en. War es nur der Nachtwind, der in den Zweigen raschelte, oder kamen sie nun doch endlich, Kalle und Anders?
        Der Tag war lang gewesen, furchtbar lang. Fur den, der die Freiheit liebt, ist es unertraglich, einen ganzen Tag lang eingesperrt zu sein. Mit einem Schutteln dachte Eva-Lotte an all die Armen, die in Gefangenschaft schmachten mu?ten. Sie hatte am liebsten in der ganzen Welt umherlaufen und die Gefangnisse offnen mogen, um alle Gefangenen aus ihren Lochern zu befreien. Sie wu?te ganz gut, da? man nicht alle hatte befreien durfen - diese Kidnapper hatte sie ja selbst gern hinter Schlo? und Riegel gesetzt -, aber jetzt eben spurte sie diesen unsinnigen Wunsch. Denn das war ja das Schlimmste von allem: nicht hinaus durfen, wenn man gerade wollte!
        Etwas wie eine Panik ergriff sie, und sie sprang wild auf das Fenster mit den ubergenagelten Latten zu, das sie von der Freiheit trennte. Da fiel ihr Rasmus ein - sie mu?te sich beherrschen. Rasmus durfte sie nicht wecken. Er schlief ruhig und zufrieden auf seiner Bank. Sie horte im Dunkeln seine regelma?i-gen Atemzuge. Ihre panikartige Angst ging zuruck. Sie war ja nicht allein.
        Aus der Stille von drau?en kam nun endlich das erwartete Signal, das Signal der Wei?en Rosen, und bald darauf die hastig gezischte Frage: »Eva-Lotte, hast du was zu essen fur uns?«

»Und wie!« sagte Eva-Lotte.
        Sie beeilte sich, zwischen den Latten Butterbrote und kalte Kartoffeln und kalte, fettige Wurstscheiben und kalte Schinken-stucke hindurchzuschieben. Sie bekam nicht das kleinste »Danke«
        von denen da drau?en, denn es war technisch unmoglich, mehr als ein zufriedenes Grunzen wahrend des Kauens auszusto?en.
        Nun, da sich E?bares in Reichweite befand, war ihr Hunger noch rasender als zuvor, und so stopften sie alle Delikatessen, die ihnen Eva-Lotte aus dem Fenster reichte, in sich hinein.
        Schlie?lich mu?ten sie aber einmal Atem holen, und Kalle murmelte: »Ich hatte vollig vergessen, da? Essen so gut sein kann.«
        Eva-Lotte lachte im Dunkeln. Sie war glucklich wie eine Mutter, die ihren hungrigen Kindern Brot gibt. Aber sie flusterte: »Steckt den Rest in die Taschen. Haltet euch nicht auf.«

»Ja, tatsachlich«, sagte Anders. »Das ware das beste …«
        Kalle unterbrach ihn: »Du, Eva-Lotte, wei?t du, wo der Professor ist?«

»Er sitzt eingesperrt in dem Hauschen oben auf dem Felsen«, erwiderte Eva-Lotte.
»In dem Hauschen, das der See am nachsten liegt.«

»Glaubst du, da? Rasmus auch dort ist?«

»Nein, Rasmus ist hier bei mir. Er schlaft.«

»Ja, ich schlafe«, sagte ein zartes Stimmchen aus der Dunkelheit.

»Ach so, du bist wach«, wunderte sich Eva-Lotte.

»Da soll man wohl aufwachen, wenn Leute so laut schmat-zend Butterbrote essen.« Er kam leise zu Eva-Lotte und kletterte auf ihre Knie. »Sind da wirklich Kalle und Anders gekommen?« fragte er begeistert. »Wollt ihr kampfen? Darf ich nicht auch eine Wei?e Rose werden?«

»Das kommt darauf an, ob du schweigen kannst«, sagte Kalle mit tiefer Stimme. »Du darfst vielleicht eine Wei?e Rose werden, wenn du versprichst, niemand zu erzahlen, da? du Anders und mich gesehen hast.«

»Mache ich«, sagte Rasmus bereitwillig.

»Du darfst mit keinem Wort gegen Nicke oder irgendeinen anderen erwahnen, da? wir hier gewesen sind. Verstehst du das?«

»Warum eigentlich? Kann Nicke euch nicht leiden?«

»Nicke wei? doch nicht, da? wir hier sind«, sagte Anders.

»Und er darf es niemals wissen. Nicke ist ein Kidnapper, verstehst du?«

»Sind Kidnapper nicht nett?« fragte Rasmus.

»Nein«, sagte Eva-Lotte.

» Ich finde, sie sind nett«, versicherte Rasmus. »Ich finde, Nicke ist sooo nett. Warum durfen Kidnapper keine Geheimnisse erfahren?«

»Weil sie das nicht durfen«, sagte Kalle kurz. »Und du darfst nie eine Wei?e Rose werden, wenn du nicht schweigen kannst.«

»Ja, ja, das kann ich«, rief Rasmus eifrig. Er war bereit, bis an das Ende seines Lebens zu schweigen, wenn er eine Wei?e Rose werden durfte.
        Schwere Schritte kamen auf das Haus zu, und Eva-Lottes Herz schlug vor Schreck einen kleinen Purzelbaum.

»Verschwindet!« flusterte sie. »Beeilt euch! Nicke kommt.«
        Einen Augenblick spater drehte sich der Schlussel im Schlo?.
        Der Schein einer Taschenlampe erhellte das Zimmer, und Nik-ke fragte mi?trauisch:
»Mit wem sprichst du?«

»Dreimal darfst du raten«, sagte Eva-Lotte. »Hier sitzen Rasmus und ich und dann ich und Rasmus. Mit mir selbst pflege ich nicht zu sprechen. Nun rate, mit wem habe ich wohl gesprochen?«

»Aber du bist ein Kidnapper, und Kidnapper durfen niemals Geheimnisse erfahren«, sagte Rasmus voller Mitleid.

»Nee du, hor du mal«, sagte Nicke und machte einen heftigen, schnellen Schritt auf Rasmus zu. »Fangst du auch schon an, mich Kidnapper zu schimpfen?«
        Rasmus nahm Nickes gro?e Hand und sah vertrauensvoll auf in das wutende Gesicht.

»Ja, aber ich finde doch, da? Kidnapper nett sind«, beteuerte er. »Ich finde, du bist sehr, sehr nett, kleiner Nicke!«
        Nicke murmelte etwas Unverstandliches und wollte gehen.
        Da hielt Eva- Lotte ihn zuruck. »Ist das Absicht, da? man hier in diesem Hause zu Tode gehungert werden soll?« fragte sie laut. »Warum bekommt man hier kein Nachtessen?«
        Nicke drehte sich um und sah Eva-Lotte aufrichtig erstaunt an. »Deine armen Eltern«, sagte er schlie?lich. »Die mussen ja Millionare sein, um dich satt zu kriegen.«
        Eva-Lotte grinste. »An Appetit fehlt es mir nie«, stellte sie zufrieden fest.
        Nicke sagte nichts. Er hob Rasmus von ihrem Knie und trug ihn zur Bank. »Ich glaube, Haschen, du mu?t jetzt schlafen«, sagte er.

»Mude bin ich nicht«, versicherte Rasmus. »Ich habe ja den ganzen Tag geschlafen.« Nicke druckte ihn wortlos in das Kissen, das auf der Bank lag. »Willst du mir, bitte, die Fu?e noch gut einwickeln«, bat Rasmus. »Ich finde es namlich so unordentlich, wenn die Zehen herausgucken.«
        Kichernd und mit einem recht erstaunten Ausdruck im Gesicht tat Nicke, worum er gebeten worden war. Dann stand er da und sah nachdenklich auf Rasmus hinab.

»Du bist mir schon eine nette kleine Ordnung«, sagte er. Der dunkle Kopf des Jungen ruhte auf dem Kissen. Im schwachen Schein der Taschenlampe sah er unwahrscheinlich zart und lieblich aus. Seine Augen waren blank, und sie lachten Nicke freundlich an.

»Oh, wie bist du doch nett, kleiner Nicke«, sagte er, »komm, ich will dich umfassen und drucken. Aber genau so, wie ich Vati immer drucke.« Nicke kam gar nicht dazu, sich zu wehren.
        Rasmus legte einfach die Arme um seinen Hals, und dann druckte er Nicke so kraftig, wie seine kleinen funfjahrigen Arm-chen es erlaubten.

»Tut es weh?« fragte er stolz.
        Zuerst konnte Nicke gar nichts sagen. Dann schluckte er, und dann murmelte er undeutlich: »Nee, das tut nicht weh …
        Das nicht …«
        SIEBTES KAPITEL
        Oben auf einem Felsen lag das Hauschen, wo der Ingenieur Peters seinen kostbaren Gast einquartiert hatte. Es lag dort wie ein Adlernest und war nur von einer Seite zuganglich. Die Ruckwand schlo? mit dem Felsen ab, der ziemlich senkrecht zum Strand abfiel.

»Wir mussen dort hinaufklettern«, sagte Kalle und zeigte mit dem fettigen Zeigefinger zu dem Fenster des Professors hinauf.

»Wenigstens einer von uns.«
        Nach seinem Abenteuer in der Schlo?ruine war Anders nicht besonders darauf aus, an steilen Klippen herumzuklettern, wenn es auch diesmal lange nicht so beangstigend hoch war.

»Konnen wir nicht den richtigen Weg an der Vorderseite hochschleichen wie normale Sterbliche?« schlug er vor.

»Ja, und genau Nicke oder jemand anders in die Arme laufen.
        Niemals!«

»Klettere du«, sagte Anders. »Ich bleibe hier unten und passe auf.«
        Kalle bedachte sich keinen Moment. Er leckte das letzte Schinkenfett von den Fingern und begann zu klettern.
        Es war inzwischen nicht mehr so dunkel. Die runde Scheibe des Mondes stieg langsam empor. Noch wu?te Kalle nicht, ob er dafur dankbar sein sollte. Es war zwar leichter, im Mondschein zu klettern, aber es war auch leichter, den zu sehen, der kletterte. Vielleicht war es besser, dafur dankbar zu sein, da? der Mond schien und sich dann und wann einmal hinter einer ziehenden Wolke versteckte. Kalle atmete ruhig und kletterte. An und fur sich war es bestimmt keine besonders gefahrliche Berg-steigerangelegenheit, aber der Gedanke, ganz plotzlich vielleicht eine Koppel Kidnapper an den Fersen kleben zu haben, trieb ihm doch den Angstschwei? auf die Stirn.
        Vorsichtig tasteten sich seine Fu?e und Hande vor. Langsam arbeitete er sich empor. Manchmal war es nicht leicht. Es konnte ihm schon einige schwindelnde Augenblicke lang geschehen, da? er gleichsam wie im leeren Nichts schwebte und es schwer hatte, das Feste zu fassen. Aber anscheinend besa?en seine Fu?e doch die instinktive Begabung, sich zwischen lockerem Gestein, Spalten und Wurzeln zurechtzufinden, und so fand sich immer wieder eine Stelle, an die er sich klammern konnte.
        Nur einmal verlie? der Instinkt seinen gro?en Zeh, und er stie? einen Stein ab, der mit gro?em Getose die Steilung hinun-terrollte. Kalle war vor lauter Aufregung dicht daran, selbst hin-terherzurollen, aber eine Baumwurzel, die er noch fassen konnte, rettete ihn. Zitternd klammerte er sich an ihr fest und wagte lange Zeit nicht, sich zu ruhren.
        Anders horte den Larm, als der Stein herunterkam. Um ihn nicht auf den Schadel zu bekommen, sprang er blitzschnell zur Seite und murmelte wutend in sich hinein: »Am besten blast er noch auf der Posaune, damit sie ja sicher horen, da? er kommt!«
        Aber anscheinend hatte niemand au?er Anders den Krach gehort. Und als Kalle mit klopfendem Herzen noch einige Minuten lang gewartet hatte, ohne da? etwas geschah, lie? er die rettende Wurzel los und kletterte weiter.
        In seinem dunklen Zimmer lief der Professor auf und ab wie ein Tier im Kafig. Es war nicht auszuhalten, einfach nicht auszuhalten! Man wurde verruckt davon. Ganz sicher wurde er verruckt werden, so verruckt, wie dieser Peters wohl schon lange war. Er war also einem Geistesgestorten ausgeliefert. Er wu?te nicht, was man mit Rasmus machte. Er wu?te nicht, ob er jemals wieder hier herauskam. Und hier war es so dunkel wie in einer Grabkammer. Tausend Fluche uber diesen Peters! Ein Licht hatte er ihm wohl zumindest geben konnen. - Wenn man diesen Strolch doch nur einmal zwischen die Finger bekommen konnte!
        - Ruhig! - Was war das? Der Professor blieb steif stehen. Waren es nur seine aufgepeitschten Nerven, die ihm einen Streich spielten, oder war wirklich etwas da, was an das Fenster klopfte? Aber dieses Fenster, durch dessen Gitter er den ganzen siebenfach verdammten Tag gestarrt hatte, dieses Fenster lag doch uber dem Abgrund - dort konnte doch wohl kein Mensch … Himmel, da klopfte es wieder. Es war tatsachlich jemand da!
        Mit einem Gefuhl, das aus wildem Hoffen und Verzweiflung gemischt war, lief er zum Fenster und offnete es. Der Bauherr dieses Wochenendhauses mu?te wohl eine Vorliebe fur Gefangnisgitter gehabt haben - wie hatte er sonst dieses uner-reichbare Fenster vergittern lassen konnen! Aber wenn es auch vielleicht als skurriler Einfall fur ein Wochenendhaus gedacht war, ein starkes Eisengitter blieb es trotzdem.

»Ist jemand dort?« flusterte der Professor. »Wer ist da?«

»Ich bin es blo?. Kalle Blomquist.«
        Das war ganz leise gesprochen, aber es lie? den Professor vor Aufregung erzittern. Seine Hande krampften sich um das Gitter.

»Kalle Blomquist? Wer - ach so, jaja, jetzt erinnere ich mich.
        Gesegneter kleiner Kalle, wei?t du etwas von Rasmus?«

»Er ist in einem Hauschen druben bei Eva-Lotte. Ihm geht es ausgezeichnet.«

»Gott sei Dank!« flusterte der Professor erleichtert. »Peters sagte, ich hatte Rasmus zum letztenmal gesehen …«

»Herr Professor, ich hole die Polizei!« sagte Kalle.
        Der Professor griff sich an die Stirn: »Nein, nein, nicht die Polizei. Wenigstens jetzt noch nicht. Auf keinen Fall! Rasmus ist in gro?ter Gefahr. Ich wei? weder ein noch aus … Ich glaube, dieser Peters meint ernsthaft, was er sagt … Hast du nicht gelesen, da? geraubte Kinder von den Kidnappern umgebracht worden sind, als die Polizei eingriff? Dieser Peters droht … Ich habe Angst um Rasmus … Nein, nein, nicht die Polizei - nicht, bevor ich Rasmus in Sicherheit habe.«
        Er packte das Gitter und flusterte schnell: »Das Schlimmste ist: Rasmus wei?, wo ich die Papiere mit den Formeln aufbewahre. Von der Erfindung, wenn du dich erinnerst. Und dieser Peters wei? das. Es wird nicht lange dauern, und er hat Rasmus gezwungen, das Versteck zu verraten.«

»Wo sind sie?« fragte Kalle. »Konnen Anders und ich sie nicht in Sicherheit bringen?«

»Glaubst du?« Der Professor erregte sich so sehr, da? ihm fast die Stimme fortblieb. »Gro?er Gott, wenn ihr das wirklich fertigbringen konntet! Ich habe sie
… Meint ihr wirklich … Sie stecken hinter …«
        Aber Kalle erfuhr das kostbare Geheimnis nicht. Der Professor mu?te schweigen, weil hinter ihm die Tur aufging. Noch eine Sekunde, und er hatte sagen konnen, was er sagen wollte!
        Peters aber stand bereits auf der Schwelle. Er hatte eine Petroleumlampe in der Hand. Er gru?te sehr hoflich.

»Guten Abend, Herr Professor Rasmusson!« Der Professor schwieg. »Hat Ihnen der verdammte Nicke nicht einmal eine Lampe hiergelassen?« fuhr Peters fort. »Bitte sehr, ich stelle Ihnen naturlich diese hier zur Verfugung.« Freundlich lachelnd stellte er die Petroleumlampe auf den Tisch. Der Professor sagte noch immer kein Wort.

»Ich soll Sie von Rasmus gru?en«, sagte Peters, wahrend er den Docht etwas niedriger schraubte. »Ich glaube fast, ich bin gezwungen, den Kleinen ins Ausland zu schicken.« Der Professor machte eine Bewegung, als wolle er sich auf seinen Qualgeist sturzen, aber Peters wehrte kurz mit der Hand ab.

»Nicke und Blom stehen drau?en«, sagte er. »Wenn Sie schlagen wollen, schlagen wir zuruck. Und - vergessen Sie nicht: Wir haben Rasmus.«
        Der Professor setzte sich auf das Bett und pre?te die Hande vors Gesicht. Sie hatten Rasmus! Sie hatten jeden Trumpf in der Hand! Er hatte nur Kalle Blomquist. Blomquist war seine einzige Hoffnung, und er mu?te deshalb ruhig bleiben. Er mu?te
… Er mu?te …
        Peters ging durch das Zimmer. Dann stellte er sich mit dem Rucken ans Fenster.

»Gute Nacht, mein Freund«, sagte er leichthin. »Sie haben ja noch Zeit, sich die Angelegenheit zu uberlegen. Allerdings nicht mehr sehr lange, furchte ich.«
        Drau?en pre?te sich Kalle fest gegen die Wand. Er konnte Peters’ Stimme horen, als sei er selbst der Angesprochene, und angstlich versuchte er, etwas auszuweichen. Dabei setzte er seinen Fu? auf einen Grasbuschel - und mit laut vernehmbarem Krach rutschte Meisterdetektiv Blomquist die steile Wand hinunter und knallte, bedeutend schneller als vorgesehen, Anders vor die Fu?e. Kalle stohnte, und Anders beugte sich beunruhigt uber ihn.

»Hast du dich gesto?en? Tut es weh?«

»Nein, keine Sorge, es ist ein herrliches Gefuhl«, versicherte Kalle, noch einmal aufstohnend. Es blieb ihm aber keine Zeit, an seine blauen Flecke zu denken. Oben vom Haus her war Peters’ Stimme zu horen. Er schrie:

»Nicke! Blom! Wo seid ihr! Durchsucht sofort mit euren Lampen das Gelande unten am Haus! Sofort! Rasch!«

»Du guter Moses«, flusterte Anders.

»Genau das«, sagte Kalle. »Jetzt konnen wir uns ganz schon leid tun.«
        Bevor sie uberhaupt an Flucht denken konnten, begannen die Strahlen der Taschenlampen schon zwischen den Baumen zu spielen. Jeden Moment konnten sie sich mitten im Lichtke-gel befinden. Es war unangenehm, auch nur daran zu denken!
        Nicke und Blom kamen angerast. Kalle und Anders horten, wie sie sich naherten. Sie wollten weglaufen, aber die Angst lahmte sie. Als Nicke kaum funfzig Schritte von ihnen entfernt war, druckten sie sich endlich in eine Spalte zwischen zwei gro?en Steinen. Es war die engste kleine Schlucht, und sie klemmten sich in sie hinein, als wollten sie die Steine ausein-anderpressen. So fuhlt man sich sicherlich als armes geplagtes Tier, wenn in der Nahe die Bluthunde keuchen, dachte Kalle verzweifelt.
        Und dann waren die Bluthunde uber ihnen. Das Scheinwerferlicht flatterte umher, zuckte hierhin und dorthin. Krampfhaft klammerte Kalle und Anders sich aneinander. Sie dachten plotzlich beide an ihre Mutter. Der Mond leuchtete boshaft zwischen die Baume, gerade als reichten die Lampen noch nicht aus.

»Hierher, Nicke!« schrie Blom. Seine Stimme klang entsetzlich laut und nahe. »Wir wollen einmal zwischen die dichten Tannen dort sehen. Ist jemand hier, so ist er dort.«

»Er kann ja wohl nicht gleichzeitig hier und dort sein«, grunzte Nicke. »Au?erdem glaube ich, da? der Chef phantasiert.«

»Das werden wir bald genau wissen«, sagte Blom grimmig.

»Mutter, Mutter, Mutter«, dachte Kalle, »jetzt kommen sie -jetzt ist es mit uns zu Ende - zu Ende fur immer …«
        Ganz, ganz dicht waren sie nun herangekommen, und fur den Bruchteil einer Sekunde leuchtete Nickes Lichtstrahl in das Versteck der Jungen hinein.
        Aber manchmal geschehen Wunder.

»Was denn, was denn? Was ist denn mit meiner Taschenlampe?« sagte Nicke. Dank und Preis und Dank und Lob -
        Nickes Lampe war erloschen. Und um das Wunder noch vollkommener zu machen, verschwand gleichzeitig der Mond hinter einer gro?en Wolke. Blom kroch eifrig in allernachster Nahe zwischen dichten Tannen umher. Nicke folgte ihm. Er versuchte, seine Lampe klar zu bekommen.

»Ist jemand hier, so ist er dort«, brummelte er, Bloms Sprache nachahmend, vor sich hin. »Soso, nun geht sie wieder«, fuhr er zufrieden fort und lie? den Lichtstrahl zwischen den Tannen umherhuschen. Es war aber niemand zu finden, und Nicke gab Blom einen Puff in die Seite und sagte: »Na, was hab’
        ich gesagt? Der Chef phantasiert. Mit seinen Nerven ist was nicht in Ordnung. Hier findet sich keine Schnauze.«

»Nee, hier ist alles leer«, bestatigte Blom mi?launig.

»Aber wir gehen noch’n Stuck weiter - zur Sicherheit.«

»Jaja«, dachte Kalle, »macht das mal - zur Sicherheit«.
        Und wie auf Kommando flitzten er und Anders lautlos die paar Meter, die sie von den Baumen trennten, und schlupften unter den allerdichtesten. Die Erfahrung im Krieg der Rosen hatte sie gelehrt, da? es nirgends sicherer ist als in dem Versteck, das gerade untersucht worden ist.
        Nicke und Blom kamen schnell zuruck. Sie gingen so dicht an den Tannen vorbei, da? Kalle, wenn er die Hand ausgestreckt hatte, von ihnen gestreift worden ware. Sie gingen auch an der kleinen Mulde zwischen den Steinen vorbei, und Blom leuchtete dort besonders sorgfaltig. Aber dort war niemand mehr.

»Ist jemand hier, so ist er auf gar keinen Fall dort.« Nicke lachte und leuchtete noch einmal pedantisch genau die Mulde ab.

»Na, stell dir vor, er ist hier, weil er nicht dort ist«, flusterte Kalle mit einem Seufzer der Erleichterung.
        ACHTES KAPITEL
        Ein neuer Tag stieg empor, und wie immer schien die Sonne wieder uber die Bosen und die Guten. Sie weckte Kalle und Anders, die friedlich auf den Tannenzweigen in ihrer Hutte schlum-merten.

»Was wollen wir denn heute essen?« fragte Anders ironisch.

»Fruhstuck: Blaubeeren«, sagte Kalle. »Mittagessen: Blaubeeren - und zum Abendbrot, na, was denkst du: Wollen wir da nicht zur Abwechslung mal ein paar Blaubeeren mehr essen?«

»Nein, nein, fur das Abendbrot mu? Eva-Lotte sorgen«, sagte Anders voller Uberzeugung.
        Sie erinnerten sich an gestern und seufzten sehnsuchtsvoll bei dem Gedanken an alles, was sie da gegessen hatten. Aber sie be-sannen sich auch auf die schauerlichen Erlebnisse, und es lief ihnen unangenehm den Rucken hinunter. Sie wu?ten, heute abend mu?ten sie alles noch einmal mitmachen. Es war unaban-derlich. Der Professor erwartete sie. Das konnten sie gut verstehen. Einer mu?te also wieder zu seinem Fenster hochklettern, um zu horen, wo sich diese Papiere befanden. Wenn sie die Dokumente des Professors retten konnten, hatten sie eine wirklich gute Tat in ihrem Leben vollbracht.
        Kalle betastete seine zerschrammten Arme und Beine.

»Es ist wohl besser«, sagte er, »wenn ich es mache. Blaue Flecke gehoren zu blauen Flecken. Aber jetzt ware ein kleines flottes Fruhstuck nicht zu verachten.«

»Die Zubereitung des Essens liegt in meiner Hand«, sagte Anders dienstbereit.
»Bleib bitte hier. Du bekommst deine Blaubeeren ans Bett.«
        Rasmus und Eva-Lotte bekamen ihr Fruhstuck auch ans Bett, nur war ihr Fruhstuck wesentlich stabiler. Nicke hatte sich anscheinend entschlossen, den vorlauten Madchenmund auf diese Weise zu stopfen. Triumphierend hielt er der halbwachen Eva-Lotte ein Tablett unter die Nase: Schinken und Ruhrei, dicke su?e Haferflocken mit kuhler Sahne und belegte Butterbrote. Es sah aus wie ein Fruhstuck fur ein Regiment.

»Auf, auf, essen, Madchen! Damit du nicht verhungerst!«
        drangte er. Eva-Lotte blinzelte mit einem Auge auf das Tablett.

»Es macht sich«, sagte sie anerkennend. »Aber morgen konntest du getrost noch einige gebackene Waffeln dazulegen. Voraus-gesetzt, da? dich bis dahin die Polizei noch nicht geschnappt hat.«
        Rasmus setzte sich hastig auf.

»Die Polizei darf Nicke nicht schnappen«, sagte er, und seine Stimme zitterte ein wenig. »Die durfen doch wohl nicht nette Leute mitnehmen.«

»Nette Leute nicht, aber Kidnapper nehmen sie«, sagte Eva-Lotte kuhl und griff zu einem Wurstbrot.

»Nee du, hor du mal«, sagte Nicke. »Jetzt langt mir das Ge-fasel vom Kidnapper aber bald.«

»Und mir langt es bald, immer noch gekidnappt zu sein. Das gleicht sich also aus.«
        Nicke glotzte sie bose an: »Dich hat niemand gebeten herzu-kommen. Ohne dich ware hier die schonste Sommerfrische.« Er ging zu Rasmus und setzte sich neben ihn. Rasmus reckte seine kleine warme Hand und streichelte Nickes Kinn.

»Ich finde, Kidnapper sind nett«, stellte er fest. »Was machen wir heute, Nicke?«

»Zuerst wollen wir einmal herrlich fruhstucken«, erwiderte Nicke. »Dann werden wir weitersehen.«
        Die Auffassung, da? Nicke ein netter Kerl sei, hatte Rasmus schon seit den ersten Stunden auf der Insel.
        Von Anfang an war Rasmus der Meinung gewesen, da? diese ganze Reise ein wunderbarer Einfall seines Vaters war. Es machte Spa?, Auto zu fahren, es war schon, im Motorboot zu sitzen, und an der Anlegestelle auf dieser Insel lagen so viele Boote! Er wollte Vati auch noch bitten, da? er baden durfte. Aber dann war dieser dumme Onkel gekommen und hatte alles in Unordnung gebracht.
        Er hatte so seltsam mit Vati gesprochen, und Vati war bose geworden und hatte seinen Rasmus angeschrien, und dann war Vati verschwunden und hatte sich nicht mehr bei Rasmus sehen lassen.
        Und langsam waren ihm Zweifel gekommen, ob alles wirklich so wunderbar war. Er hatte versucht, gegen seine Tranen, die hervor wollten, anzukampfen, aber schnell waren die ersten unterdruckten Schluchzer in einen Sturzbach von Tranen uber-gegangen. Peters hatte ihn unsanft zu Nicke geschoben und gesagt: »Ubernimm du den Jungen.«
        Das war ein schwerer Auftrag fur Nicke gewesen. Er hatte sich kummervoll den Kopf gekratzt. Wu?te er, wie man mit weinenden Kindern umzugehen hatte? Aber er war bereit gewesen, alles zu tun, um die Heulerei zu beenden.

»Soll ich dir einen Flitzbogen machen?« hatte er in seiner Not vorgeschlagen. Das hatte wie eine Zauberformel gewirkt.
        Die Tranen hatten so schnell aufgehort, wie sie begonnen hatten, und Rasmus’ Glaube an die Menschheit war wiederhergestellt gewesen. Dann hatten sie zwei Stunden lang Zielschie?en mit dem neuen Flitzbogen geubt - und fur Rasmus stand fest: Nicke war nett. Und wenn nun Eva-Lotte sagte, da? Nicke ein Kidnapper war, dann waren Kidnapper eben nett.
        Genau wie zu erwarten gewesen war, stieg die Sonne hoher und hoher und schien weiterhin uber die Bosen und uber die Guten.
        Sie schien und erwarmte die Klippen, auf denen Kalle und Anders badend den Tag verbrachten. Sie schien auf Nicke, der auf Eva-Lottes Treppe sa? und Borkenboote schnitzte, und auf Rasmus, der die fertigen Boote in der Regentonne an der Hausecke probe-fahren lie?. Sie spielte in Eva-Lottes blondem Haar, wahrend diese auf ihrer Bank im Zimmer sa? und Nicke, der sie nicht hinaus-lassen wollte, ha?te. Und die Sonne argerte Peters, weil sich Peters an diesem schonen Sommertag uber alles argerte und deshalb bei der Sonne keine Ausnahme machte. Aber ohne sich um den Arger von Peters zu kummern, verfolgte die Sonne ruhig ihre Bahn und ging schlie?lich - wie zu erwarten gewesen war - im Westen hinter den Waldern druben auf dem Festland unter.
        Damit war nun der zweite Tag auf der Insel auch zu Ende.
        Nein, nicht zu Ende! Jetzt fing er erst an!
        Es begann damit, da? Peters zu Eva-Lotte kam. Eva-Lotte beachtete er allerdings nicht. Mit ihr war er fertig. Sie hatte gesehen, wie Rasmus und der Professor geraubt wurden. Sie hatte sich in das Auto geschmuggelt, weil dieser Idiot von Svanberg nicht ordentlich genug aufgepa?t hatte. Sie war der einzige Augenzeuge und durfte nicht frei umherlaufen. Es war zwar beschwerlich, sie hier auf der Insel zu haben, aber es war nicht zu andern. Moglicherweise konnte sie den Kleinen beruhigen, bis dessen dickscha-deliger Vater Vernunft angenommen hatte. Mehr war von Peters’
        Seite uber Eva-Lotte nicht zu sagen. Um sie brauchte er sich nicht mehr zu kummern. Er wollte mit Rasmus sprechen.
        Rasmus lag bereits in seinem Bett auf der Bank. Vor sich auf der Decke hatte er funf kleine Borkenboote liegen. An der Wand hing sein Flitzbogen. Er fuhlte sich reich und war glucklich. Es machte Spa?, auf dieser Insel zu sein, wirklich Spa?, und Kidnapper waren nett.

»Hor mal, kleiner Mann«, sagte Peters und setzte sich zu Rasmus, »was wurdest du sagen, wenn du den ganzen Sommer auf der Insel bleiben mu?test?«
        Ein Lacheln huschte uber Rasmus’ Gesicht: »Den ganzen Sommer! Du bist aber nett! Dann konnen Vati und ich also bei dir die Sommerferien verbringen?«

»Eins zu null fur Rasmus«, dachte Eva-Lotte und lachelte boshaft. Aber sie sagte nichts. Dieser Peters war nicht der Mann, zu dem man so ohne weiteres sprach. Nicke sa? auf einem Stuhl am Fenster und war sehr zufrieden. Endlich war das gro?schnauzige Madchen gezwungen zu schweigen.
        Peters war nicht so zufrieden. »Hor mal, Rasmus«, fing er an, aber Rasmus unterbrach ihn freudestrahlend.

»Dann konnen wir jeden Tag baden, nicht?« fragte er. »Ich kann schon funf Sto?e schwimmen. Willst du mal sehen, wie ich funf Sto?e schwimme?«

»Jaja«, sagte Peters, »aber …«

»Oh, das wird lustig werden«, redete Rasmus weiter. »Pa? auf: Einmal im Sommer, als wir badeten, kam Marianne unter das Wasser. Blupp, blupp, blupp, sagte es. Aber dann kam sie wieder hoch. Marianne kann namlich blo? vier Sto?e schwimmen!«
        Peters stohnte nervos: »Ich pfeife auf deine Schwimmsto?e.
        Ich will wissen, wo dein Vater diese Papiere mit den roten Zahlen versteckt hat.«
        Rasmus hob die Augenbrauen und betrachtete ihn ungnadig.

»Pfui Blase, was bist du dumm«, sagte er. »Hast du denn nicht gehort, wie Vati zu mir gesagt hat, da? ich es dir nicht erzahlen darf?«

»Dein Vater interessiert uns jetzt gar nicht. Au?erdem sollte so ein kleiner Rotzjunge nicht du zu alteren Personen sagen.
        Nenne mich Herr Peters, verstanden?«

»Hei?t du etwa so?« fragte Rasmus und streichelte sein schonstes Borkenboot.
        Peters schluckte heftig. Er sah ein, da? man sich beherrschen mu?te, wenn man Erfolg haben wollte. »Rasmus, du bekommst etwas Wundervolles, wenn du es mir erzahlst«, sagte er mild.

»Du bekommst eine Dampfmaschine!«

»Dampfmaschine? Habe ich schon«, sagte Rasmus. »Bor-kenboote sind besser.« Er hielt Peters sein schonstes Borkenboot dicht unter die Nase: »Na, hast du schon jemals ein so schones Boot gesehen, Peters?« Dann lie? er es auf der Decke hin und her fahren. Er fuhr uber den Ozean nach Amerika, zu den Indianern. »Wenn ich gro? bin, will ich Indianerhauptling werden und alle schlechten Menschen totschlagen«, versicherte er.
        Auf diese sensationelle Mitteilung antwortete Peters nicht. Er bemuhte sich, ruhig zu bleiben, und suchte nach einer Moglichkeit, Rasmus dorthin zu bekommen, wohin er ihn haben wollte.
        Das Borkenboot glitt uber die Decke. Eine kleine braune und ziemlich schmutzige Hand bewegte es.

»Du bist ein Kidnapper«, sagte Rasmus, wahrend seine Augen dem Weg des Bootes uber den Ozean folgten. Und auch seine Gedanken waren bei dem Boot, als er wie geistesabwesend fortfuhr: »Du bist ein Kidnapper, deshalb darfst du keine Geheimnisse erfahren. Sonst konnte ich dir ja erzahlen, da? Vati sie mit Rei?zwecken hinter dem Bucherregal festgemacht hat.
        Aber das erzahle ich dir nicht … Oh, nun habe ich es aber gesagt«, stellte er erstaunt fest.

»Rasmus, Rasmus«, jammerte Eva-Lotte.
        Peters sprang auf.

»Hast du gehort, Nicke?« rief er und lachte laut und zufrieden. »Hast du das gehort? Mensch, das ist zu schon, um wahr zu sein! ›Hinter dem Bucherregal‹, hat er gesagt! Wir holen sie noch heute nacht. Halte dich in einer Stunde bereit!«

»Okay, Chef«, sagte Nicke.
        Peters eilte zur Tur, vollig ungeruhrt von Rasmus’ wildem Schreien: »Nein, wieder zuruck! Das gilt nicht, wenn man sich so vergi?t. Es gilt nicht! Es gilt nicht! Wieder zuruck!«
        NEUNTES KAPITEL
        Die Wei?e Rose verfugte uber geheime Signale und Warnungs-zeichen der verschiedensten Art. So gab es nicht weniger als drei verschiedene Signale fur
»Gefahr«. Entweder die schnelle Beruhrung der Nasenspitze - ein Zeichen, das angewandt wurde, wenn Bundesgenossen und Feinde gleichzeitig zusammen waren und man auf unbemerkbare Weise den Bundesgenossen ermah-nen wollte, sich in acht zu nehmen. Oder den Eulenschrei, der heimlich alle im Gelande umherirrenden Wei?en Rosen anrief, unmittelbar zur Hilfe herbeizueilen. Schlie?lich den gro?en Katastrophenschrei, der nur angewandt werden durfte, wenn todliche Gefahr drohte und man sich in hochster Not befand.
        Jetzt befand sich Eva-Lotte in hochster Not. Sie mu?te Kalle und Anders sprechen - sofort. Sie ahnte, da? die beiden gleich hungrigen Wolfen hier in der Gegend umherstrichen, nur darauf bedacht, endlich das brennende Licht in ihrem Fenster zu sehen zum Zeichen, da? die Kuste klar war. Aber die Kuste war nicht klar. Nicke wollte nicht gehen. Er sa? und sa? und erzahlte Rasmus Geschichten, wie er als junger Seemann uber alle blauen Ozeane der Welt gesegelt ware. Und Rasmus, diese kleine Nu?, ermunterte ihn nur noch mit vielen Fragen und wollte immer mehr horen. Dabei war es so eilig, eilig, eilig! In einer Stunde wollten Peters und Nicke schon unterwegs sein, um im Schutz der Nacht die wertvollen Papiere zu holen.
        Fur Eva-Lotte gab es nur einen Ausweg und - schon stieg er in die Luft, der gro?e Katastrophenschrei. Er horte sich genauso entsetzlich an, wie er gemeint war. Nicke und Rasmus traf fast der Schlag. Als Nicke wieder zu sich kam, schuttelte er den Kopf und sagte:

»Die scheint fertig zu sein. So schreit ein normaler Mensch nicht!«

»So schreien die Indianer«, erklarte Eva-Lotte. »Ich dachte mir, es wurde vielleicht allgemein interessieren … Falls etwas noch nicht klargeworden ist, so hort es sich an.« Und noch einmal stieg der durchdringende Katastrophenschrei aus ihrer Kehle.

»Danke, danke, es reicht!« beteuerte Nicke.
        Und damit hatte er recht. Irgendwo drau?en im Dunkeln krachzte ein Kolkrabe. Nun ist es zwar nicht ublich bei den Kolkraben, sich nach Eintritt der Dunkelheit horen zu lassen, aber Nicke zeigte daruber kein Erstaunen und Eva-Lotte schon gar nicht. Sie wurde nur sehr glucklich uber die Antwort des Kolkraben Anders: »Wir haben gehort!«
        Wie sollte nun aber die wichtige Mitteilung uber die Papiere zu ihnen hinaus? Ah, ein Ritter der Wei?en Rose wei? immer Rat. Die Geheimsprache, die Raubersprache, war mehr als einmal nutzlich gewesen und wurde es auch jetzt.
        Nicke und Rasmus bekamen daher einen neuen Schreck, als Eva-Lotte plotzlich und ganz ohne vorherige Warnung in einen lauten und klagenden Gesang ausbrach:

»Ror e tot tot e tot dod i e pop a pop i e ror e dod e sos pop ror o fof e sossos o ror sos hoh i non tot e ror dod e mom bob u choch e ror ror e gog a lol!« sang sie ununterbrochen, ohne sich um Nickes deutliche Mi?billigung zu kummern.

»Nee du, hor du mal«, sagte er schlie?lich, »stell mal die Platte ab. Warum blokst du blo? so?«

»Das ist doch ein indianisches Liebeslied«, sagte Eva-Lotte.

»Ich dachte, es wurde allgemein …«

»Ich glaube, dir tut es irgendwo allgemein weh«, unterbrach Nicke sie.

»E sos e i lol tot sos e hoh ror!« sang Eva-Lotte, bis Rasmus die Hande auf die Ohren pre?te und geradezu beschworend sagte:

»Eva-Lotte, konnen wir nicht lieber ›Kleine Frosche, kleine Frosche‹ singen?«
        Drau?en in der Dunkelheit aber standen Kalle und Anders und horten Eva-Lottes aufregende Botschaft: »Rettet die Papiere des Professors hinter dem Bucherregal! Es eilt sehr!«
        Wenn Eva-Lotte sagte, da? es sehr eilte, und den gro?en Katastrophenschrei gebrauchte, konnte es nur bedeuten, da? Peters auf irgendeine Weise herausbekommen hatte, wo die Dokumente mit den Formeln waren. Es kam also darauf an, vor ihm dort zu sein.

»Schnell!« sagte Anders. »Wir borgen uns ein Boot aus!«
        Und ohne weitere Worte rannten sie den kleinen Steg zur Anlegestelle hinunter. Sie stolperten im Dunkeln, sie rissen sich an Asten und Strauchern wund, sie waren hungrig und angstlich und glaubten immerfort, einen Verfolger zu sehen, aber das machte ihnen alles nichts aus. Fur sie gab es nur eines: Die Geheimnisse des Professors durften nicht in unrechte Hande fallen. Und deshalb mu?ten sie die ersten sein.
        Sie erlebten einige schreckliche Minuten, bevor sie ein Boot fanden, das nicht angekettet war. Jeden Augenblick rechneten sie damit, Blom oder Nicke aus dem Dunkel auftauchen zu sehen, und als Kalle das Boot leise ins Wasser schob und die Ruder ergriff, drohnte es in seinen Ohren: »Jetzt kommen sie, jetzt kommen sie bestimmt!«
        Es kam aber niemand, und Anders ruderte aus Leibeskraften.
        Bald waren sie au?er Horweite der Insel, und nun legte sich Anders in die Riemen, da? das Wasser nur so zischte. Still sa? Kalle auf der Steuerbank und dachte daran, wie sie heruberge-kommen waren. War das wirklich erst gestern fruh gewesen?
        Ihm kam es vor, als sei seitdem ein halbes Jahr vergangen.
        Sie versteckten das Boot im Schilf und rannten umher und suchten das Motorrad. Sie hatten es in einem Wacholderstrauch versteckt, aber wo, um der Barmherzigkeit willen, war dieser Wacholderstrauch geblieben, und wie sollte man ihn jetzt im Dunkeln finden? Etliche kostbare Minuten gingen in verzwei-feltem Suchen dahin. Anders war so aufgeregt, da? er beinahe seine Finger aufgegessen hatte. Wo war das verflixte Rad nur?
        Und Kalle kroch in den Strauchern herum. Ja, da war es, er hatte es endlich gefunden! Liebevoll umschlossen seine Hande die Lenkstange, und eilig schob er das Rad auf den Waldweg hinaus.
        Ein Fahrweg von ungefahr funfzig Kilometern lag vor ihnen.
        Kalle sah auf seine Armbanduhr. Die Zeiger leuchteten in der Dunkelheit.

»Es ist halb elf«, sagte er zu Anders, der gar nicht nach der Uhrzeit gefragt hatte. Es horte sich irgendwie verhangnisvoll an.
        Im selben Augenblick sagte Peters zu Nicke: »Es ist halb elf.
        Es wird Zeit fur uns, uber das Wasser zu kommen!«

50 km - 40 km - 30 km noch bis Kleinkoping!
        Mit der in Jahren erworbenen Sicherheit der Wei?en Rosen fanden sie den Ruckweg durch die Dunkelheit. Sie flogen fast durch die laue Julinacht, aber der Weg kam ihnen endlos lang vor. Mit angespannten Nerven horchten sie auf ein Gerausch des Autos, das sie hinter sich wu?ten. Jeden Moment erwarteten sie, vom Scheinwerferlicht, das sich ihnen von hinten nahern mu?te, erfa?t zu werden, dachten daran, wie dieses Licht dann an ihnen vorbeigleiten wurde, um vor ihnen auf der Stra?e zu verschwinden und alle Hoffnung auf die Papiere, die so viel be-deuteten, mit sich zu nehmen.

»Kleinkoping 20 km«, las Anders auf einer Wegtafel. Jetzt naherten sie sich dem heimatlichen Gebiet.
        Ungefahr gleichzeitig kam ein schwarzes Auto an einer anderen Wegtafel vorbei.

»Kleinkoping 36 km«, las Nicke. »Geben Sie man noch’n bi?chen Gas, Chef!«
        Aber Peters fuhr, wie es ihm behagte. Er nahm eine Hand vom Steuerrad, um Nicke eine Zigarette anzubieten, und sagte zufrieden: »Wenn ich so lange gewartet habe, kann ich ja auch noch die halbe Stunde warten!«
        Kleinkoping! Da liegt die Stadt und schlaft so ruhig, wie sie es gewohnt ist. Es ist beinahe aufregend, denken Kalle und Anders. Das Motorrad fahrt sie durch wohlbekannte Stra?en, nimmt den Weg hinauf zur Schlo?ruine und bleibt endlich drau?en vor Eklunds Villa stehen und wird in den Schuppen geschoben.
        Das schwarze Auto hat nur noch einige Kilometer bis zu der kleinen Tafel am Wegrand, die freundlich verkundet: »Will-kommen in Kleinkoping!«

»Das ist das Alleraufregendste, was ich jemals mitgemacht habe«, flustert Anders, als sie auf die Veranda schleichen. Vorsichtig druckt er auf den Turgriff. Nicht abgeschlossen! Kann nicht viel Verstand in den Kidnapperkopfen sitzen, wenn sie nicht hinter sich zuschlie?en, denkt Kalle. Kann man die Turen offenlassen, wenn in dem Haus Papiere im Wert von hunderttausend Kronen versteckt sind? Aber um so besser - das spart Zeit! Kalle fuhlt am ganzen Korper: Zeit ist jetzt kostbar.

»Hinter dem Bucherregal« - welchem Bucherregal? Doktor Eklund, der die Villa fur den Sommer an den Professor vermie-tet hat, ist ein Mann mit vielen Buchern und mit vielen Bucherregalen. Im Wohnzimmer sind Bucherregale an jeder Wand.

»Das wird uns die ganze Nacht kosten«, sagt Anders. »Wo sollen wir anfangen zu suchen?«
        Kalle denkt - trotz der kostbaren Zeit - nach. Manchmal aber lohnt es sich, ein wenig Zeit fur das Nachdenken zu opfern.
        Was hatte Rasmus zu seinem Vater gesagt? »Ich stand auf der Treppe in der Diele, und du stecktest …« Wo stand Rasmus, als er das sah? Kalle lauft in die Diele, und auf welcher Stufe der Treppe er auch steht, es gibt nur ein Bucherregal, das Kalle durch die offene Tur des Wohnzimmers sehen kann, das Regal neben dem Schreibtisch.
        Er rast zuruck ins Wohnzimmer, und mit vereinten Kraften ziehen sie das Regal von der Wand. Das Regal quietscht dabei nervenzerrei?end auf dem Fu?boden. Es ist ein sehr storendes Gerausch. Es ist gerade jetzt das einzige Gerausch, das in ihre Ohren dringt. Das Auto, das auf dem Weg vor der Villa anhalt, horen sie nicht.

»So - so - so«, noch ein kraftiger Zug, dann konnen sie hinter das Regal sehen! Guter Moses - da ist es! Ein brauner Umschlag, sauber mit Heftzwecken an der Ruckwand des Bucherregals festgemacht. Kalles Finger tanzen vor Aufregung, als er sein Taschenmesser hervorsucht und die Heftzwecken lockern will.

»Da? wir es doch geschafft haben«, keucht Anders, vollkommen bla? vor Spannung.
»Da? wir es doch noch geschafft haben!«
        Kalle halt den kostbaren Umschlag in seiner Hand. An-dachtsvoll sind seine Augen auf das braune Papier gerichtet -dafur ist es aber auch hunderttausend Kronen wert. Ja, mit Geld ist es wohl uberhaupt nicht zu bewerten. Welch eine Stunde!
        Welch ein Triumph, welch ein su?es, warmes, durchdringendes Gefuhl von Zufriedenheit!
        Da horen sie etwas! Etwas Furchtbares. Schleichende Schritte auf der Veranda. Eine Hand am Turgriff. Die Haustur offnet sich langsam. Das Licht der Schreibtischlampe fallt auf ihre bleichen Gesichter. Verzweifelt starren sie sich an; der Schreck la?t sie kaum atmen. In einigen winzigen Sekunden wird die Tur dort aufgehen, und dann ist alles verloren. Sie werden gefangen sein wie zwei kleine Ratten in der Falle. Einer wird den Eingang bewachen. Einer wird sie niemals mit dem kostbaren braunen Umschlag im Wert von hunderttausend Kronen entkommen lassen.

»Schnell, schnell«, haucht Kalle, »die Treppe hinauf!«
        Die Beine versagen fast den Dienst, aber auf irgendeine ubernaturliche Weise gelingt es ihnen, die Diele und die Treppe zu erreichen. Dann geschieht alles in so rasender Eile, da? die Gedanken und jede Vernunft verschwinden, untergehen in einem Chaos aus Larm und Krach: aufgeregten Stimmen, schlagenden Turen, lautem Gerufe, Fluchen und dem Tappen wild die Treppe hinaufhetzender Schritte, ja - Hilfe! - Hilfe! - wild hinaufhetzender Schritte dicht hinter ihnen!
        Da ist das Fenster mit der Gardine, die ihnen so spielerisch in einer Nacht vor tausend Jahren zugewinkt hat. Drau?en steht eine Leiter - vielleicht, vielleicht ist sie der Rettungsweg. Sie walzen sich uber das Fensterbrett auf die Leiter hinaus, klettern, rutschen, nein: sausen an ihr hinunter und laufen, laufen, wie sie in ihrem jungen Leben bisher noch nie gelaufen sind. Sie laufen, obgleich sie die eiskalte Stimme oben im Fenster horen, die Stimme von Peters, der ihnen nachruft: »Wenn ihr nicht ste-henbleibt, schie?e ich!«
        Aber alle Vernunft ist verschwunden. Sie laufen weiter, weiter, immer weiter, als hatten sie nicht verstanden, da? es vielleicht ihr Leben gilt. Sie laufen und laufen, bis sie glauben, die Brust platze ihnen auseinander.
        Und sie horen sie wieder, springende Fu?e, die sich nahern -wo in aller Welt gibt es ein Versteck vor diesen springenden, verfolgenden Fu?en? Sie laufen auf die Stadt zu. Weit ist es bis dahin nicht mehr, aber ihre Krafte gehen zu Ende. Und unbarmherzig nahern sich die Verfolger. Es gibt keine Rettung, alles ist verloren - in wenigen Augenblicken ist alles vorbei!
        Da sehen sie ihn! Beide sehen ihn. Dort blinkt die erste Stra?enlaterne, und ihr Schein fallt auf eine wohlbekannte, lange Gestalt in der Uniform eines Polizisten.

»Onkel Bjork, Onkel Bjork, Onkel Bjork!«
        Sie schreien, als waren sie in Seenot, und Onkel Bjork winkt ihnen abwehrend zu - wer wird auch nachts ein solches Geschrei loslassen! Als er ihnen entgegengeht, ahnt er nicht, da? die beiden Jungen ihn jetzt mehr lieben als seine eigene Mutter.
        Kalle sturzt sich auf ihn und schlingt keuchend die Arme um ihn.

»Bester, bester Onkel Bjork - verhaften Sie diesen Schurken dort!«
        Er dreht sich um und zeigt. Aber die springenden Schritte haben aufgehort. So weit man in das Dunkel hineinsehen kann -kein Mensch ist zu entdecken. Kalle seufzt, er wei? selbst nicht, ob vor Erleichterung oder aus Bedrangnis. Hier lohnt es nicht, Kidnapper zu jagen. Er sieht das ein. Gleichzeitig sieht er aber auch etwas anderes ein. Er kann Schutzmann Bjork gar nicht erzahlen, wie alles vor sich ging, was geschehen ist, warum sie geschrien haben, weshalb sie jetzt hier stehen.
»Nein, nicht die Polizei, nicht, bevor ich Rasmus in Sicherheit habe.« Davor hatte der Professor deutlich gewarnt. Peters ist von der Finsternis verschluckt worden. Sicher ist er bereits auf dem Weg zu seinem Auto, das ihn schnell zu der Insel bringt - und zu Rasmus!
        Nein, man darf die Polizei nicht hineinziehen, man darf nicht gegen den Professor handeln. Wenn man auch tief in seinem Innern glaubt, da? es sicher das klugste ware. Der Professor als Erwachsener mu? es doch wissen, und er hat ausdrucklich verboten, die Polizei zu holen. Und er sagt, Rasmus wurde durch das Eingreifen der Polizei gefahrdet. Und das stimmt … Nein, man darf nichts gegen den Willen des Professors tun … Ver-flucht, wie ist das alles schwer!

»Soso, der Meisterdetektiv ist wieder an der Arbeit«, sagt Bjork lachelnd. »Wo hast du denn deine Schurken gelassen, Kalle?«

»Die sind entwischt«, keucht Anders, und Kalle tritt ihm warnend auf die Zehen. Die Warnung ist aber unnotig. Anders wei?, wenn es die Kriminalistik betrifft, fuhrt Kalle das Wort.

»Die kriechen gerade durch die Rohre.« So wischt Kalle alles mit einem Witz weg, und Bjork beginnt sofort, von etwas anderem zu reden.

»Ihr seid mir schon Helden«, sagt er. »Heute morgen habe ich deinen Vater getroffen, Kalle, und er war ziemlich wutend, glaub mir das. Da? ihr euch nicht schamt, einfach von zu Hause wegzulaufen! Es war wirklich Zeit, da? ihr zuruckgekommen seid!«
        Ware jemand in dieser Nacht gegen zwei Uhr an Viktor Blomquists Lebensmittelgeschaft vorbeigegangen, er hatte denken mussen, im Laden seien Einbrecher am Werke. Hinter den Tischen wurde mit einer Taschenlampe geleuchtet, und ab und zu konnte man zwei Schatten am Schaufenster vorbeihuschen sehen.
        Die beiden Schatten wurden nicht entdeckt, weil kein Mensch dort nachts vorbeiging. Der Lebensmittelhandler Blomquist und seine Frau, die in ihren Betten lagen, genau uber dem Laden, horten auch nichts, denn die Schatten verstanden die Kunst, sich lautlos zu bewegen.

»Ich will mehr Wurst haben«, sagte Anders mit vollem Mund. »Mehr Wurst will ich haben und mehr Kase!«

»Nimm nur, greif zu«, sagte Kalle. Er hatte genugend damit zu tun, selbst in sich hineinzustopfen.
        Und sie a?en. Sie schnitten dicke Scheiben von dem gerau-cherten Schinken herunter und a?en. Sie hieben machtige Stuk-ke von der Salamiwurst und a?en. Sie zogen ein gro?es, weiches, duftendes Wei?brot hervor und a?en. Sie pulten das Stanniolpapier von den kleinen dreieckigen Kasestuckchen und a?en. Sie steckten die Hande in die Rosinenkiste und a?en. Sie a?en und a?en und a?en - es war die Mahlzeit ihres Lebens.

»Etwas wei? ich ganz bestimmt«, sagte Kalle schlie?lich.

»Niemals, solange ich lebe, kommt noch eine Blaubeere uber meine Lippen.«
        Mit einem wunderbaren Gefuhl von grenzenloser Sattheit schlich Kalle die Treppe hinauf. Es kam darauf an, alle Stufen, die knarrten, auszulassen, denn seine Mutter hatte im Laufe der Jahre die bemerkenswerte Begabung entwickelt, gerade von diesem Knarren aufzuwachen. Aber es mu?te Kalle sein, der die Stufen zum Knarren brachte, sonst wachte sie nicht auf
        - ein absolut ubernaturliches Phanomen, fur das sich die psy-chologische Forschung, wie Kalle dachte, eigentlich naher interessieren sollte.
        Im Augenblick lag ihm nichts daran, seine Mutter - und seinen Vater noch weniger - zu wecken. Er wollte nur seinen Rucksack, die Schlafsacke und einige andere Campingutensili-en holen. Wenn seine Eltern erst aufwachten, wurde viel zuviel kostbare Zeit mit nutzlosen Erklarungen verschwendet werden.
        Im ubrigen hatte sich auch Kalles Fahigkeit, den bewu?ten Treppenstufen auszuweichen, im Laufe der Jahre erstaunlich vervollkommnet, und so kam er vollbepackt und unbeschadigt unten wieder an.
        Gegen halb vier Uhr morgens nahm ein Motorrad in guter Fahrt Kurve um Kurve des Weges, der sich zum Meer schlangelte.
        Auf dem Tisch in Viktor Blomquists Laden lag ein abgerisse-nes Stuck wei?es Einwickelpapier, auf dem sich folgende Mitteilung befand:

»Lieber Vater, Du kannst meinen Lohn fur diesen Monat einbehalten, denn ich habe entnommen:
        Salami ............................ 1 kg
        Wiener Wurstchen .............. 1 kg
        ger. Schinken .................... ? kg
        von den kleinen Kasen
        (Du wei?t schon)............... 10 Stuck
        Brote............................... 4 Stuck
        Geheimratskase................... ? kg
        Butter............................... 1 kg
        Streichholzer ...................... 1 Paket
        von den 50-Ore-Schokoladentafeln ....... 10 Stuck
        Benzinkanister (drau?en vom Lager)

1 Stuck............................... = 10 Liter
        Kakao................................. 2 Pakete
        Trockenmilch ....................... 2 Pakete
        Zucker (fein)....................... 1 kg
        Kaugummi............................ 5 Pakete
        Spiritustabletten.................... 10 Schachteln
        Moglicherweise noch das eine oder andere, wovon ich gerade im Augenblick nichts mehr wei?. Ich verstehe, da? Du bose bist, aber wenn Du wu?test, wie es war, wurdest Du nicht bose sein, das wei? ich genau. Willst Du Onkel Lisander und Anders’ Vater bitte sagen, sie sollten sich beruhigen. Sei nicht bose, dann bist Du lieb - ich bin Dir doch immer ein guter Sohn gewesen.
        Nein, jetzt will ich schlie?en, sonst werde ich noch geruhrt.
        Herzliche Gru?e, auch an Mama, von Kalle
        P. S.: Du bist doch nicht wutend?«
        In dieser Nacht schlief Eva-Lotte sehr unruhig und wachte mit dem Gefuhl auf, da? sich etwas Unangenehmes vorbereitete. Sie angstigte sich wegen Kalle und Anders. Wie war es ihnen wohl ergangen, und wie war es mit den Papieren des Professors? Die Ungewi?heit war entsetzlich, und sie beschlo?, eine Attacke gegen Nicke zu unternehmen, sobald er sich mit dem Fruhstuck sehen lie?. Aber als Nicke endlich kam, sah er so bose aus, da? Eva-Lotte zogerte. Rasmus zwitscherte ein frohliches
»Guten Morgen«, aber Nicke beachtete ihn nicht, sondern ging direkt auf Eva-Lotte zu.

»Satansbalg«, sagte er mit Nachdruck.

»Aha«, sagte Eva-Lotte.

»Du lugst ja, da? es eine Sunde und Schande ohnegleichen ist«, fuhr Nicke fort.
»Hast du nicht zum Chef gesagt, als er dich verhort hat, da? du allein warst - damals in der Nacht, als du in das Auto gekrochen bist?«

»Du meinst, als ihr Rasmus geraubt habt«, sagte Eva-Lotte.

»Ja, genau damals, als wir … ah, zieh Leine«, brummte Nik-ke. »Hast du nicht gesagt, da? du damals allein warst?«

»Ja, das habe ich gesagt!«

»Und das ist gelogen.«

»Warum denn?« fragte Eva-Lotte.

»Warum denn«, affte Nicke ihr nach und lief vor Wut rot an.

»Warum denn? Weil du noch einige Strolche bei dir hattest! Sag die Wahrheit!«

»Na, bitte, stell dir vor, das hatte ich«, sagte Eva-Lotte zufrieden.

»Ja, das waren, soviel ich wei?, Anders und Kalle«, mischte Rasmus sich ein. »Denn die sind genau wie Eva-Lotte in der Wei?en Rose. Und ich werde auch eine Wei?e Rose werden, bitte sehr!«
        Eva-Lotte fing plotzlich an, vor Unruhe zu frosteln. Bedeuteten Nickes Worte etwa, da? Kalle und Anders gefangen worden waren? Wenn das so war, dann konnten sie getrost alle zusammen Abschiedspostkarten schreiben. Sie mu?te es sofort und genau wissen! Keine Minute langer hielt sie die Ungewi?heit aus!

»Woher wei?t du ubrigens, da? ich welche bei mir hatte?«
        fragte sie so gleichgultig wie moglich.

»Weil diese verdammten Rotzloffel die Dokumente gestohlen haben - genau vor der Nase vom Chef - einfach ihm wegge-stohlen!« schrie Nicke und glotzte sie dann bose an.

»Hurra!« schrie Eva-Lotte. »Hurra, Hurra!«

»Hurra!« kam es als Echo von Rasmus. »Hurra!«
        Nicke wandte sich ihm zu, und in seinen Augen war Sorge, Sorge und Unruhe.

»Ja, du hast gerade Grund, Hurra zu schreien, gerade du!«
        sagte er. »Ich glaube, dein Hurra wird bald sehr leise werden.
        Wenn sie dich ins Ausland gebracht haben, wird dein Hurra hier nicht mehr zu horen sein.«

»Was sagst du da?« schrie Eva-Lotte.

»Ich sagte, da? sie kommen werden, um Rasmus ins Ausland zu bringen - sagte ich. Ein Flugzeug landet morgen abend hier und holt ihn ab. Denn jetzt wird es hier brenzlig. Die Polizei sitzt uns im Nacken. Deine Freunde werden schon dafur sorgen.«
        Eva-Lotte schluckte heftig. Dann schrie sie los und sprang auf Nicke zu. Mit geballten Fausten schlug sie auf ihn ein, sie schlug, wohin sie treffen konnte, und rief: »Das ist gemein! Das ist gemein! Oh, was seid ihr fur schandliche - schandliche, gemeine Kidnapper!«
        Nicke verteidigte sich nicht. Er lie? Eva-Lottes Fauste auf sich herumtrommeln. Stand nur da und sah plotzlich so mude aus. Aber vielleicht hatte er in der Nacht auch nur sehr wenig geschlafen …

»Konnten es deine verdammten Freunde nicht bleibenlassen, mu?ten sie ihre Nase in den Dreck stecken«, sagte er schlie?lich. »Konnte nicht der Chef diese verdammten Dokumente kriegen, um die er so ein Wesen macht! Dann ware doch dieses ganze traurige Elend endlich zu Ende gewesen.«
        Inzwischen war Rasmus mit allem, was Nicke vom Flugzeug, das mit ihm ins Ausland fliegen sollte, erzahlt hatte, fertig geworden. Er hatte zwei Moglichkeiten abgewogen. Was war besser: mit einem Flugzeug ins Ausland zu fliegen oder eine Wei?e Rose zu werden? Als er seine Uberlegungen beendet hatte, verkundete er seinen Beschlu?.

»Nein, Nicke«, sagte er, »ich werde nicht mit dem Flugzeug ins Ausland fliegen, denn ich will eine Wei?e Rose werden.«
        Er ging zu Nicke, der auf der Bank sa?, kletterte auf seine Knie und erklarte ihm genau, warum er eine Wei?e Rose sein wollte. Alles, wie man nachts umherschlich und mit den Roten kampfte, wie man Kriegsschreie ausstie? und alles, alles andere, was notig war, um Nicke klarzumachen, warum es ein so gro?es wunderbares Abenteuer war, eine Wei?e Rose zu sein. Nun mu?te er doch begreifen, da? man nicht ins Ausland fliegen konnte. Als er damit fertig war, sah er Nicke strahlend an. Nicke schuttelte nur traurig den Kopf und sagte:

»Nein, nein, Haschen, du wirst niemals eine Wei?e Rose.
        Dazu ist es jetzt zu spat.« Da rutschte Rasmus von seinen Knien herunter und ging von ihm weg.

»Pfui Blase, wie dumm du bist, Nicke«, sagte er. »Ich werde bestimmt eine Wei?e Rose, bitte sehr.«
        Nicke ging zur Tur. Jemand hatte nach ihm gerufen. Rasmus sah ihn gehen, und er wu?te, da? er sich beeilen mu?te, wenn er Antwort auf die Frage, die ihn sehr beschaftigte, haben wollte.

»Du, Nicke«, sagte er, »wenn man aus einem Flugzeug spuckt, wie lange dauert es dann, bis die Spucke unten ankommt?«
        Nicke drehte sich um und sah bekummert in das fragende Jungengesicht. »Ich wei? es nicht genau«, sagte er ernst. »Du kannst es ja morgen abend selbst ausprobieren.«
        ZEHNTES KAPITEL
        Eva-Lotte sa? auf ihrer Bank und dachte nach, bi? auf eine Strahne ihres blonden Haares und dachte vollig verzweifelt nach. Und sie kam zu dem Schlu?, da? alles hoffnungslos war. Wie sollte sie, eingesperrt in diesem Kafig, verhindern, da? man Rasmus in ein Flugzeug steckte und aus Schweden wegbrachte? Wer wu?te etwas von den heimlichen Planen, die Peters hatte? Sicher war doch, da? die Hoffnung, die wertvollen Papiere hier im Lande zu erwischen, fur ihn erledigt war. Nun wollte er also den Professor zwingen, die Berechnungen noch einmal, in irgendeinem Laboratorium des Aus-landes, zu machen. Und Rasmus war sein Geisel. Armer kleiner Rasmus, noch hatte er keine Not leiden mussen, aber wie sollte es wohl mit ihm unter einem Haufen von Banditen und Verbrechern im Ausland gehen? Vor ihrem geistigen Auge sah sie den Professor an einem Tisch sitzen und Berechnungen anstellen, wahrend ein greulicher Gefangenenaufseher seine Peitsche uber Rasmus knallen lie? und dazu schrie: »Erfinde! Erfinde oder …!«
        Der Anblick war qualend, und Eva-Lotte stohnte auf.

»Was jammerst du denn da?« fragte Rasmus. »Warum kommt Nicke nicht, um mich rauszuholen? Ich will meine Borkenboote schwimmen lassen.«
        Eva-Lotte wurde nachdenklich. Langsam nahm eine Idee in ihrem Gehirn Form an. Als die Idee fertig war, sprang sie auf und lief zu Rasmus.

»Rasmus«, begann sie, »findest du nicht, da? es heute sehr warm ist?«

»Doch«, sagte Rasmus zustimmend.

»Glaubst du nicht, da? es herrlich ware, baden zu gehen?«
        Rasmus fing Feuer. »Au ja«, rief er und stie? entzuckte Schreie aus, »ja, wir gehen zusammen baden, Eva-Lotte! Ich kann schon funf Sto?e schwimmen.«
        Bewundernd schlug Eva-Lotte die Hande zusammen.

»Das mu? ich sehen«, rief sie. »Dann beeile dich und brulle kraftig nach Nicke Sonst durfen wir ja nicht.«

»Klar«, sagte Rasmus mit gro?er Zuversicht. Er wu?te, was er in dieser Beziehung leisten konnte, wenn es notig war.
        Und als Nicke angelaufen kam, warf sich Rasmus unmittelbar auf ihn: »Nicke durfen wir nicht baden gehen?«

»Baden gehen?« fragte Nicke. »Wozu soll das gut sein?«

»Es ist aber doch so furchtbar warm«, sagte Rasmus. »Wir durfen doch wohl baden gehen, wenn es so warm ist?«
        Eva-Lotte sagte nichts. Sie wu?te, da? es kluger war, diese Angelegenheit vollig Rasmus zu uberlassen.

»Ich kann funf Sto?e schwimmen«, erklarte Rasmus. »Willst du gar nicht sehen, wenn ich funf Sto?e schwimme, Nicke?«

»Na ja, sicherlich«, sagte Nicke. »Aber baden gehen. Nein, ich glaube nicht, da? der Chef das so ohne weiteres erlaubt.«

»Aber ich kann doch keine funf Sto?e schwimmen, wenn ich nicht baden gehe«, sagte Rasmus mit todlicher Logik. »Ich kann doch nicht trockenschwimmen.«
        Damit war fur ihn alles klar. Nicke war sicher nicht so dumm, freiwillig darauf zu verzichten, Rasmus funf Sto?e schwimmen zu sehen. Also steckte er seine kleine Hand in Nickes gro?e Faust und sagte: »Komm also, gehen wir schon!«
        Nicke sah mi?billigend zu Eva-Lotte. »Du gehst nicht mit«, sagte er barsch.

»Doch, Eva-Lotte soll mit, damit sie sehen kann, wie ich funf Sto?e schwimme.«
        Es war schwer fur Nicke, sich gegen die hartnackige Kinder-stimme zu wehren. Er verachtete sich selbst wegen seiner Schwache, aber so weit war es gekommen, da? Rasmus ihn lenkte, wohin er wollte, einfach indem er seine kleine Hand in die seine legte und ihn mit seinen hoffnungsvollen Augen ansah.

»Also gut, von mir aus - kommt!« brummte Nicke.
        Davon also hatte sie getraumt: den schmalen Steg zur Anlegestelle hinunterzulaufen, die Kleider hinter einen Busch zu werfen, denn den Luftanzug trug sie immer darunter, sich kopf-
        uber in das klare Wasser, das im Sonnenschein glitzerte und schimmerte, zu werfen und auf der kleinen Brucke zu liegen, die Augen zu schlie?en und an nichts zu denken. Jetzt aber, als sie das alles durfte, war es fur sie nur ein qualvoller Aufschub, der ihren gro?en Plan hinauszogerte.
        Rasmus dagegen war toll vor Begeisterung. Wie ein frohlicher kleiner Frosch sprang er in dem Wasser am Strand umher.
        Nicke sa? auf der kleinen Anlegebrucke und pa?te auf, und Rasmus bespritzte ihn tuchtig mit Wasser und lachte und schrie und sprang auf und nieder, so da? es um ihn her spruhte. Er schwamm auch, aber dabei war er todernst und hielt die Luft an, bis er knallrot im Gesicht war. Danach atmete er mit gro?em Geschnaufe und brullte Nicke entzuckt zu: »Hast du es jetzt gesehen? Hast du gesehen, da? ich funf Sto?e schwimmen kann?«
        Vielleicht hatte Nicke es gesehen, vielleicht aber auch nicht.

»Du bist schon eine lustige kleine Ordnung, du«, sagte er.
        Mehr sagte er nicht zu Rasmus’ gro?artiger Fertigkeit im Schwimmen - aber war das etwa kein Lob?
        Eva-Lotte lag auf dem Rucken und lie? sich von den Wellen tragen. Sie starrte in den Himmel hinein und wiederholte sich immer wieder: »Ruhig bleiben! Nur ruhig bleiben! Alles geht gut!«
        Richtig uberzeugt war sie davon aber nicht, und als Nicke rief, jetzt ware Schlu? mit dem Baden, fuhlte sie, wie sie vor Spannung bla? wurde.

»Ein wenig durfen wir doch noch im Wasser bleiben, Nik-ke«, sagte Rasmus bittend.
        Eva-Lotte aber hielt es nicht langer aus. Deshalb nahm sie Rasmus auf den Arm und sagte: »Nein, Rasmus, komm, wir gehen!«
        Rasmus strampelte und zappelte und sah hilfesuchend zu Nicke. Aber einmal waren Nicke und Eva-Lotte derselben Meinung.

»Beeilt euch jetzt«, sagte Nicke. »Es ware gut, wenn der Chef erst gar nichts davon wissen wurde.«
        Eva-Lotte zog den sich straubenden Rasmus hinter einige dichte Busche. In fliegender Hast zog sie sich an. Dann kniete sie neben Rasmus nieder, um ihm zu helfen. Seine kleinen Finger hatten so gro?e Schwierigkeiten mit den Knopfen.

»Das ist auch gar nicht so leicht, glaub es mir«, sagte Rasmus. »Es ist schwer, wo die Knopfe doch hinten sitzen, und ich bin hier vorn.«

»Ich werde sie zuknopfen«, sagte Eva-Lotte. Mit leiser Stimme fuhr sie fort:
»Rasmus, du willst doch gern eine Wei?e Rose werden?«

»Ist doch klar«, sagte Rasmus. »Und Kalle hat gesagt, da? …«

»Ja, aber du mu?t dann auch jetzt genau machen, was ich dir sage«, unterbrach ihn Eva-Lotte.

»Was soll ich denn machen?«

»Du sollst mir deine Hand geben, und dann laufen wir hier weg, so schnell wir uberhaupt konnen.«

»Da wird sich aber Nicke argern«, wandte Rasmus bekummert ein.

»Jetzt kummern wir uns einmal nicht um Nicke«, flusterte Eva-Lotte. »Wir wollen rasch fort und die Hutte suchen, die Kalle und Anders gebaut …«

»Kommt ihr bald oder mu? ich euch holen?« rief Nicke von der Anlegestelle heruber.

»Immer ruhig!« schrie Eva-Lotte. »Wir kommen - wann wir kommen!« Dann nahm sie Rasmus’ Hand und flusterte aufgeregt: »Lauf, Rasmus, lauf!«
        Und Rasmus lief, so schnell ihn seine funfjahrigen Beinchen tragen konnten. Mitten zwischen die Tannen liefen sie. Rasmus strengte sich sehr an, mit Eva-Lotte gleichen Schritt zu halten.
        Sie sollte doch sehen, welch eine gute Wei?e Rose er war. Und er keuchte, wahrend er rannte:

»Na, jedenfalls war es gut, da? Nicke gesehen hat, da? ich funf Sto?e schwimmen kann!«
        ELFTES KAPITEL
        Die Sonne begann zu sinken, und Rasmus war mude. Seit mehreren Stunden tat er nun schon etwas, was ihm gar nicht gefiel.

»Es sind viel zu viele Baume in diesem Wald«, sagte er mi?mutig. »Und wann kommen wir blo? zu der Hutte?«
        Eva-Lotte wunschte nichts mehr, als ihm darauf antworten zu konnen. Sie war einer Meinung mit Rasmus: Es gab zu viele Baume in diesem Wald. Und zu viele kleine Felsen, uber die man klettern mu?te, zu viele Kuhlen, in die man hineinstolper-te, und allen moglichen anderen Kram, der einem den Weg versperrte, zu viele Zweige und Aste und Busche, die einem die Beine zerkratzten. Und dann viel zuwenig kleine selbstgebaute Hutten. Zwar war es nur eine einzige kleine Hutte, nach der sie sich sehnte, aber die war ja nicht zu finden. Eva-Lotte fuhlte den Mi?mut in sich aufsteigen. Sie hatte es sich so einfach vorgestellt, die Hutte zu finden, aber jetzt zweifelte sie daran, ob sie sie jemals finden wurde. Und wenn sie sie fand - waren Anders und Kalle uberhaupt da? Waren sie zur Insel zuruckgekommen, nachdem sie die Geheimdokumente gefunden hatten? Tausend Dinge konnten inzwischen passiert sein, tausend Dinge konnten sie an der Ruckkehr gehindert haben. War es nicht moglich, da? sie ganz allein auf der Insel waren, Rasmus und sie - und die Kidnapper? Eva-Lotte fror bei dem Gedanken. Lieber, lieber Anders,
bester guter Kalle, seid doch bitte in der Hutte, betete sie leise und verzweifelt. Und la? sie mich endlich finden, endlich.

»Nur Blaubeeren und Blaubeeren«, sagte Rasmus und sah bose auf das Blaubeerenkraut, das ihm weit uber die Knie reichte. »Ich mochte etwas gebratenen Speck haben.«

»Ich begreife dich«, sagte Eva-Lotte, »aber in den Waldern wachst noch kein gebratener Speck.«

»Sssss«, machte Rasmus und druckte damit sein Mi?fallen an der jetzigen Ordnung der Dinge aus. »Und dann mochte ich meine Borkenboote haben.« Und damit war er bei einem Thema, das ihn bereits den ganzen Weg beschaftigt hatte. Warum hatte er nicht seine Borkenboote mitnehmen durfen?

»Kleines Untier«, dachte Eva-Lotte. Hatte sie sich deswegen in wilde Gefahren gesturzt, wollte sie ihn unter furchtbaren Abenteuern retten, nur damit er hier neben ihr hertrabte und nach gebratenem Speck und seinen Borkenbooten jammerte?
        Aber schon bevor sie diese Gedanken zu Ende gedacht hatte, tat es ihr leid, und impulsiv nahm sie Rasmus in die Arme. Er war doch noch so klein … und so mude und hungrig - ganz naturlich, da? er da quengelte.

»Versteh doch bitte, Rasmus«, sagte sie zartlich. »Deine Borkenboote habe ich wirklich vergessen.«

»Dann finde ich, da? du blod bist!« sagte Rasmus unbarmherzig.
        Und dann setzte er sich einfach zwischen die Blaubeerstraucher. Er wollte nicht mehr weitergehen. Kein Flehen half. Vergeblich bettelte Eva-Lotte - vielleicht lag die Hutte schon ganz in der Nahe, sagte sie, vielleicht brauchten sie nur noch ein kleines, kleines Stuck zu gehen!

»Ich will nicht«, sagte Rasmus, »meine Beine sind so schlafrig.«
        Einen Augenblick lang uberlegte Eva-Lotte, ob sie den Tranen, die irgendwo in ihrer Kehle bereitsa?en, freien Lauf lassen sollte. Dann bi? sie die Zahne zusammen. Sie setzte sich auch, lehnte den Rucken an einen gro?en Stein und zog Rasmus an sich.

»Setz dich zu mir und ruh dich ein wenig aus, Rasmus«, sagte sie.
        Mit einem Seufzer streckte sich Rasmus in dem weichen Moos aus und legte seinen Kopf in Eva-Lottes Scho?. Mude blinzelte er Eva-Lotte an. Es sah aus, als habe er die Absicht, sich nie mehr von der Stelle zu ruhren. Eva-Lotte dachte: La? ihn ein Weilchen schlafen, dann geht es nachher sicher besser vorwarts! Sie nahm seine Hand, und er uberlie? sie ihr, ohne etwas zu sagen. Dann begann sie, ihm etwas vorzusingen. Er versuchte zwinkernd, die Augen aufzubehalten, und folgte mit den Blicken einem Schmetterling, der uber den Strauchern da-hinschwebte.

»Blaubeeren wachsen in unserem Wald, Blaubeeren …« sang Eva-Lotte leise.
        Aber da protestierte Rasmus. »Es ware besser, wenn du singen wurdest: Gebratener Speck wachst in unserem Wald, gebratener …« Und dann schlief er ein.
        Eva-Lotte seufzte. Sie wunschte, auch schlafen zu konnen.
        Sie wunschte einzuschlafen und dann zu Hause in ihrem Bett aufzuwachen, um zu entdecken, da? all das Furchtbare nur ein Traum gewesen war. Voller Sorge und unruhig sa? sie da und fuhlte sich sehr, sehr einsam.
        Da horte sie in der Entfernung Stimmen. Stimmen, die sich naherten und die sie kannte, und kurz danach den Laut von zer-brechenden Asten, die jemand zertrat. Da? man einen solchen Schreck bekommen konnte! Ohne davon zu sterben! Nein, man starb nicht, wurde vom Schreck nur so gelahmt, da? man kein Glied ruhren konnte und nur fuhlte, wie das Herz wild und qualend in der Brust trommelte. Es waren Nicke und Blom, die zwischen den Baumen naher kamen. Dieser Svanberg war sicher auch dabei.
        Es gab nichts, was sie hatte tun konnen. Rasmus schlief. Sie konnte ihn nicht wecken und davonlaufen. Damit war nichts erreicht. Weit wurden sie nicht kommen. Man konnte also ebensogut sitzenbleiben und abwarten, da? man gefangen wurde.
        Jetzt waren sie so dicht herangekommen, da? Eva-Lotte verstehen konnte, was sie redeten.

»Noch nie habe ich Peters so rasend gesehen«, sagte Blom.

»Und das wundert mich gar nicht. Du bist eine ziemliche Nu?, Nicke.«
        Nicke brummte. »Das war dieses Madchen«, sagte er. »Mit der mochte ich jetzt mal ein passendes Wortchen reden. Warte nur, bis ich sie erwischt habe.«

»Das kann ja nicht mehr so lange dauern«, meinte Blom.

»Auf der Insel mussen die beiden ja noch sein.«

»Sei nur ruhig«, sagte Nicke. »Ich werde sie schon finden, und wenn ich jeden Busch einzeln durchsuchen sollte.«
        Eva-Lotte schlo? die Augen. Zehn Schritte waren sie noch von ihr entfernt, und sie wollte sie nicht sehen. Sie hielt die Augen geschlossen und wartete. Wenn sie sie doch nur schnell packen wurden, dann konnte sie doch endlich losweinen - darauf hatte sie schon so lange gewartet.
        Sie sa?, mit dem Rucken an den gro?en moosbewachsenen Stein gelehnt, hielt die Augen geschlossen und horte hinter diesem Stein die Stimmen. So nahe! Bald darauf nicht mehr ganz so nahe, gar nicht mehr so nahe.
        Gingen sie fort? Schwacher und schwacher wurden die Stimmen, bis sie schlie?lich nicht mehr horbar waren und es so verwunderlich still um sie her wurde. Nur ein kleiner Vogel zwitscherte einsam in einem Busch. Lange, lange sa? sie im Moos. Sie wagte nicht, sich zu ruhren. Sie wollte nur noch sitzenbleiben, ohne jede Bewegung, und sich in diesem Leben nichts mehr vornehmen.
        Schlie?lich wachte Rasmus auf, und Eva-Lotte begriff, da? sie sich zusammennehmen mu?te.

»Komm jetzt, Rasmus«, sagte sie, »wir konnen nicht langer hier sitzen bleiben.«
        Unruhig sah sie sich um. Die Sonne schien nicht mehr. Gro-
        - e, dunkle Wolken segelten am Himmel dahin. Es zog sich wohl zu einem Abendregen zusammen. Die ersten schwachen Tropfen fielen bereits.

»Ich will zu meinem Vati«, sagte Rasmus. »Ich will nicht mehr im Wald bleiben, ich will zu meinem Vati gehen!«

»Wir konnen jetzt nicht zu deinem Vati«, sagte Eva-Lotte verzweifelt. »Wir mussen versuchen, Kalle und Anders zu finden, sonst wei? ich nicht, wie es mit uns weitergehen soll!«
        Sie bahnten sich ihren Weg durch die Blaubeerstraucher, und Rasmus folgte ihr knurrend wie ein kleiner Hund.

»Ich will was zu essen haben«, schimpfte er. »Und dann will ich meine Borkenboote haben.«
        Eva-Lotte sagte nichts mehr, sie schwieg. Da horte sie hinter sich bitterliches Schluchzen. Sie wandte sich um und sah die kleine ungluckliche Gestalt, die dort zwischen den Blaubeeren stand und mit zitterndem Mund gro?e Tranen weinte.

»O Rasmus, weine bitte nicht«, bat Eva-Lotte, obwohl sie selbst nichts lieber getan hatte. »Weine nicht! Lieber kleiner Rasmus, warum weinst du denn?«

»Ich weine, weil …« schluckte Rasmus. »Ich weine, weil doch … weil doch Mutti in Indien ist!«
        Auch wer eine Wei?e Rose werden wollte, durfte ja schlie?lich weinen, wenn die Mutti in Indien war.

»Ja, aber sie kommt doch bald wieder«, sagte Eva-Lotte trostend.

»Deshalb weine ich aber trotzdem«, schrie Rasmus trotzig.

»Weil ich vergessen habe, schon fruher deswegen zu weinen, dumme Eva-Lotte!«
        Der Regen nahm zu. Unbarmherzig und kalt stromte er herunter und hatte bald ihre dunnen Kleider durchna?t. Gleichzeitig wurde es immer dunkler. Die Schatten zwischen den Baumen waren tief. In Kurze wurden sie keinen Schritt weit mehr sehen konnen. Sie stolperten weiter, na?, ohne Hoffnung, hungrig und verzweifelt.

»Ich will nicht im Wald sein, wenn es dunkel ist«, weinte Rasmus. »Stell dir vor, da? ich das nicht will …«
        Eva-Lotte strich sich ein paar Wassertropfen aus dem Gesicht. Vielleicht waren auch Tranen dabei. Sie blieb stehen. Sie druckte Rasmus an sich und sagte mit zitternder Stimme:

»Rasmus, eine Wei?e Rose mu? doch tapfer sein. Jetzt sind wir beide Wei?e Rosen und wollen zusammen etwas Gro?artiges machen.«

»Was denn?« fragte Rasmus.

»Wir werden unter eine Tanne kriechen und dort bis zum Morgen schlafen.«
        Der kleine zukunftige Ritter der Wei?en Rose schrie, als sa?e ein Messer in ihm.

»Ich will nicht im Wald sein, wenn es dunkel ist! Horst du es, dumme Eva-Lotte, ich will nicht! - Ich will nicht! Ich will nicht.«

»Aber in unserer Hutte mochtest du doch sicher sein?«
        Kalles Stimme sagte das. Kalles ruhige, sichere Stimme. Sie war schoner als die eines Erzengels, fand Eva-Lotte. Nicht weil sie schon einen Erzengel gehort oder gesehen hatte, nein, weil sie sicher war, da? er, trotz all seiner Gro?e und Herrlichkeit, sich niemals mit Kalle, der ihnen dort mit einer Taschenlampe aus dem Dunkel entgegenkam, messen konnte.
        Die Tranen drangten sich aus Eva-Lottes Augen. Aber nun durften sie gerne kommen.

»Kalle, bist du es … bist du es wirklich … wirklich du?« sagte sie schluchzend.

»Wie in aller Welt seid ihr hierhergekommen?« fragte Kalle.

»Seid ihr geflohen?«

»Und ob«, sagte Eva-Lotte. »Den ganzen Tag lang!«

»Ja, wir sind geflohen, damit ich eine Wei?e Rose werden kann«, versicherte Rasmus.

»Anders!« schrie Kalle. »Anders, komm her, ich will dir ein Wunder zeigen! Eva-Lotte und Rasmus sind hier!«
        Sie sa?en in der Hutte auf den Tannenzweigen und waren sehr glucklich. Es regnete noch immer, und das Dunkel zwischen den Baumen drau?en war noch schwarzer geworden.
        Aber was tat das? Hier drinnen war es mollig und warm, sie hatten trockene Kleider: Das Leben war nicht mehr so sauer und widerwartig wie noch vor kurzem. Das kleine blaue Feuer von Kalles Spirituskocher flackerte munter unter dem Topf mit hei-
        - em Kakao, und Anders schnitt Brot zu ganzen Scheibenbergen.

»Es ist so schon, da? man es gar nicht glaubt«, sagte Eva-Lotte mit einem zufriedenen Seufzer. »Ich bin trocken, mir ist warm, und wenn ich noch so drei, vier, funf, sechs Butterbrote essen darf, werde ich auch satt sein.«

»Aber ich mochte mehr gebratenen Speck haben«, sagte Rasmus. »Und mehr Kakao.«
        Er streckte seinen Becher vor und bekam ihn nachgefullt. Er trank den warmen Kakao in tiefen, genie?erischen Schlucken, ohne mehr als einige Tropfen auf Kalles Trainingsoverall zu verschutten. Der Overall, den er bekommen hatte, war ihm viel zu gro?, und er verschwand fast in der schonen wolligen Warme. Zufrieden zog er die Zehen ein, damit auch nicht das kleinste Stuck von ihm drau?en war und etwa frieren mu?te. Oh, wie war das alles herrlich, diese Hutte und der Overall und die Schinkenbrote - alles war herrlich.

»Jetzt bin ich wohl beinahe eine Wei?e Rose?« fragte er neugierig zwischen dem Kauen.

»Na, viel fehlt da nicht«, versicherte Kalle.
        Er selbst war in diesem Moment so zufrieden und glucklich, wie nur ein Mensch sein konnte. Unvorstellbar, wie sich alles eingerenkt hatte! Rasmus gerettet, die Papiere gerettet, bald sollte der ganze Alpdruck vorbei sein.

»Morgen fruh nehmen wir das Boot und rudern Rasmus zum Festland«, sagte er. »Dann rufen wir Onkel Bjork an, damit die Polizei den Professor rettet. Dann bekommt der Professor seine Geheimpapiere …«

»Und dann sollen die Roten davon zu horen bekommen, da? ihnen die Ohren abfallen«, erganzte Anders.

»Wo sind die Geheimpapiere ubrigens?« fragte Eva-Lotte neugierig.

»Ich habe sie versteckt«, sagte Kalle. »Und ich denke nicht daran zu erzahlen, wo.

»Warum denn?«

»Es ist besser, wenn nur einer das wei?«, sagte Kalle. »Noch sind wir nicht ganz in Sicherheit. Und solange wir das nicht sind, sage ich auch nichts.«

»Ja, und das ist gut so«, sagte Anders. »Morgen werden wir es erfahren. Stellt euch vor, morgen sind wir zu Hause! Das wird sehr schon sein, tatsachlich!«
        Rasmus war anderer Meinung.

»Es ware viel schoner, hier in der Hutte zu sein«, sagte er.

»Ich mochte immer, immer und immer hierbleiben. Einige Tage konnten wir doch noch hierbleiben.«

»Nein, danke bestens«, sagte Eva-Lotte und entsann sich mit einem Schaudern der Minuten im Wald mit Nicke und Blom hinter sich. Es kam darauf an, sobald es hell wurde, schnellstens von der Insel fortzukommen. Jetzt waren sie noch durch die Dunkelheit geschutzt. Kam erst der Tag, waren sie vogelfrei.
        Nicke hatte doch gesagt, da? er jeden Busch auf der Insel durchsuchen wollte, und Eva-Lotte hatte nicht die geringste Lust zu bleiben, bis er zu Ende gesucht hatte.
        Langsam horte der Regen auf, und das kleine Stuck Himmel, das durch die Offnung in der Hutte sichtbar war, uberzog sich mit Sternen.

»Ich brauche noch etwas frische Luft, bevor ich einschlafe«, sagte Anders und kroch hinaus. Kurze Zeit danach rief er die anderen. »Kommt, dann konnt ihr etwas sehen!«

»Du kannst doch wohl im Dunkeln nichts sehen«, rief Eva-Lotte.

»Ich sehe die Sterne«, sagte Anders.
        Eva-Lotte und Kalle sahen sich an.

»Er ist doch nicht etwa sentimental geworden?« fragte Kalle beunruhigt. »Es ist besser, wir kummern uns um ihn.«
        Sie zwangten sich durch die enge Offnung nach drau?en.
        Rasmus zogerte. Hier in der Hutte war es hell. Kalle und Anders hatten ihre Taschenlampen an die Decke gehangt. Hier war es hell und warm, drau?en war es dunkel, und vom Dunkel hatte er genug. Aber er zogerte nicht lange. Wo Eva-Lotte und Kalle waren, da wollte er auch sein. Auf allen vieren kroch er durch die Offnung. Wie ein kleines Tierchen sah er aus, wie ein Tierchen, das in der Nacht vorsichtig seine Nase aus dem Nest steckt.
        Drau?en standen sie dicht beieinander und ganz still. Still standen sie unter den Sternen, die dort oben auf einem tief-schwarzen Himmel brannten. Sie hatten kein Verlangen zu reden, standen nur beieinander und horchten in die Dunkelheit hinein. Das dumpfe Sauseln der schlafenden Walder hatten sie nie zuvor gehort. Es war eine seltsame Melodie, und ihnen war wunderlich zumute.
        Rasmus schob seine Hand in Eva-Lottes Hand. Das hier war etwas, was er noch nie erlebt hatte, und es machte ihn froh und angstlich zugleich. So angstlich, da? er eine Hand in seiner Hand spuren wollte. Aber plotzlich fuhlte er, wie ihm alles gefiel. Ihm gefielen die Walder, auch wenn es dunkel war und so eigenartig in den Baumen rauschte, ihm gefielen die kleinen Wellen, die an die Klippen schlugen, und ihm gefielen die Sterne. Die Sterne am allerbesten. Er bog seinen Kopf nach hinten und starrte gerade hinauf zu den freundlichen Sternen. Und er druckte Eva-Lottes Hand und sagte mit traumerischer Stimme:

»Denk nur, wie schon es im Himmel sein mu?, wenn er schon auf der Au?enseite so schon ist!«
        Niemand antwortete. Niemand sagte ein einziges Wort. Nur Eva-Lotte beugte sich zu Rasmus und schlang die Arme um ihn.
        So standen sie still.

»Jetzt, Rasmus, sollst du schlafen«, sagte Eva-Lotte endlich.

»Du sollst in einer kleinen Hutte im gro?en Wald schlafen.
        Wird das nicht wunderbar sein?«

»Klar!« sagte Rasmus aus tiefster Uberzeugung.
        Und als er etwas spater zu Eva-Lotte in den Schlafsack gekrochen war und dalag und sich erinnerte, da? er beinahe schon eine Wei?e Rose war, seufzte er tief auf vor innerer Zufriedenheit. Er bohrte seine Nase in Eva-Lottes Arm und fuhlte, da? er jetzt schlafen wollte. Er wurde Vati genau erzahlen, wie schon es doch war, nachts in Hutten aus Tannenreisig zu schlafen. Es war jetzt dunkel. Kalle hatte die Taschenlampen ausgeloscht, aber Eva-Lotte war dicht bei ihm, und die freundlichen Sterne dort drau?en blinkten sicher weiterhin am Himmel.

»Wie ware es doch bequem in diesem Schlafsack, wenn du nicht hier liegen und drangeln wurdest«, sagte Anders und gab Kalle einen Puff.
        Kalle gab den Puff zuruck. »Wie traurig, da? wir nicht daran gedacht haben, fur dich ein Doppelbett mitzunehmen«, sagte er. »Aber trotzdem gute Nacht!«
        Funf Minuten spater schliefen sie alle, tief und sorglos und ohne Angst vor dem kommenden Tag.
        ZWOLFTES KAPITEL
        Bald wurden sie hier fort sein. In einigen Minuten nur wurden sie hier fort sein und diese Insel nie mehr sehen. Kalle wartete einen Augenblick, bevor er in das Boot sprang. Er blickte sich um. Das also war ihre Heimat wahrend einiger unruhiger Tage und Nachte gewesen. Dort war ihre Badeklippe, sie sah so einladend aus im ersten Fruhlicht. In der Mulde dort hinten lag die Hutte. Sehen konnte er sie von hier aus nicht, aber er wu?te, da? sie dort lag und da? sie leer und verlassen war und ihnen niemals mehr ein Heim sein sollte.

»Kommst du irgendwann einmal?« sagte Eva-Lotte nervos.

»Ich mochte hier wegfahren. Das ist das einzige, was ich will.«
        Sie sa? auf dem Steuersitz, und Rasmus sa? neben ihr. Schneller als jeder andere wollte sie von hier weg. Jede Sekunde war kostbar, das wu?te sie. Sie konnte sich gut vorstellen, wie wutend Peters uber ihre Flucht sein mu?te und da? er das Letzte versuchen wurde, sie wieder in seine Hande zu bekommen. Deshalb war Eile notig, das wu?ten sie alle, Kalle auch. Mit einem Sprung war er im Boot, wo Anders schon fertig zum Rudern sa?.

»Na also dann«, sagte Kalle. »Dann sind wir wohl klar.«

»Ja, wir sind klar«, sagte Anders und begann zu rudern. Aber schnell bremste er wieder ab und machte eine kummervolle Miene. »Es ist nur blo? … na ja, kurz und gut, ich habe meine Taschenlampe vergessen«, sagte er. »Ja, ja, ja, ich wei?, da? ich schlampig bin. Aber es genugen einige Sekunden, dann habe ich sie wieder.«
        Er sprang bei der Badeklippe an Land und verschwand.
        Sie warteten. Sehr unruhig zuerst. Und nach einem Weilchen au?ergewohnlich unruhig. Nur Rasmus sa? vollkommen ungeruhrt da und spielte mit den Fingern im Wasser.

»Wenn er nicht gleich kommt, schreie ich«, sagte Eva-Lotte.

»Sicher hat er ein Vogelnest oder so etwas gefunden«, sagte Kalle bitter. »Du, Rasmus, lauf und sag ihm, das Boot fahrt ab!«
        Gehorsam kletterte Rasmus aus dem Boot. Sie sahen, wie er mit kurzen kleinen Sprungen den Felsen emporlief.
        Sie warteten. Warteten und warteten und starrten ungeduldig auf den Felsbuckel, wo wohl bald die Verschwundenen auftauchen mu?ten. Es kam aber niemand. Der Felsen lag ode vor ihnen, als hatte noch nie ein menschlicher Fu? ihn betreten. Ein morgenfrischer Barsch stand dicht am Boot, und es raschelte leise im Schilf am Ufer. Sonst war alles still. Unheilverkundend still, fanden sie plotzlich.

»Um des lieben Friedens willen, was machen die beiden nur?«
        fuhr Kalle unruhig auf. »Ich glaube, ich mu? hin und nachsehen.«

»Dann gehen wir beide«, sagte Eva-Lotte. »Ich traue mich nicht, hier allein zu sitzen und zu warten.«
        Kalle machte das Boot fest, und sie sprangen an Land. Liefen den Felsen hinauf, wie Anders es getan hatte. Und wie Rasmus es getan hatte. Dort lag die Hutte in der Mulde. Kein Mensch war zu sehen, keine Stimme zu horen. Nur diese unheimliche Stille …

»Wenn das einer der ublichen Scherze von Anders ist«, sagte Kalle und kroch in die Hutte, »dann schlage ich ihn kurz und …«
        Mehr sagte Kalle nicht. Eva-Lotte, zwei Schritte hinter ihm, horte nur einen halb erstickten Ruf, und sie schrie wild und verzweifelt: »Was ist los, Kalle, was ist los?«
        Im selben Augenblick fuhlte sie eine harte Hand im Genick und horte eine wohlbekannte Stimme im Ohr:

»Satansbalg, nun hast du wohl fertig gebadet, was?«
        Es war Nicke, puterrot im Gesicht vor Wut. Und aus der Hutte kamen Blom und Svanberg. Drei Gefangene brachten sie mit, und Eva-Lottes Augen fullten sich mit Tranen, als sie sie sah. Das war das Ende. Alles war jetzt vorbei. Alles war vergebens gewesen. Jetzt konnte man sich ebensogut ins Moos legen und sofort sterben.
        Es schnitt ihr ins Herz, als sie Rasmus sah. Er war vollkommen wild und machte verzweifelte Anstrengungen, einen Stoff-lappen, der ihn am Schreien hinderte, aus seinem Mund herauszubekommen. Nicke sprang hinzu, um ihm zu helfen, aber er fand keinen Dank dafur bei Rasmus. Sobald er den Mund frei hatte, spuckte er wutend nach Nicke und schrie:

»Du bist blod, Nicke! Pfui Blase, wie bist du doch blod! Pfui Blase!«
        Es wurde eine bittere Ruckkehr. So mu?ten sich geflohene Kettenstraflinge im Dschungel fuhlen, wenn sie zur Teufelsinsel zuruckgeschleppt wurden, dachte Kalle und ballte die Fauste. Es war auch ein richtiger Gefangenentransport. Sie waren alle mit einem Strick aneinandergebunden, er und Eva-Lotte und Anders.
        Neben ihnen ging Blom, ein Gefangenenaufseher von der aller-
        ubelsten Sorte, und hinter ihnen Nicke. Er trug Rasmus, der nicht aufhorte zu versichern, da? er Nicke entsetzlich blod fande.
        Svanberg hatte ihre Sachen aus dem Boot genommen, und nun waren sie auf dem Weg zuruck in das Lager der Kidnapper.
        Nicke schien bei sehr schlechter Laune zu sein. Dabei hatte er doch eigentlich zufrieden sein mussen, mit seinem Fang zu Peters zuruckzukommen. Aber er ging hinter ihnen und schimpfte und fluchte vor sich hin.

»Verflixtes Gorenzeug! Warum habt ihr das Boot genommen? Habt wohl gedacht, wir merken es nicht, wie? Und wenn ihr nun schon das Boot hattet, warum seid ihr auf der Insel geblieben, ihr Idioten?«
        Ja, warum hatten sie das getan? dachte Kalle bitter. Warum waren sie nicht schon gestern abend, obschon Rasmus mude war und es regnete und dunkel war, zum Festland hinubergerudert?
        Warum waren sie nicht rechtzeitig von dieser Insel verschwunden? Nicke hatte recht - sie waren schon Idioten. Aber es war doch seltsam, da? ausgerechnet er sich daruber argerte und es ihnen vorhielt. Er schien wirklich nicht besonders erfreut davon, sie wieder eingefangen zu haben.

»Ich finde, Kidnapper sind uberhaupt nicht nett«, sagte Rasmus.
        Nicke antwortete nicht, guckte nur bose und schimpfte weiter.

»Und warum habt ihr die Papiere genommen, wie? Ihr beiden Schafskopfe da vorne, warum habt ihr die Papiere gestohlen?«
        Die beiden Schafskopfe antworteten nicht. Und sie schwiegen auch spater, als Peters sie dasselbe fragte.
        Sie sa?en jeder auf einer Bank in Eva-Lottes Hauschen und waren so niedergeschlagen, da? sie nicht einmal mehr Angst vor Peters hatten, obwohl er alles versuchte, um sie zu angstigen.

»Das sind Sachen, von denen ihr nichts versteht«, sagte er,

»und ihr hattet euch niemals einmischen durfen. Es wird euch sehr schlechtgehen, wenn ihr nicht erzahlt, wo ihr die Papiere gestern abend gelassen habt.« Seine schwarzen Augen sahen sie kalt an, und er zischte: »Na, wird’s bald! Heraus damit! Wo habt ihr die Dokumente gelassen?«
        Sie antworteten nicht. Das schien gerade die richtige Art und Weise zu sein, um Peters zur Raserei zu bringen, denn er sturzte sich auf Anders, als ob er ihn ermorden wollte. Mit beiden Handen fa?te er ihn am Kopf und schuttelte ihn wild.
»Wo sind die Papiere?« schrie er. »Antworte, sonst drehe ich dir das Genick um!«
        Da griff Rasmus ein. »Jetzt bist du doch aber reichlich blode«, sagte er. »Anders wei? ja gar nicht, wo die Papiere sind. Das wei? nur Kalle. Es ist namlich besser, sagt Kalle, wenn es nur einer wei?.«
        Peters lie? Anders los und sah Rasmus an.

»Soso, meinst du«, sagte er. Dann wandte er sich an Kalle.

»Kalle, glaube ich, bist ja wohl du! Und nun hor mal zu, mein lieber Kalle! Du bekommst eine Stunde Bedenkzeit. Eine Stunde und keinen Fatz mehr. Danach wird etwas uberaus Unangenehmes mit dir geschehen. Schlimmer als alles, was du jemals vorher erlebt hast, verstehst du das?«
        Kalle sah so uberlegen aus, wie Meisterdetektiv Blomquist immer in derartigen Situationen auszusehen pflegte. »Versu-chen Sie nur nicht, mich zu erschrecken, denn das konnen Sie gar nicht«, sagte er. In Gedanken sprach er fur sich selbst weiter: »Denn ich bin bereits so erschrocken, wie man nur sein kann.«
        Peters zundete sich eine Zigarette an, und seine Hande zitterten dabei. Prufend sah er Kalle an, bevor er weitersprach:

»Ich wei? nicht, ob du intelligent genug bist, mir zu folgen.
        Solltest du es sein, dann wende von mir aus deine Intelligenz an.
        Vielleicht begreifst du dann, worum es geht. Es handelt sich um folgendes: Aus gewissen Grunden, die ich dir nicht naher erlau-tern will, habe ich mich auf eine Sache geworfen, die so unge-setzlich ist, wie etwas nur sein kann. Ich rechne mit lebenslang-lichem Gefangnis, wenn ich in Schweden bleibe, und deshalb gedenke ich nicht eine Sekunde langer, als notig ist, hier zu bleiben. Ich werde mich ins Ausland begeben, und ich will diese Geheimdokumente mit mir nehmen. Begreifst du jetzt? Du bist doch wohl nicht zu dumm, um zu verstehen, da? ich alles, aber auch alles - sei es, was es sei - tun werde, um aus dir herauszu-pressen, wo die Papiere sind.«
        Kalle nickte. Er verstand sehr gut, da? Peters vor nichts zuruckschrecken wurde. Und er verstand auch, da? er selbst bald gezwungen sein wurde, aufzugeben und das Geheimnis zu verraten. Wie sollte auch ein Junge wie er sich auf die Dauer gegen einen so vollkommen gewissenlosen Gegner wie Peters halten konnen? Aber eine Stunde Bedenkzeit hatte er bekommen, und die wollte er ausnutzen. Er wollte nicht aufgeben, bevor er alle Moglichkeiten erwogen hatte.

»Ich will mir die Sache uberlegen«, sagte er kurz, und Peters nickte.

»Gut«, sagte er. »Uberlege eine Stunde! Und wende deine Intelligenz an, wenn du welche hast!«
        Er ging, und Nicke, der die ganze Zeit mit bitterer Miene dagestanden und die Gesprache angehort hatte, folgte ihm zur Tur. Aber als Peters verschwunden war, drehte sich Nicke um und ging zu Kalle. Er sah nicht langer verbittert aus. Beinahe bittend sah er Kalle an und sagte mit leiser Stimme: »Erzahl doch dem Chef, wo die Papiere sind, ja. Damit endlich einmal Schlu? wird mit diesem ganzen Elend hier. Kannste doch machen, wie? Schon wegen Rasmus, wie?«
        Kalle antwortete nicht, und Nicke ging. In der Tur drehte er sich um und sah betrubt zu Rasmus hinuber.

»Ich will dir nachher ein neues Borkenboot schnitzen«, sagte er. »Ein viel, viel gro?eres …«

»Ich will kein Borkenboot haben«, sagte Rasmus erbarmungslos. »Und ich finde auch nicht, da? Kidnapper nett sind.«
        Dann waren sie sich selbst uberlassen. Sie horten, wie Nicke den Schlussel im Schlo? umdrehte. Dann horten sie nur noch von drau?en her das Rauschen in den Kronen der Baume.

»Toll, wie der Wind starker wird«, sagte Anders, als sie eine lange Zeit stumm dagesessen hatten.

»Ja, ganz schoner Wind«, sagte Eva-Lotte und sah zu Kalle.

»Eine Stunde«, sagte sie. »In einer Stunde wird er wieder hier sein. Was sollen wir tun, Kalle?«

»Du wirst erzahlen mussen, wo du sie versteckt hast«, sagte Anders. »Sonst bringt er dich um.«
        Kalle zog sich an den Haaren. »Wende deine Intelligenz an«, hatte Peters gesagt. Kalle war entschlossen, es zu tun. Moglich, da? man - wenn man den Verstand ordentlich anstrengte -doch etwas ausdenken konnte, um aus dieser Falle zu schlupfen.

»Wenn ich fliehen konnte«, sagte er nachdenklich. »Es ware gut, wenn ich fliehen konnte …«

»Ja, und wenn du den Mond herunterholen konntest, das ware auch gut«, sagte Anders.
        Kalle antwortete nicht. Er dachte nach. »Hort mal«, sagte er schlie?lich. »So um diese Zeit kommt doch Nicke immer mit dem Essen!«

»Gewi?«, sagte Eva-Lotte. »Zumindest bekamen wir immer Fruhstuck um diese Zeit. Kann aber auch sein, da? der Peters uns jetzt tothungern will.«

»Uns vielleicht, aber Rasmus nicht«, sagte Anders. »Nicke la?t doch Rasmus nicht verhungern!«

»Stellt euch vor, wenn wir uns alle auf Nicke sturzen - alle auf einmal«, sagte Kalle. »Wenn er mit dem Essen kommt.
        Glaubt ihr nicht, da? ihr euch so lange an ihn klammern konnt, bis ich geflohen bin?«
        Eva-Lottes Gesicht leuchtete auf. »Das geht«, sagte sie. »Ich bin sicher, da? es geht. Oh, ich werde endlich Nicke auf den Schadel schlagen! Wie habe ich mich danach gesehnt!«

»Ich werde Nicke auch auf den Schadel schlagen«, sagte Rasmus entzuckt. Als er sich aber an den Flitzbogen und an die Borkenboote erinnerte, setzte er nachdenklich hinzu: »Trotzdem, so doll werde ich ihn trotzdem nicht schlagen. Er ist ja doch nett …«
        Die anderen horten nicht auf ihn. Nicke konnte jederzeit kommen, und es galt, bereit zu sein.

»Was willst du nachher machen, Kalle?« fragte Eva-Lotte aufgeregt. »Ich meine, wenn du geflohen bist?«

»Ich werde zum Festland schwimmen und die Polizei holen.
        Der Professor kann sagen, was er will. Wir mussen die Polizei zur Hilfe holen! Das hatten wir schon viel eher tun mussen!«
        Eva-Lotte schauderte zusammen. »Jaja«, sagte sie. »Nur wei? keiner, was Peters tun wird, bevor die Polizei die Insel erreicht hat.«

»Schsch!« machte Anders warnend. »Jetzt kommt Nicke.«
        Lautlos sprangen sie zur Tur und stellten sich neben ihr zu beiden Seiten auf. Sie horten Nickes Schritte naher kommen, und sie horten das Klappern des Blechtabletts, das er trug. Sie horten, wie sich der Schlussel im Schlo? drehte, und sie spannten jeden Nerv und jeden Muskel in ihrem Korper. Jetzt - jetzt galt es!

»Hier bringe ich Ruhrei fur dich, kleiner Rasmus«, rief Nik-ke, wahrend er offnete. »Das magst du doch …«
        Er bekam nie heraus, ob Rasmus Ruhrei mochte. Denn in dieser Sekunde sturzten sie sich uber ihn. Das Blechtablett fiel polternd zu Boden, und das Ruhrei spritzte umher. Sie hangten sich an seine Arme und Beine, warfen ihn um, schlugen ihn, krabbelten uber ihn, sa?en auf ihm, zogen ihn an den Haaren und druckten seinen Kopf auf den Boden. Nicke brummte wie ein verwundeter Lowe, und mit kleinen, kurzen Freudenschrei-en hupfte Rasmus um die Kampfenden herum. Das war ja schon fast der Krieg der Rosen, und er sah es als seine Pflicht an mitzumachen.
        Er zogerte etwas, denn Nicke war ja trotz allem sein Freund.
        Aber nach kurzer Uberlegung ging er vor und gab ihm einen ordentlichen Tritt in den Hintern. Anders und Eva-Lotte kampften wie nie zuvor, und Kalle sprang blitzschnell aus der Tur. Alles war in wenigen Sekunden vor sich gegangen. Nicke hatte Riesenkrafte, und als er sich von der Uberraschung erholt hatte, brauchte er nur mit den Armen zu schutteln, um wieder frei zu sein. Verwirrt und bose stand er auf und sah sofort, da? Kalle verschwunden war. Er sprang zur Tur und wollte sie offnen. Aber die Tur war verschlossen.
        Einen Augenblick stand er da und starrte wie blode die Tur an.
        Dann warf er sich mit seinem ganzen Korper gegen die Turful-lung, aber die war stabil und bewegte sich nicht um Haaresbreite.

»Wer zum Teufel hat die Tur abgeschlossen?« schrie er wild.

»Welcher Satan hat …«
        Immer noch hupfte Rasmus umher, froh und munter jubelte er seine kleinen spitzen Entzuckungsschreie hervor.

»Das war ich«, schrie er. »Das war ich! Kalle lief raus, und dann habe ich abgeschlossen.«
        Nicke packte ihn fest am Arm. »Wo hast du den Schlussel, kleiner Lummel?«

»Au, das tut weh«, sagte Rasmus. »La? mich los, dummer Nicke!«
        Nicke schuttelte ihn noch einmal. »Wo du den Schlussel hast, will ich wissen!«

»Den Schlussel, den habe ich aus dem Fenster geschmissen, bitte sehr!« sagte Rasmus.

»Bravo, Rasmus!« schrie Anders.
        Eva-Lotte lachte laut und zufrieden auf.

»Jetzt kannst du mal sehen, kleiner Nicke, wie es ist, wenn man gefangen ist«, sagte sie.

»Ja, und es mu? au?erdem sehr lustig sein, zu horen, was der Peters dazu sagen wird«, meinte Anders kichernd.
        Nicke setzte sich schwer auf die nachste Bank. Es war deutlich zu sehen, da? er versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Als er das getan hatte, brach er in ein plotzliches und unerwartetes schallendes Gelachter aus.

»Ja, das wird lustig werden, zu horen, was der Chef dazu sagen wird.« Er lachte.
»Das wird sicher lustig werden!« Dann wurde er wieder ruhig. »Aber das ist ja ein gro?es Ungluck! Ich mu? den Bengel erwischen, ehe er irgend etwas anstellen kann.«

»Bevor er die Polizei holen kann, meinst du!« sagte Eva-Lotte. »In dem Fall mu?t du dich schon etwas beeilen, kleiner Nicke.«
        DREIZEHNTES KAPITEL
        Ein frischer westlicher Wind, der von Minute zu Minute starker wurde, fegte dumpf brausend uber die Tannenspitzen und trieb kleine, zitternde, schaumige Wellen durch den Sund, der die Insel vom Festland trennte. Kalle, der nach dem schweren Kampf mit Nicke und dem rasenden Lauf immer noch schwer atmete, stand am Ufer und sah verzweifelt auf das wild bewegte Wasser.
        Ohne sein Leben aufs Spiel zu setzen, konnte hier ein Sterblicher nicht hinuberschwimmen. Selbst mit einem kleinen Ruderboot ware es eine heikle Angelegenheit gewesen. Au?erdem hatte er kein Boot. Im vollen Tageslicht wagte er sich auch nicht zur Anlegestelle, und sicher lag dort auch kein Boot, das nicht angeschlossen war.
        Wieder einmal war Kalle vollig ratlos. Er begann, all die vielen Widerstande, die sich vor ihm aufhauften, langsam satt zu haben. Hier gab es keine Moglichkeit als abzuwarten, bis der Wind zuruckging - und das konnte Tage dauern. Wo sollte er wahrend dieser Zeit bleiben, und wovon sollte er leben? In die Hutte konnte er nicht zuruck. Dort wurden sie zuerst nach ihm suchen. Nahrungsmittel hatte er auch nicht mehr, die hatten die Kidnapper beschlagnahmt. Schlimmer konnte es wirklich nicht mehr werden, dachte Kalle, wahrend er angstlich und unentschlossen zwischen den Baumen umherirrte. Jederzeit konnte Nicke hinter ihm her sein.
        Da horte er durch den Wind laute Hilferufe aus Eva-Lottes Hauschen. Der kalte Angstschwei? legte sich auf seine Stirn. 
        Bedeuteten die Rufe, da? Peters gerade jetzt auf irgendeine teu-flische Weise sich an den anderen fur seine Flucht rachte? Der Gedanke daran machte ihn knieschwach. Er mu?te herausbekommen, was dort oben geschah.
        Auf Schleichwegen kehrte er dorthin zuruck, woher er eben gekommen war. Je mehr er sich dem Haus naherte, desto besser konnte er die Stimmen unterscheiden, und zu seinem Erstaunen horte er, da? es Nicke war, der um Hilfe rief. Nicke und manchmal Rasmus. Was in aller Welt taten Anders und Eva-Lotte nur mit Nicke, da? er auf diese Weise schrie? Kalles Neugierde trieb ihn, das zu erfahren, selbst wenn es sehr riskant war. Zum Gluck ging ja der Wald bis zum Haus. Mit etwas Geschick konnte man bis vor Eva-Lottes Fenster schleichen, ohne gesehen zu werden.
        Kalle schlangelte sich zwischen den Tannen vorwarts. Jetzt war er schon so dicht heran, da? er Nicke uber irgend etwas im Haus toben und fluchen horen konnte. Er horte auch die zufriedenen Stimmen der anderen. Nicke, das war klar, wurde nicht mehr mi?handelt - weshalb war er also so wild? Und warum blieb er in dem Haus, anstatt drau?en nach Kalle zu suchen?
        Und was lag dort vor Kalles Nase und glanzte aus den Tannen-nadeln hervor? Es war ein Schlussel. Kalle hob ihn auf und betrachtete ihn genau. Konnte es der Schlussel zu Eva-Lottes Haus sein? Wie war er hierhergekommen? Ein neues Geschrei von Nicke beantwortete Kalles Fragen.

»Peters, Hilfe!« schrie Nicke. »Die haben mich eingeschlossen. Kommen Sie, schlie?en Sie auf!«
        Kalle lachte leise. Nicke war mit seinen Gefangenen eingeschlossen. Das war ein Punkt fur die Wei?e Rose. Zufrieden steckte Kalle den Schlussel in die Hosentasche.
        Da horte er auch schon, wie Peters, Blom und Svanberg an gelaufen kamen. Er wurde steif vor Schreck. In einigen Minuten wurden sie Wettjagen auf ihn machen, und sie wurden ihn suchen wie nie zuvor. Denn das mu?te Peters einen entsetzlichen Stich geben - da? Kalle wieder auf freiem Fu? war. Es wurde ihm sofort klar sein, da? Kalle mit allen Mitteln versuchen wurde, Hilfe herbeizuschaffen. Deshalb gab es fur Peters nichts Wichtigeres, als um jeden Preis zu verhindern, da? Kalle die Insel verlie?. Er wurde diesmal vor nichts zuruckschrecken, das wu?te Kalle, und diese Gewi?heit lie? ihn unter der Sonnenbraune bla? werden. Da lag er und horchte voller Angst auf die laufenden Manner, die sich naherten. Er mu?te ein Versteck fur sich finden, er mu?te es sofort finden, innerhalb weniger kostbarer Sekunden.
        Da sah er es, gerade vor seinen Augen. Ein marchenhaftes Versteck. Dort wurde man ihn vorerst nicht suchen. Unter dem Haussockel war eben so viel Platz, da? man einigerma?en bequem liegen konnte. Nur hier auf der Ruckseite war der Haussockel so hoch, weil das Haus auf einem Abhang, gegen die See zu, lag. Am Sockel wuchs hohes Gras und gro?e Mengen von rotem Phlox, die einen recht gut davor schutzten, gesehen zu werden, falls doch jemand den Einfall bekam, auf der Ruckseite des Hauses zu suchen. Flink wie ein Wiesel kroch Kalle, so weit er kommen konnte, unter den Sockel. Wenn sie hier nach mir suchen, sind sie nicht normal, dachte er. Wenn sie nur etwas Verstand im Kopf hatten, dann suchten sie doch wohl einen Fluchtling so weit wie moglich von seinem Gefangnis entfernt und nicht direkt unter seinem Gefangnisfu?boden.
        Er lag da und horte das Erdbeben, das losbrach, als Peters die Zusammenhange begriffen hatte: da? Nicke eingeschlossen und Kalle verschwunden war.

»Lauft!« schrie Peters wie ein Wahnsinniger. »Lauft und packt ihn! Kommt mir nicht ohne ihn zuruck, oder ich ubernehme keine Verantwortung fur das, was ich tun werde!«
        Blom und Svanberg liefen los, und Kalle horte, wie Peters fluchend einige Schlussel probierte und dann mit einem die Tur zu den Gefangenen offnete. Und dann gab es uber seinem Kopf ein noch gro?eres Erdbeben. Der arme Nicke verteidigte sich standhaft, aber Peters war nicht zu halten. Eine Schimpfkano-nade von solchem Ausma? hatte Nicke sicher noch nie uber sich ergehen lassen mussen. Sie nahm und nahm kein Ende, jedenfalls nicht, bevor sich Rasmus einmischte.

»Da? du so ungerecht sein kannst, Peters«, sagte er. Kalle konnte die kleine feste Stimme so deutlich horen, als ware er selbst im Zimmer. »Immer und immer bist du ungerecht. Nicke kann doch wohl nichts dafur, wenn ich die Tur abgeschlossen und den Schlussel zum Fenster rausgeworfen habe.«
        Peters antwortete nur mit einem dumpfen Gebrull. Dann schrie er Nicke an: »Raus mit dir und den Kerl gesucht! Ich werde sehen, ob ich den Schlussel finde.«
        Kalle zuckte zusammen. Wenn Peters den Schlussel suchte, konnte er seinem Versteck gefahrlich nahe kommen, ganz gefahrlich nahe.
        Es war wirklich ein Hundeleben. Praktisch mu?te man jeden Augenblick mit neuen Gefahren rechnen. Kalle dachte und handelte schnell. Er horte, wie Nicke fortrannte und Peters die Tur abschlo?. Zur selben Zeit verlie? er sein Versteck und sprang hinter einen dicken Baum. Und als er Peters um die Hausecke biegen sah, lief er lautlos zum Eingang, den Peters gerade verlassen hatte. Kalle nahm den Turschlussel aus der Hosentasche, und zum unvorstellbaren Erstaunen von Eva-Lotte und Anders kam er durch die Tur, keine ganze Minute spater, nachdem sie Peters und Nicke dort hatten verschwinden sehen.

»Nun bist du ruhig«, sagte Eva-Lotte mit leiser Stimme zu Rasmus, denn es sah aus, als wolle er sich zu Kalles unerwarteter Ruckkehr au?ern.

»Ich habe doch gar nichts gesagt«, brummelte Rasmus beleidigt. »Aber wenn Kalle …«

»Sch«, sagte Anders und zeigte warnend auf Peters, der drau?en in allernachster Nahe des Fensters herumwuhlte und deutlich verargert war, dort keinen Schlussel zu finden.

»Eva-Lotte, singe«, flusterte Kalle, »damit Peters nicht hort, wenn ich die Tur zuschlie?e.«
        Und Eva-Lotte stellte sich vor dem Fenster auf und sang aus vollem Hals:

»Glaubst du denn, da? ich ver-lo-o-o-ren bin, Noch lange nicht, oh-ho-ho nein, no-o-och lange nicht …«
        Dieser schone Gesang schien Peters keine rechte Freude zu bereiten. Er sah irritiert zum Fenster. »Ruhe mit dir!« schrie er und suchte dann weiter.
        Mit einem Ast stoberte er im Gras unter dem Fenster herum und bog die Blumen beiseite. Sie konnten ihn still vor sich hin fluchen horen, denn einen Schlussel fand er nicht. Dann gab er das Suchen auf und verschwand. Atemlos standen sie da. Horchten und warteten. Wurde er nach Haus gehen oder zu ihnen zuruckkommen und Kalle finden? Sie horchten, bis sie das Gefuhl hatten, ihre Ohren stachen wie Horrohre aus ihren Schadeln.
        Horchten und hofften schon … Aber dann horten sie doch Peters’ Schritte vor der Tur. Er kam zuruck, o du guter Moses, er kam zuruck! Sie starrten sich an, vollkommen aufgelost, vollkommen bleich, vollkommen au?erstande, einen klaren Gedanken zu fassen.
        Kalle bekam zuerst seine Fassung wieder. Mit einem Schritt sprang er hinter den gro?en Vorhang, der die Waschgelegen-heit verdeckte, gleich danach wurde die Tur geoffnet, und Peters kam herein. Eva-Lotte blieb stehen und schlo? die Augen.
        Nimm ihn fort, dachte sie, nimm ihn fort, oder ich uberlebe es nicht … Und wenn Rasmus jetzt anfangt zu reden …

»Ihr sollt Schlage kriegen, sobald ich Zeit habe«, sagte Peters. »Schlage sollt ihr bekommen, da? es nur so pfeift. Aber erst, wenn ich zuruckkomme. Und wenn ihr euch bis dahin nicht vollig ruhig verhaltet, sollt ihr noch einmal so viel Schlage haben. Habt ihr verstanden?«

»Ja, vielen Dank«, sagte Anders.
        Rasmus kicherte. Er hatte gar nicht auf das gehort, was Peters gesagt hatte. Er war nur von einem Gedanken besessen - da? Kalle hinter dem Vorhang stand! War das nicht das allerschonste Versteckspiel? Eva-Lotte folgte angstlich seinem Mienenspiel.
        Schweig, Rasmus, schweig, bat sie beschworend in sich selbst.
        Aber Rasmus hatte ihr inneres Gebet wohl nicht gehort. Er kicherte unheilverkundend.

»Warum kicherst du?« fragte Peters bose.
        Rasmus sah ihn froh und geheimnisvoll an.

»Das wirst du niemals raten konnen …« fing er an.

»Diesmal wachsen aber besonders viele Blaubeeren hier auf der Insel!« schrie Anders mit hoher, sich beinahe uberschlagen-der Stimme. Er hatte so gern mehr geschrien, aber in seiner Seelennot fiel ihm nichts mehr ein. Peters sah ihn voller Abscheu an.

»Willst du witzig sein?« fragte er. »Das kannst du dir sparen.«

»Haha, Peters«, fuhr Rasmus unbeirrt fort, »du wei?t nicht, wer …«

»Ich finde, es gibt nichts Schmackhafteres als Blaubeeren«, schrie Anders noch lauter. Peters schuttelte den Kopf.

»Ganz klug scheinst du nicht zu sein«, sagte er. »Aber das macht nicht viel aus. Ich gehe jetzt. Ich will euch nur noch einmal warnen: Stellt nicht noch mehr Unfug an.« Er ging zur Tur. Aber er zogerte, bevor er ging. »Ist ja wahr«, sprach er halblaut zu sich selbst. »Vielleicht sind hier ein paar Rasierklingen im Toilettenschrank.«
        Toilettenschrank - der war an der Wand. Hinter dem Vorhang.

»Rasierklingen!« brullte Eva-Lotte. »Rasierklingen - ist ja ulkig, die habe ich - alle aus Versehen aufgegessen - ich meine -ich - ach ja, ich habe sie verschluckt, bestimmt. Und dann habe ich auf den Rasierpinsel gespuckt.«
        Peters starrte sie mit gesenktem Kopf an. »Eure Eltern, die konnen einem leid tun«, sagte er leise, drehte sich um und verschwand.
        Wieder waren sie allein. Sie sa?en zu dritt auf einer Bank und unterhielten sich mit leiser Stimme uber das, was geschehen war. Auf dem Boden vor ihnen hockte Rasmus und lie? sich kein Wort entgehen.

»Es sturmt zu sehr«, sagte Kalle. »Wir konnen nichts anfangen, bevor es sich aufgeklart hat.«

»Manchmal gibt es sogar Windstarke neun«, sagte Anders als kleine Ermunterung.

»Was willst du tun, wahrend du wartest?« fragte Eva-Lotte beunruhigt.

»Ich werde wie eine Krote unter dem Haussockel liegen«, sagte Kalle. »Und wenn Nicke den letzten Rundgang gemacht hat, komme ich zu euch, esse und schlafe hier.«
        Anders lachte: »Wenn wir das alles doch blo? einmal mit den Roten machen konnten, es ware zu schon.«
        So sa?en sie lange Zeit. Aus dem Wald klang das Rufen und Schreien von Peters, Nicke und Blom, die dort nach Kalle suchten.

»Ja, sucht nur«, sagte Kalle grimmig. »Mehr als Blaubeeren werdet ihr dort nicht finden.«
        Es wurde Abend, und es wurde dunkel. Kalle konnte schon nicht mehr in der Enge unter dem Sockel liegen. Er mu?te raus und sich bewegen, bevor ihm Arme und Beine endgultig ein-schliefen. Zu den anderen hineinzugehen, war es noch zu fruh.
        Nicke hatte die Abendrunde noch nicht gemacht. Leise und vorsichtig ging Kalle im Dunkeln auf und ab.
        Er sah im Hause bei Peters Licht. Das Fenster war offen, und er horte ein schwaches Gemurmel von Stimmen. Wor-
        uber sprachen sie da drinnen? Wenn man sich ganz, ganz leise heranschlich und unter das Fenster stellte, vielleicht konnte man das eine oder andere Nutzliche horen. Er schlich naher.
        Immer einen Schritt nach dem anderen. Horchte immer zwischen zwei Schritten und stand dann endlich unter dem Fenster.

»Ich habe das Ganze satt«, horte er Nicke mit unwirscher Stimme sagen. »Ich habe das alles bis in die Fu?spitzen satt, ich will nichts mehr damit zu tun haben.«
        Und dann Peters ruhig und eiskalt: »Aha, du willst nichts mehr damit zu tun haben! Und warum, wenn ich fragen darf?«

»Weil es nicht recht ist, mit Kindern so umzuspringen.«

»Sieh dich vor, Nicke«, sagte Peters. »Ich brauche dir wohl nicht erst zu schildern, wie es dir ergehen wird, wenn du versuchst abzuspringen.«
        Eine Weile war es still. Dann sagte Nicke schlie?lich gram-lich: »Na ja, naturlich, ich wei? schon.«

»Na also«, fuhr Peters fort. »Und ich warne dich, noch mehr Dummheiten zu machen. Du sprichst so narrisch, da? man dich fast im Verdacht haben konnte, du hattest den Jungen absichtlich laufenlassen.«

»Nu hor aber mal, Chef«, fuhr Nicke auf.

»Sicher, sicher, so dumm kannst ja nicht einmal du sein«, sagte Peters. »Sogar du mu?test doch verstehen, was es fur uns bedeutet, wenn er geflohen ist.« Nicke antwortete nicht. »Nie in meinem Leben habe ich solche Angst ausgestanden«, sprach Peters weiter. »Wenn das Flugzeug nicht bald kommt, wird alles schiefgehen, davon kannst du uberzeugt sein.«
        Flugzeug? Kalle spitzte die Ohren. Was fur ein Flugzeug sollte da kommen? Sein Nachdenken wurde unterbrochen. Durch die Dunkelheit kam jemand, jemand mit einer Taschenlampe. Er kam aus dem kleinen Haus, das vor dem Felsen lag, auf dem das Haus des Professors stand. Sicher ist es Blom oder Svanberg, dachte Kalle, als er sich fest gegen die Hauswand pre?te. Aber er brauchte keine Angst zu haben. Der Mann hatte es eilig, und einen Augenblick spater horte Kalle, wie er im Haus zu den anderen sprach.

»Das Flugzeug trifft morgen fruh sieben Uhr hier ein«, horte er ihn sagen und erkannte Bloms Stimme.

»Gott sei Dank!« sagte Peters. »Ich bin froh, hier wegzukommen. Hoffentlich wird das Wetter so, da? sie landen konnen.«

»Doch, sicher, das Wetter klart sich weiter auf«,beruhigte Blom. »Die wollen einen neuen Bericht haben, bevor sie starten.«

»Gib ihn durch«, sagte Peters. »Hier in der Bucht wird das Wetter ja auf jeden Fall so sein, da? sie auf das Wasser runtergehen konnen. Und du, Nicke, sieh zu, da? du den Kleinen bis sieben Uhr fertig hast!«
        Kleinen - damit war naturlich Rasmus gemeint! Kalle ballte die Fauste. Aha, nun sollte alles beendet werden. Rasmus sollte fort von hier. Er wurde weit weg sein, bevor es Kalle gelang, ir-gendwelche Hilfe herbeizuholen. Armer kleiner Rasmus, wo will man mit dir hin? Und was werden sie mit dir machen? Es war eine Schweinerei!
        Man konnte denken, Nicke habe Kalles Gedanken gehort.

»Schweinerei!« sagte er. »Das ist eine Schweinerei. Ein armer kleiner Junge, der nichts Boses getan hat. Ich habe absolut keine Lust, dabei zu helfen. Den setzen Sie man selbst ins Flugzeug, Chef!«

»Nicke«, sagte Peters, und seine Stimme war beangstigend scharf und schneidend,
»ich habe dich gewarnt, und jetzt warne ich dich zum letzten Mal. Sieh zu, da? der Junge morgen fruh um sieben Uhr fertig ist!«

»Zum Teufel!« sagte Nicke. »Chef, Sie wissen ebenso gut wie ich, da? das Wurm dabei umkommen kann, und Sie wissen auch, da? der Professor vor die Hunde geht!«

»Oh, das wei? ich noch nicht so genau«, sagte Peters leichthin. »Wenn der Professor sich vernunftig benimmt … ubrigens gehort das nicht hierher.«

»Zum Teufel!« sagte Nicke noch einmal.
        Kalle hatte einen Klo? im Hals. Er war so traurig, alles war so ohne Hoffnung. Sie hatten versucht, wirklich versucht, mit all ihren Kraften versucht, Rasmus und dem Professor zu helfen.
        Aber es hatte nichts genutzt. Diese bosen Menschen gewannen das Spiel. Armer, armer Rasmus.
        Kalle stolperte voller Verzweiflung durch die Dunkelheit. Er mu?te versuchen, den Professor zu sprechen. Er mu?te ihn auf das Flugzeug vorbereiten, das sich morgen fruh wie ein gro?er Raubvogel auf die Insel sturzen wollte, um die Klauen in Rasmus zu schlagen. Das auf dem Wasser in der Bucht landen wurde, sobald Blom durchgegeben hatte, da? sich das Wetter hin-reichend aufklarte.
        Kalle blieb plotzlich stehen. Wie gab Blom das eigentlich weiter? Donnerwetter, wie tat er das nur? Kalle pfiff durch die Zahne. Naturlich! Es mu?te hier irgendwo auf der Insel eine Sendestation geben! Alle Spione und Schurken, die mit dem Ausland in Verbindung standen, benutzten dazu den Ather.
        Ein kleiner Gedanke begann in Kalles Gehirn zu arbeiten. Eine Radioanlage - ein Sender, das war genau das, was er selbst jetzt brauchte. Himmel, wo war dieser Sender? Er mu?te ihn finden. Vielleicht, vielleicht gab es doch noch eine ganz winzig kleine Chance, etwas Hoffnung. Dort aus dem kleinen Haus war Blom gekommen! Dort lag es vor ihm. Ein schwaches Licht drang aus dem Fenster. Kalle zitterte vor Aufregung. Wie oft hatte diese Insel ihn nicht schon zum Zittern gebracht, dachte er,
        schlich sich vor und sah durch das Fenster. Er sah keinen Menschen. Aber - gro?ere Wunder waren auf dieser Welt nicht mehr moglich - die Sendestation sah er. Ja, sie war in dem Haus.
        Kalle fuhlte am Turgriff. Unverschlossen - danke sehr, lieber, guter Blom. Vielen Dank, auch wenn du ein Kidnapper bist. Mit einem Satz war Kalle am Sender und ergriff das Mikrophon. Gab es einen Menschen auf dieser gro?en, weiten, runden Welt, der ihn horen wurde? Gab es einen, der sein verzweifeltes Rufen horte?

»Hilfe! Hilfe!« bat er mit leiser, zitternder Stimme. »Hilfe!
        Hier spricht Karl Blomquist. Wenn mich jemand hort, rufe er sofort Onkel Bjork an - ich meine, sofort die Polizei von Kleinkoping anrufen und dort sagen, da? sie zur Kalvo kommen und uns retten sollen. - Kalvo hei?t die Insel, und sie liegt ungefahr funfzig Kilometer sudostlich von Kleinkoping - und es ist sehr dringend, denn wir sind gekidnappt worden. Beeilt euch und kommt hierher, sonst sind wir verloren. Kalvo hei?t die Insel.
        Anzurufen ist bei der Polizei von Kleinkoping und …«
        Gab es jemanden auf der weiten Welt, der gerade diesen Sender horte? Jemanden, der gerade jetzt zuhorte und sich wunderte, warum alles im Ather plotzlich wieder still war?
        Kalle selbst wunderte sich nur, woher die Lokomotive gekommen war, die ihn uberfahren hatte. Er wunderte sich, warum es plotzlich in seinem Kopf so weh tat. Dann versank er in einer grenzenlosen Finsternis und brauchte sich uber nichts mehr zu wundern. Mit dem letzten kleinen Rest seines Verstandes horte er von weit her die seltsam hohl klingende, gehassige Stimme seines gro?en Feindes Peters:

»Ich bringe dich um! Verdammter Lummel! Nicke, los, trag ihn zu den anderen!«
        VIERZEHNTES KAPITEL

»Jetzt mussen wir scharf nachdenken«, sagte Kalle und befuhlte vorsichtig die riesige Beule an seinem Hinterkopf. »Genauer gesagt: ihr mu?t nachdenken. Mein Schadel sitzt namlich nicht mehr sicher auf seinem Stengel, glaube ich.«
        Eva-Lotte kam mit einem feuchten Handtuch, das sie um Kalles Kopf wickelte.

»So«, sagte sie, »und nun liegst du ganz ruhig und bewegst dich nicht!«
        Kalle hatte gar nichts dagegen, still zu liegen. Nach den Stra-pazen der letzten vier Tage und Nachte war es fur seinen Korper eine wahre Wohltat, zu liegen. Es war herrlich, wenn auch etwas albern, dazuliegen und von Eva-Lotte bemuttert zu werden.

»Ich sitze schon und denke scharf nach«, sagte Anders. »Ich sitze da und denke daruber nach, ob es irgendeinen Menschen gibt, den ich noch mehr hasse als diesen Peters, aber ich finde keinen in meinem Gedachtnis. Nicht einmal den Bastellehrer, den wir im vorigen Jahr hatten. Und der war ja bestimmt seltsam.«

»Armer Rasmus«, sagte Eva-Lotte. Sie nahm den Lichthalter und ging zu Rasmus und leuchtete ihn an. Da lag er und schlief so ruhig und zufrieden, als gabe es keine Bosheit auf der Welt.
        Im flackernden Lichtschein sieht er wie ein Engel aus, dachte Eva-Lotte. Sein Gesicht war mager geworden, die Backen, die von langen dunklen Augenwimpern beschattet wurden, waren hohl, und der weiche, kindliche Mund, der so viel dummes Zeug zu plappern pflegte, war jetzt unbeschreiblich ruhrend. Er sah so klein und wehrlos aus, da? Eva-Lottes ganze Mutterlichkeit schmerzhaft zu ihrem Herzen stromte, als ihr das Flugzeug einfiel, das morgen fruh kommen sollte.

»Konnen wir wirklich nichts tun?« fragte sie mutlos.

»Oh, ich mochte gern Peters irgendwo mit einer Hollenmaschine einsperren«, sagte Anders und kniff blutrunstig seine Lippen zusammen. »Eine nette kleine Hollenmaschine, die so mit einemmal ›Klick‹ sagt - und dann ware es endlich aus mit dem Knilch!«
        Kalle lachte leise vor sich hin. »Weil du sagt: einsperren - wir sind ja eigentlich nicht im geringsten eingesperrt. Habe ich denn nicht den Schlussel? Wir konnen doch fliehen, wann wir wollen.«

»Mensch, guter Moses«, sagte Anders uberrascht. »Richtig, du hast ja den Schlussel! Worauf warten wir noch! Kommt, sausen wir los!«

»Nein, Kalle mu? ruhig liegenbleiben«, sagte Eva-Lotte besorgt. »Nach so einem Sternenfall darf er nicht einmal den Kopf anheben.«

»Wir warten einige Stunden«, sagte Kalle. »Wenn wir Rasmus jetzt in den Wald bringen, brullt er los, da? man es uber die ganze Insel hort. Und hier schlafen wir besser als unter irgendeinem Busch im Wald.«

»Du redest so klug, man konnte beinahe glauben, da? dein Gehirn schon wieder funktioniert«, bestatigte Anders. »Ich wei?, was wir machen. Zuerst einige Stunden schlafen und dann so gegen funf Uhr fruh von hier weg. Und dann wollen wir hoffen, da? es sich unterdessen so weit aufgeklart hat, da? einer von uns zum Festland hinuberschwimmen kann, um Hilfe zu holen.«

»Ja, sonst platzt namlich bestimmt alles«, sagte Eva-Lotte. »Lan-ge Zeit konnen wir uns auf der Insel nicht versteckt halten. Au?erdem wei? ich, wie es mit Rasmus im Wald ist - und ohne Essen.«
        Anders kroch in seinen Schlafsack, den ihm Nicke gnadigerwei-se gelassen hatte.
»Fruhstuck bitte Punkt funf Uhr - ans Bett«, sagte er. »Nun mochte ich schlafen.«

»Gute Nacht«, sagte Kalle. »Ich spure in meinen Knochen, da? morgen allerhand passieren wird.«
        Eva-Lotte legte sich auf ihre Bank. Sie legte die Hande unter den Kopf und starrte an die Decke, wo eine dumme Fliege umher-surrte und jedesmal, wenn sie anstie?, kleine Bumserchen zustande brachte, »Ubrigens kann ich Nicke ganz gut leiden«, sagte Eva-Lotte. Dann rollte sie sich auf die Seite und pustete das Licht aus.
        Fur den, der umherirrt und nach einer kleinen Hutte im Walde sucht, ist Kalvo, 53 Kilometer sudostlich von Kleinkoping, gro? und langgestreckt. Fur den, der sich ihr in einem Flugzeug nahert, ist die Insel nichts weiter als ein kleiner, kleiner gruner Punkt in einem blauen Meer, das mit vielen ahnlichen Punkten angefullt ist. Irgendwo, weit fort, ist gerade jetzt ein Flugzeug gestartet, um die kleine Insel, die dort zwischen vielen ahnlichen im Meer liegt, zu erreichen. Das Flugzeug hat starke Motoren und braucht nur wenige Stunden, um sein Ziel zu erreichen. Sie brummen unaufhorlich und eintonig, die Motoren, und bald kann man auf Kalvo
        das gleichma?ig mahlende Gerausch horen, das an Starke zu-nimmt und zu einem betaubenden Donnern wird, als die Maschine auf dem Sund niedergeht. Der Sturm hat sich gelegt, und in der Bucht gleiten die Wellen friedlich dahin, als die Maschine mit einem letzten, erschreckenden Gedrohne uber die Wasserflache dahinrast und dann ruhig vor der Anlegestelle liegenbleibt.
        Da erwacht Kalle endlich. Und im selben Moment begreift er, da? das Gedrohne nicht vom getraumten Niagarafall her-stammt, sondern von dem Flugzeug, das Rasmus und den Professor holen soll.

»Anders! Eva-Lotte! Wacht auf!«
        Es klingt wie ein Jammerruf und schreckt die anderen augenblicklich aus dem Schlaf.
        Sie erkennen sofort die ganze Gro?e des Unglucks. Jetzt mu?ten sie zaubern, um noch rechtzeitig verschwinden zu konnen. Kalle wirft einen Blick auf die Uhr und weckt Rasmus. Es ist erst funf. Was ist das nun wieder fur eine neue Mode, zwei Stunden vor der festgesetzten Zeit zu kommen! Selbst auf Flug-zeuge kann man sich nicht verlassen.
        Rasmus ist mude und will nicht aufstehen, aber sie kummern sich nicht um seine Proteste. Eva-Lotte streift ihm wenig zart den Overall uber, und Rasmus zischt wie ein wutendes Katz-chen. Anders und Kalle sehen mit ungeduldigen Augen zu.
        Rasmus wehrt sich kraftig und fangt an zu heulen, bis ihn Anders schlie?lich am Genick packt und flustert:

»Bilde dir nur nicht ein, da? so ein Heulaugust wie du jemals eine Wei?e Rose wird!«
        Das hilft. Rasmus wird still, und Eva-Lotte zieht ihm schnell und geistesgegenwartig seine Turnschuhe an. Kalle beugt sich zu ihm und sagt schmeichelnd: »Rasmus, wir wollen doch schon fliehen! Vielleicht sind wir bald wieder in der kleinen hubschen Hutte - du wei?t doch noch. Und jetzt mu?t du laufen, so schnell du nur kannst!«
        Sie sind fertig. Kalle springt zur Tur und horcht gespannt.
        Aber alles ist ruhig. Es sieht aus, als sei der Weg frei. Er sucht in der Hosentasche nach dem Schlussel. Sucht und sucht …

»Nein, nein, nein«, jammert Eva-Lotte, »komm mir jetzt nur nicht damit, da? du den Schlussel verloren hast!«

»Er mu? hier sein«, sagt Kalle und ist so aufgeregt, da? seine Hande fliegen. »Er mu? hier sein.«
        Aber soviel er auch wuhlt, seine Hosentasche bleibt leer. Er hat nie etwas Leereres gefuhlt als diese Hosentasche. Anders und Eva-Lotte schweigen. Sie bei?en auf ihren Fingern herum und warten. Die Sekunden gehen. Diese kostbaren Sekunden.
        Fieberhaft suchen sie den Fu?boden ab.

»Vielleicht ist er herausgefallen, als man mich gestern abend hierhergetragen hat«, meint Kalle.

»Ja, warum sollte er nicht herausgefallen sein«, sagt Eva-Lotte verbittert. »Diese Insel sollte ›Insel der Zufalle‹ hei?en.
        Was soll man hier schon anderes erwarten, als da? ein Schlussel, den man dringend braucht, so einfach zufallig herausfallt!«
        Sie suchen weiter. Nur Rasmus sucht nicht mit. Er hat angefangen, mit seinen Borkenbooten zu spielen. Sie fahren uber Kalles Bank, und diese Bank ist jetzt der
»Gro?e Stille Ozean«. Im Gro?en Stillen Ozean schwimmt ein Schlussel, und Rasmus nimmt ihn heraus und la?t ihn Kapitan auf einem Schiff werden, das »Hilda von Goteborg« hei?t. Nicke hat dem Boot diesen wundervollen Namen gegeben. So hie? namlich auch das Schiff, auf dem Nicke vor langer, langer Zeit einmal Leichtmatrose war.
        Die Sekunden gehen dahin. Kalle, Anders und Eva-Lotte suchen verzweifelt und sind so fertig, da? sie vor Nervositat schreien mochten. Aber Rasmus und der Kapitan auf der »Hilda von Goteborg« sind nicht ein bi?chen nervos. Sie segeln uber den Gro?en Stillen Ozean und finden alles herrlich, bis Eva-Lotte mit einem Aufschrei den Kapitan von der Kommando-brucke rei?t und die »Hilda von Goteborg« herrenlos ihrem Schicksal in der schweren Brandung uberla?t.

»Schnell, weg!« ruft Eva-Lotte und gibt Kalle den Schlussel.
        Bevor er ihn in das Schlo? stecken kann, hort er etwas und wirft einen entsetzten Blick auf die anderen.

»Es ist zu spat, sie kommen«, sagt er nur.
        Eigentlich eine uberflussige Erklarung, denn die Gesichter von Anders und Eva-Lotte zeigen deutlich, da? sie es genauso gut gehort haben wie er selbst. Die Schritte, die sich nahern, haben es eilig, sehr eilig.
        Die Tur fliegt auf, Peters steht da. Abgehetzt sieht er aus. Er sturzt herein und rei?t Rasmus an sich.

»Komm«, sagt er brusk, »komm, beeil dich!«
        Aber jetzt wird Rasmus uber alle Begriffe bose. Was wollen die eigentlich alle, was rei?en die nur so herum heute fruh? Zuerst den Kapitan von der »Hilda« und jetzt ihn.

»Stell dir vor, da? ich das aber nicht will!« schreit er wutend.

»Hau ab, bloder Peters!«
        Da beugt sich Peters zu ihm, und mit einem harten Griff hebt er ihn hoch. Er geht zur Tur. Die Aussicht, von Eva-Lotte, Kalle und Anders weg zu mussen, erschreckt Rasmus ma?los. Er strampelt und schreit: »Ich will nicht - ich will nicht - ich will nicht!«
        Eva-Lotte schlagt die Hande vors Gesicht und weint. Es ist so furchterlich. Auch Kalle und Anders konnen sich kaum beherrschen. Regungslos stehen sie da und sind verzweifelt, und sie horen, wie Peters die Tur abschlie?t, sie horen ihn gehen und horen das Schreien von Rasmus, das leiser wird, immer leiser und leiser …
        Aber dann kommt Leben in Kalle. Noch hat er seinen Schlussel. Sie haben nichts mehr zu verlieren. Sie mussen wenigstens das traurige Ende der Geschichte mit ansehen, um nachher der Polizei davon berichten zu konnen. Dann, wenn es zu spat ist und Rasmus und der Professor verschwunden sind - irgendwohin, wo die schwedische Polizei sowieso nichts mehr ausrichten kann.
        Sie liegen hinter dichtem Gebusch an der Anlegestelle. Dort ist das Wasserflugzeug. Und dort kommen Blom und Svanberg mit dem Professor. Der Gefangene, dem die Arme auf dem Rucken gebunden sind, leistet keinen Widerstand. Er wirkt beinahe apathisch. Er la?t sich in das Boot sto?en, das ihn zum Flugzeug bringt, klettert ins Flugzeug, setzt sich und starrt aus-druckslos vor sich hin. Dort kommt Peters aus seinem Haus gelaufen. Er tragt immer noch Rasmus, und Rasmus strampelt und schreit noch genauso laut und herzzerrei?end wie vorher.

»Ich will nicht - ich will nicht - ich will nicht!«
        Schnell lauft Peters uber den Steg auf das Boot zu, das sie zum Flugzeug bringen soll. Als der Professor seinen Sohn sieht, zeigt sein Gesicht so viel Verzweiflung, wie es die unsichtbaren Zuschauer nicht fur moglich gehalten hatten.

»Ich will nicht - ich will nicht!« brullt Rasmus. In rasender Wut schlagt Peters ihm ins Gesicht, um ihn zum Schweigen zu bringen, aber wilder und lauter als zuvor brullt jetzt Rasmus:

»Ich will nicht - ich will nicht!«
        Da steht plotzlich Nicke auf dem Steg. Sie haben gar nicht gesehen, woher er kam. Er ist rot im Gesicht, und seine Hande sind zu Fausten geballt. Aber er ruhrt sich nicht, steht nur still und sieht Rasmus mit einem unbeschreiblichen Ausdruck von Sorge und Mitleid in den Augen nach.

»Nicke!« schreit Rasmus. »Hilf mir, Nicke! Nicke, horst du mich denn nicht?« Die kleine schreiende Stimme bricht; er weint haltlos und reckt die Hande zu seinem Nicke, der so nett war und so schone Borkenboote fur ihn geschnitzt hat.
        Und dann geschieht es. Wie ein gro?er, wilder, rasender Stier sturmt Nicke uber den Steg. Kurz vor dem Boot hat er Peters eingeholt, und mit einem Stohnen rei?t er Rasmus an sich.
        Er gibt Peters einen Schwinger unter das Kinn, und Peters tau-melt. Bevor er zu sich kommt, ist Nicke mit gro?en Sprungen auf und davon. Peters schreit ihm nach, und Eva-Lotte schaudert zusammen, denn so einen Schrei hat sie noch nie gehort.

»Bleib stehen, Nicke! Sonst schie?e ich dich uber den Haufen!«
        Aber Nicke bleibt nicht stehen. Er druckt Rasmus nur noch fester an sich und lauft auf den Wald zu.
        Da fallt ein Schu?. Und noch einer. Aber Peters ist wohl zu aufgeregt, um richtig zielen zu konnen. Nicke lauft weiter und ist bald zwischen den Baumen verschwunden. Der Wutschrei, den Peters aussto?t, ist kaum noch menschlich zu nennen. Er winkt Blom und Svanberg. Zusammen rennen sie dann dem Ge-flohenen nach.
        Kalle, Anders und Eva-Lotte bleiben hinter dem Gebusch liegen und starren entsetzt zum Wald. Was geschieht dort zwischen den Baumen? Ein schreckliches Gefuhl, nichts sehen zu konnen - nur Peters’ schauderhafte Stimme zu horen, die flucht und schreit und langsam immer tiefer im Walde verklingt.
        Kalle sieht in die andere Richtung. Zum Flugzeug. Immer noch sitzt der Professor mit dem Piloten, der ihn bewacht, in der Maschine. Sonst ist niemand mehr da.

»Anders«, flustert Kalle, »borg mir dein Messer.«
        Anders zieht das Lappenmesser aus dem Gurtel.

»Was hast du vor?« flustert er zuruck.
        Kalle betastet prufend die Messerschneide.

»Sabotage!« sagt er. »Sabotage am Flugzeug. Habe ich mir gerade eben ausgedacht.«

»O ja, du, mit dem buckligen Schadel ist das tadellos ausgedacht«, flustert Anders ermunternd.
        Kalle hat die Kleider ausgezogen.

»In einer Minute oder so - einige kraftige Schreie«, sagt er zu den anderen,
»damit der Pilot abgelenkt wird.«
        Kalle macht sich auf den Weg. In weitem Bogen schleicht er zwischen den Baumen zur Anlegestelle. Und als Eva-Lotte und Anders ihren Indianerschrei aussto?en, springt er die freiliegen-den Meter bis zum Steg und schlupft ins Wasser. Er hat richtig gerechnet, der Pilot blickt wachsam in die Richtung, aus der der Schrei kam, und sieht deshalb den schlanken Jungenkorper nicht, der wie ein Blitz vorbeischie?t.
        Kalle schwimmt unter der Brucke. Lautlos, wie es so oft im Krieg der Rosen geubt worden ist. Dann von der Brucke aus noch einige Schwimmsto?e unter Wasser, und er hat das Flugzeug erreicht. Vorsichtig sieht er nach oben. Der Pilot ist durch die offene Kabinentur zu sehen. Er sieht auch den Professor, und, was mehr ist, der Professor sieht ihn. Noch immer starrt der Pilot zum Wald hin, ohne etwas zu entdecken. Kalle hebt das Messer und macht einige stechende Bewegungen in die Luft hinein, damit der Professor versteht, was er vorhat.
        Der Professor versteht. Er begreift sofort, was er selbst zu tun hat. Wenn Kalle mit dem Messer am Flugzeug etwas vorhat, wird ohne Zweifel einiges Gerausch entstehen, das dem Piloten nicht entgehen kann, falls er nicht von einem noch starkeren Gerausch abgelenkt wird. Der Professor ubernimmt also die

»noch starkeren Gerausche«, Er fangt an zu schreien und zu larmen und stampft mit den Fu?en auf dem Kabinenboden herum. Der Pilot mag gerne glauben, da? der Professor verruckt geworden ist - da? er es noch nicht ist, wundert ihn selbst.
        Beim ersten lauten Schrei seines Gefangenen fahrt der Pilot erschrocken hoch. Es erschreckt ihn, weil es so unerwartet kommt. Und weil er einen Schreck bekommen hat, wird er bose.

»Halt’s Maul!« sagt er in einem eigentumlich fremden Tonfall. Er kann nicht viel Schwedisch. Aber so viel kann er jedenfalls. »Halt’s Maul, du!« sagt er noch einmal, und der eigentumliche Tonfall macht, da? es eigentlich recht gemutlich wirkt.
        Aber der Professor schreit und trampelt nur noch heftiger.

»Ich mache Larm, so viel ich will!« schreit er, und er empfindet es jetzt als etwas sehr Schones, zu trampeln und Krach zu machen. Es erleichtert die Anspannung seiner Nerven.

»Halt’s Maul, du«, sagt der Pilot, »oder ich schlage Nase ab von dir!«
        Der Professor aber schreit, und unten im Wasser arbeitet Kalle, schnell und mit Methode. Genau vor sich hat er den linken Schwimmer, und er sto?t das Messer wieder und wieder durch das leichte Metall, bohrt und sto?t uberall dort, wo er hinlangen kann. Und bald sickert das Wasser durch die vielen kleinen Locher. Kalle ist mit seiner Arbeit zufrieden.

»Ja, ja, ihr hattet schon Nutzen von dem unzerstorbaren Leichtmetall«, denkt er.
»Jedenfalls hier hattet ihr es gut gebrauchen konnen.« Dann schwimmt er wieder zuruck.

»Halt’s Maul, du!« sagt der Pilot. Und diesmal gehorcht sein Gefangener.
        FUNFZEHNTES KAPITEL
        Es ist sechs Uhr morgens, ein Dienstag und laut Kalender der erste August. Uber Kalvo scheint die Sonne, das Wasser ist blau, das Heidekraut beginnt schon zu bluhen, und das Gras ist feucht vom Tau. Da horen sie einen Schu?! Irgendwo im Wald hat jemand geschossen. Weit weg, sehr weit weg. Aber in der Stille des Morgens ertonten der Schu? und das Echo laut und unheilverkundend, und der Knall traf die Trommelfelle so schmerzhaft deutlich und scharf, da? einem davon himmelangst wurde.
        Man wu?te ja nicht, welches Ziel diese Kugel getroffen hatte.
        Man wu?te nur, da? Rasmus und Nicke sich dort mit einem furchtbaren Menschen, der bewaffnet war, aufhielten. Und man konnte nichts dagegen tun. Nur warten, wenn man auch nicht wu?te, worauf. Warten, da? irgend etwas geschah, was diese entsetzliche Situation veranderte. Warten in alle Ewigkeit! Es war, als ginge eine Lebenszeit vorbei. Sollte es immer so bleiben: fruhe Morgensonne uber einer Anlegestelle, ein Wasserflugzeug, das auf den Wellen schaukelt, eine kleine Bachstelze, die zwischen dem Heidekraut einhertrippelt, Ameisen, die uber einen Stein kriechen - und man liegt auf dem Bauch und wartet? Soll das wirklich bis in alle Ewigkeit so bleiben?
        Anders hat gute Ohren, er hort es zuerst.

»Ich hore etwas«, sagt er. »Wurde mich sehr wundern, wenn das kein Motorboot ist.«
        Die anderen lauschen. Tatsachlich - ein ganz schwaches Geknatter ertont irgendwo drau?en auf dem Wasser. In diesen verlassenen Scharen, die von Gott und den Menschen vergessen scheinen, ist das schwache Knattern der erste Laut, der von der Au?enwelt zu ihnen dringt. In den funf Tagen, die sie nun auf der Insel sind, haben sie keinen fremden Menschen, kein Motorboot, nicht einmal einen Kahn mit einem Fischer gesehen.
        Jetzt ist dort irgendwo ein Motorboot, das fahrt. Kommt es hierher? Wer wei??
        Hier sind so viele Buchten, es gibt tausend Moglichkeiten, da? das Boot woanders hin will. Aber wenn es kommt - kann man dann nicht auf den Steg laufen und mit aller Kraft seiner Lungen schreien: »Kommt her, kommt her, bevor es zu spat ist!« Wenn es aber nun eine kleine Urlaubsgesellschaft ist, die mit dem Boot vorbeifahrt, die winkt und lacht und weiterfahrt und gar nicht daran denkt, naher zu kommen und zu fragen, was los ist?
        Die Ungewi?heit und Spannung wird jeden Augenblick schwerer zu ertragen. Sie lauschen angestrengt auf das Geknatter drau-
        - en auf dem Wasser. Und es kommt naher. Bald konnen sie das Boot weit, weit drau?en sehen. Das Boot? Es sind doch wohl zwei!
        Aber aus dem Wald kommt auch etwas. Es ist Peters. Dicht hinter ihm Blom und Svanberg. Sie rennen zur Anlegestelle, als galte es das Leben. Vielleicht haben sie auch die Motorboote gehort und haben jetzt Angst. Nicke und Rasmus sind nicht zu sehen. Bedeutet das - nein, sie wagen nicht, daran zu denken, was es bedeuten konnte! Ihre Augen verfolgen Peters. Er ist in das Ruderboot gesprungen und rudert auf das Flugzeug zu.
        Dann klettert er in die Kabine hinauf und wendet sich zu Blom und Svanberg, die verlassen am Steg stehen - fur sie ist in der kleinen Kabine wohl kein Platz mehr.
»Versteckt euch im Wald! Ihr werdet abends abgeholt!«
        Der Propeller dreht sich. Das Flugzeug fangt an auf dem Wasser zu gleiten, dann beginnt es zu kreiseln, und Kalle bei?t sich vor Aufregung auf die Lippen. Jetzt wird es sich zeigen, ob seine Sabotage gegluckt ist. Das Flugzeug zieht Kreise auf dem Wasser.
        Immer nur Kreise. Aber es erhebt sich nicht. Schwer neigt es sich auf die linke Seite, neigt sich tiefer und tiefer und kippt um.

»Hurra!« schreit Kalle, alles andere vergessend. Aber dann denkt er an den Professor, der sich ja auch in dem Flugzeug befindet, und als er sieht, wie es sinkt, wird er unruhig. »Kommt!«
        schreit er den anderen zu. Und sie sturzen aus dem Gebusch, eine wilde kleine Heerschar, die lange im Hinterhalt gelegen hat.
        Das Flugzeug ist drau?en im Sund gesunken. Es ist nicht mehr zu sehen. Einige Menschen schwimmen im Wasser. Aufgeregt zahlt Kalle. Ja, es sind drei.
        Und ganz plotzlich sind die Motorboote da. Die Motorboote, die sie beinahe vergessen hatten. Und, guter Moses, wer ist es, der dort vorn im ersten steht?

»Onkel Bjork! Onkel Bjork! Onkel Bjork!« Sie schreien, da? ihnen fast die Stimmbander platzen.

»Oh, es ist Onkel Bjork«, schluchzt Eva-Lotte, »oh, wie gut, da? er hier ist!«

»Und die vielen Polizisten, die er bei sich hat!« schreit Kalle begeistert und erleichtert zugleich.
        Drau?en im Sund herrscht ein einziges Durcheinander. Sie sehen nur ein Gewimmel von Uniformen und Rettungsringen, die ausgeworfen werden, und Menschen, die aus dem Wasser gezogen werden. Zumindest sehen sie zwei, die herausgefischt werden. Aber wo ist der dritte?
        Der dritte schwimmt auf das Ufer zu. Es scheint, als habe er keine Hilfe notig. Er will sich selbst retten. Ein Motorboot nimmt Kurs auf ihn. Aber der Mann hat schon einen zu gro?en Vorsprung. Er erreicht den Anlegesteg. Klettert daran hoch und kommt mit langen, weiten Satzen genau auf die Stelle zu, wo Anders, Kalle und Eva-Lotte sind. Sie haben sich wieder hinter den Buschen versteckt, denn der Naherkommende sieht an-griffslustig aus, und sie haben Angst vor ihm.
        Nun ist er schon dicht bei ihnen, und sie konnen seine Augen sehen, die voller Raserei, Angst und Ha? sind. Aber er sieht nichts. Er sieht die kleine Heerschar hinter dem Busch nicht. Er wei? nicht, da? seine erbittertsten Feinde in allernachster Nahe sind. Und wie er an ihnen voruberlauft, streckt sich ein Jungen-bein vor seine Fu?e. Mit einem Fluch fallt er kopfuber nach vorn.
        Und dann sind sie uber ihm, seine Feinde, alle drei zu gleicher Zeit. Sie werfen sich auf ihn, halten seine Arme und Beine fest, drucken seinen Kopf in den weichen Sand und brullen:

»Onkel Bjork, Onkel Bjork, schnell, helfen Sie uns!«
        Und Bjork kommt. Naturlich kommt er. Er hat noch nie seine Freunde, die tapferen Ritter der Wei?en Rose, im Stich gelassen.
        Auf dem Moosboden im Wald liegt zusammengekrummt ein Mann. Bei ihm sitzt ein kleiner Junge und weint.

»Nicke, du blutest ja«, sagt Rasmus. Ein roter Fleck, der immer gro?er wird, ist auf dem Hemd des Mannes zu sehen. Rasmus zeigt mit einem schmutzigen Finger darauf. »Pfui Blase, wie ist er blode, dieser Peters! Hat er auf dich geschossen, Nicke?«

»Ja«, sagt Nicke, und seine Stimme ist so schwach und seltsam. »Ja, er hat auf mich geschossen … Aber deshalb mu?t du nicht weinen, Haschen … Hauptsache, dir ist nichts passiert!«
        Er ist ein armer, einfaltiger Seemann und liegt nun hier und glaubt, da? er sterben mu?. Aber er ist zufrieden. Er hat so viele dumme Sachen in seinem Leben gemacht und ist jetzt froh, da? das letzte, was er getan hat, gut war - und richtig. Er hat Rasmus gerettet. Er wei? es nicht genau, wie er so daliegt, aber er wei?, er hat es versucht. Er wei?, da? er gelaufen ist, bis sein Herz wie ein Blasebalg pumpte und er fuhlte, da? er nicht mehr weiter konnte.
        Er wei?, da? er Rasmus an sich gepre?t hielt, bis diese Kugel kam und er zu Boden fiel. Und er wei?, da? Rasmus wie ein aufgescheuchtes kleines, angstliches Haschen zwischen die Baume lief und sich versteckte. Nun aber ist das Haschen wieder bei ihm, und Peters ist verschwunden. Der hatte es plotzlich sehr eilig wegzukommen. Sicher getraute er sich nicht, langer zu bleiben und nach Rasmus zu suchen. Jetzt sind sie beide allein hier. Das kleine Kerlchen, das bei ihm sitzt und weint, ist das einzige Wesen, um das sich Nicke in seinem Leben gekummert hat.
        Wie es dazu gekommen ist, begreift er selber nicht. Er wei? nicht, wie es anfing - vielleicht damals am ersten Tag, als Rasmus den Flitzbogen bekam und dankbar seine Arme um Nickes Hals schlug und sagte: »Ich finde, du bist sehr, sehr nett, kleiner Nicke!«
        Und jetzt hat Nicke gro?e Sorgen. Wie soll er Rasmus von hier wegbekommen, zuruck zu den anderen? Etwas mu? dort unten an der Anlegestelle passiert sein. Das Flugzeug ist nicht abgeflogen, und das Motorboot hatte sicher auch etwas zu bedeuten. Irgendwie ist jetzt das Ende dieser elenden Geschichte nahe, und Peters ist erledigt - so erledigt wie er. Nicke ist zufrieden. Alles ware jetzt gut, wenn nur Rasmus schnellstens zu seinem Vater zuruckkame. Ein kleiner Junge darf doch nicht im Wald sitzen und zusehen, wie ein Mensch stirbt. Das mochte Nicke seinem kleinen Freund ersparen, aber er wei? nicht, wie er es machen soll. Er kann ihm doch nicht einfach sagen: »Geh jetzt, der alte Nicke will sterben, und dabei will er allein sein, will hier allein liegenbleiben und froh daruber sein, da? du wieder ein freier, glucklicher Junge bist, der mit dem Flitzbogen und den Borkenbooten spielen kann, die Nicke fur dich geschnitzt hat!« Nein, das kann man nicht sagen!
        Und jetzt legt Rasmus den Arm um seinen Hals und sagt in zartlichstem Tonfall:
»Komm jetzt, kleiner Nicke, wir wollen gehen! Wir gehen zu meinem Vati!«

»Nein, Rasmus«, sagt Nicke schwer, »ich kann jetzt nicht gut gehen. La? mich, bitte, hierbleiben. Aber du sollst gehen - ich will, da? du gehst!«
        Rasmus schiebt die Unterlippe vor. »Stell dir vor, da? ich das nicht tun werde«, sagt er bestimmt. »Ich warte, bis du mit-kommst. Bitte sehr!«
        Nicke antwortet nicht. Seine Krafte verlassen ihn, und er wei? auch nicht, was er sagen soll. Und Rasmus bohrt seine Nase in Nickes Backe und flustert: »Denn ich hab’ dich so lieb …«
        Da weint Nicke. Seit er ein Kind war, hat er nicht mehr geweint. Aber jetzt weint er. Weil er so mude ist und weil das er-stemal in seinem Leben ein Mensch so etwas zu ihm sagt.

»So, hast du das?« brummt er. »Denk mal an, da? du einen alten Kidnapper gern haben kannst, wie?«

»Ja, aber ich finde wirklich, da? Kidnapper nett sind«, versichert Rasmus.
        Nicke nimmt all seine Kraft zusammen. »Rasmus, jetzt mu?t du tun, was ich dir sage. Du mu?t zu Kalle und Anders und Eva-Lotte gehen. Ich denke, du willst eine Wei?e Rose werden! Das willst du doch?«

»Ja, naturlich … aber …«

»Na also! Dann mach schon! Ich glaube, die warten schon auf dich!«

»Und du, Nicke? Was …«

»Ach, Blodsinn! Ich liege hier so schon weich im Moos, mir fehlt nichts. Ich bleibe hier und ruhe mich aus und will mir anhoren, wie die Vogel Musik machen.«

»Aber …« sagt Rasmus und spricht nicht weiter, denn er hort jemanden in der Ferne rufen. Jemand ruft seinen Namen. »Das ist ja Vati«, sagt er dann und lacht.
        Da weint Nicke wieder, aber ganz leise, den Kopf in das Moos gedruckt. Ja, manchmal ist Gott einem armen Sunder gnadig - jetzt braucht er sich um Rasmus keine Sorgen mehr zu machen. Und er weint vor Dankbarkeit - und weil es so schwer ist, der kleinen Gestalt Adieu zu sagen, die da in dem schmutzigen Overall steht und nicht wei?, ob sie zu Vati gehen oder bei Nicke bleiben soll.

»Geh nur, und sag deinem Vater, da? da im Wald ein alter kaputter Kidnapper herumliegt«, sagt Nicke leise.
        Da schlingt Rasmus wieder die Arme um seinen Hals und schluchzt: »Du bist aber kein alter kaputter Kidnapper, Nicke!«
        Nicke hebt muhsam eine Hand und streichelt Rasmus das Gesicht. »Adieu, Haschen«, flustert er. »Geh jetzt und werde eine Wei?e Rose, die feinste kleine Wei?e Rose …
        Rasmus hort, wie wieder sein Name gerufen wird. Er steht schluchzend auf, bleibt unentschlossen stehen und sieht Nicke an. Dann geht er langsam weg. Dreht sich ein paarmal um und winkt. Nicke hat keine Kraft mehr zu winken, aber seine einfaltigen Augen folgen der Kindergestalt, und diese Augen sind voller Tranen.
        Jetzt gibt es keinen Rasmus mehr. Nicke schlie?t die Augen.
        Er ist zufrieden - und mude. Es wird schon sein, endlich zu schlafen.
        SECHZEHNTES KAPITEL

»Georg Louis Peters«, sagte der Kommissar der Staatspolizei, »es stimmt genau! Endlich! Finden Sie nicht selbst, da? es endlich Zeit wurde, Sie einmal zu erwischen?«
        Peters gab darauf keine Antwort. »Geben Sie mir eine Zigarette«, sagte er ungnadig.
        Schutzmann Bjork ging auf ihn zu und steckte ihm eine Zigarette in den Mund. Peters sa? auf einem Stein bei der Anlegestelle. Seine Hande waren mit Handschellen zusammengefes-selt. Hinter ihm standen seine Kumpane, Blom und Svanberg und der Pilot.

»Sie wissen doch, da? wir schon eine ganze Weile hinter Ihnen her sind«, fuhr der Polizeikommissar fort. »Ihren Sender hatten wir schon vor zwei Monaten angepeilt, aber bevor wir zugreifen konnten, waren Sie uns entwischt. Haben Sie die Spionage aufgegeben? Sie sind ja jetzt statt dessen anscheinend unter die Menschenrauber gegangen?«

»Das eine kann ein so gutes Geschaft sein wie das andere«, sagte Peters mit offenherzigem Zynismus.

»Moglich«, sagte der Kommissar. »Aber jetzt ist es auf jeden Fall sowohl mit dem einen als mit dem anderen fur Sie zu Ende.«

»Ja, man ist wohl fertig«, gab Peters bitter zu. Er zog kraftig an seiner Zigarette. »Etwas mochte ich gern noch wissen«, sagte er. »Wie haben Sie herausbekommen, da? ich auf Kalvo war?«

»Das haben wir erst bemerkt, als wir hierherkamen«, erwiderte der Kommissar. »Und wir kamen her, weil ein Funkama-teur eine Nachricht auf der Kurzwelle auffing, die er telefonisch an uns weitergab. Eine Nachricht, die unser Freund Kalle Blomquist gestern abend durchgab.«
        Peters warf einen gehassigen Blick auf Kalle. »Konnte ich mir denken«, sagte er.
»Ware ich nur zwei Minuten zeitiger gekommen, dann ware er erledigt gewesen! Verdammte Goren!
        Sie sind schuld an all meinem Pech. Ich schlage mich lieber mit der ganzen schwedischen Staatspolizei herum als noch einmal mit den dreien.«
        Der Kommissar ging zu den drei Wei?en Rosen, die auf dem Steg sa?en. »Die Polizei kann froh sein, so tadellose Mitarbeiter zu haben«, sagte er.
        Die drei schlugen bescheiden die Augen nieder. Und Kalle dachte, da? es ja eigentlich nicht die Polizei war, der sie hatten helfen wollen, sondern, genauer genommen, Rasmus.
        Peters druckte den Zigarettenstummel mit dem Absatz aus.

»Worauf warten wir eigentlich noch?« fragte er eisig. »Ich habe hier nichts mehr verloren.«
        Eine kleine grune Insel zwischen vielen anderen in einem blauen Sommermeer. Die Sonne scheint auf die kleinen Hauser, auf die Anlegestelle und auf die Boote, die dort liegen und auf den Wellen schwappen. Hoch uber den Tannenspitzen segeln auf wei?en Schwingen die Mowen. Ab und zu taucht eine blitzschnell ins Wasser und erscheint wieder mit einem kleinen Ukelei im Schnabel. Die Bachstelze trippelt noch immer geschaftig durch das Heidekraut, und die Ameisen klettern weiterhin uber ihren Stein. So wird es heute sein und morgen und alle Tage bis zum letzten Sommertag. Aber niemand wird es beachten, denn niemand wird hier sein. In einigen wenigen Minuten wird diese Insel sich selbst uberlassen sein, ihren Blicken entzogen, und sie werden sie nie wiedersehen.

»Jetzt kann ich Eva-Lottes Hauschen nicht mehr sehen«, sagte Kalle.
        Sie hockten achtern im Motorboot und sahen zu der Insel zuruck, die sie jetzt verlie?en. Sie dachten zuruck und schuttelten sich. Sie waren froh, dieses sonnige grune Gefangnis endlich hinter sich zu wissen.
        Rasmus sah nicht zuruck. Er sa? auf den Knien seines Vaters und war besorgt, weil sein Vater so viel Bart im Gesicht hatte.
        Wenn der nun weiterwuchs und langer und langer wurde und sich dann eines Tages, wenn Vati Motorrad fuhr, im Vorderrad verhedderte? Noch etwas beunruhigte ihn.

»Vati, warum schlaft Nicke eigentlich mitten am Tage? Ich will, da? er wach wird und mit mir spricht.«
        Der Professor warf einen besorgten Blick zur Bahre, auf welcher der besinnungslose Nicke lag. Wurde er jemals Gelegenheit bekommen, diesem Mann dort fur das zu danken, was er fur seinen Sohn getan hatte? Sicher nicht. Es stand schlecht um Nicke, er hatte wenig Chancen, am Leben zu bleiben. Mindestens zwei Stunden wurde es noch dauern, bis er auf dem Ope-rationstisch lag, und dann war es vielleicht zu spat. Es war ein Wettlauf mit dem Tode. Schutzmann Bjork tat sicherlich alles, um das Letzte aus den Motoren herauszuholen, aber …

»Jetzt sehe ich die Anlegestelle nicht mehr«, sagte Eva-Lotte.

»Und das ist gut so«, sagte Kalle. »Aber sieh mal, Anders, dort hinten ist unsere Badeklippe.«

»Und unsere Reisighutte«, murmelte Anders.

»In Hutten zu schlafen, macht aber Spa?, Vati, das kannst du glauben«, versicherte Rasmus.
        Kalle dachte plotzlich an etwas, woruber er mit dem Professor sprechen mu?te. »Ich hoffe, Herr Professor, da? Ihr Motorrad noch da ist, wo wir es versteckt haben. Hoffentlich hat es niemand gestohlen.«

»Wir fahren mal an einem Tag hin und suchen«, sagte der Professor. »Meine Geheimdokumente machen mir mehr Kummer.«

»Pfff!« Kalle winkte ab. »Die habe ich doch an einer ganz sicheren Stelle versteckt.«

»Na, jetzt kannst du uns ja wohl erzahlen, wo«, sagte Eva-Lotte neugierig.
        Kalle lachelte geheimnisvoll. »Rate mal! Im Kommodenschubfach auf dem Backereiboden naturlich!«
        Eva-Lotte schrie erschrocken auf. »Bist du wahnsinnig?«
        kreischte sie. »Stell dir vor, wenn die Roten sie geklaut haben -was dann?«
        Der Gedanke schien Kalle zu beunruhigen. Aber das ging schnell vorbei. »Pfff«, sagte er, »dann klauen wir sie einfach zuruck.«

»Ja«, rief Rasmus eifrig. »Wir sto?en Kriegsschreie aus und klauen sie wieder zuruck. Ich werde auch eine Wei?e Rose, Vati!«
        Diese Mitteilung trostete seinen Vater nur wenig.

»Kalle, du machst mich wei?haarig«, rief der Professor.

»Gewi?, ich stehe zeit meines Lebens in tiefer Dankesschuld bei dir, aber das sage ich dir, wenn die Papiere weg sind …«
        Schutzmann Bjork unterbrach ihn: »Regen Sie sich nicht auf, Herr Professor! Wenn Kalle Blomquist sagt, da? Sie ihre Papiere wiederbekommen, bekommen Sie sie auch!«

»Nun ist jedenfalls Kalvo ganz und gar verschwunden«, stellte Anders fest und spuckte in das strudelnde Kielwasser.

»Und Nicke, der schlaft blo?, schlaft und schlaft«, brummte Rasmus.
        Das alte gute Hauptquartier - niemand hat jemals ein besseres gehabt als die Wei?e Rose! Der Backereiboden ist gro? und gerau-mig, und es gibt dort viele schone Sachen. Wie die Eichhornchen das Gute in ihr Nest tragen, so haben die Wei?en Rosen im Lauf der Jahre hierher alle ihre Kostbarkeiten eingesammelt. Die Wande sind mit Bogen, Schilden und Schwertern geschmuckt. Am Dachbalken hangt ein Trapez. Tischtennisballe, Boxhandschuhe und alte illustrierte Wochenzeitschriften haufen sich in den Ecken.
        Und an einer Wand steht Eva-Lottes zerkratzte Kommode, in der die Wei?en Rosen ihren geheimen Reliquienschrein verwahren. In diesem Schrein liegen die Papiere des Professors. Besser gesagt: lagen. Er hat sie zuruckbekommen, diese wertvollen Dokumente, die so viel Sorgen und Kummer verursacht haben und nun in Zukunft in einem sicheren Bankfach eingesperrt liegen werden.
        Nein, die Roten hatten sie nicht genommen. Eva-Lottes dustere Prophezeiung hatte nicht gestimmt.

»Hatten wir geahnt, da? die Papiere in deiner Kommode liegen, wir hatten sie sicher in unser Hauptquartier gebracht«, sagte Sixtus, als samtliche Ritter der Wei?en und Roten Rose die abenteu-erlichen Erlebnisse besprachen. Sie sa?en im Garten des Backermeisters, und Anders begleitete seine schauerliche Erzahlung mit gewaltigen Gesten.

»Es fing an, als ich auf dem Busch an der Ruinenwand sa?. Seitdem hatte man nicht eine ruhige Minute«, versicherte er.

»Ihr habt immer ein Schwein«, sagte Sixtus verbittert. »Warum konnten die Kidnapper nicht einige Minuten fruher kommen, als wir an Eklunds Villa vorbeigingen?«

»Du drehst ganz schon auf«, wehrte Eva-Lotte ab. »Armer Peters, wenn er euch auf dem Hals gehabt hatte - lebenslanglich ware dann zuviel gewesen.«

»Bettelst du um Schlage?« fragte Sixtus.
        Das war am ersten Tag nach der Ruckkehr gewesen. Seitdem waren einige Tage vergangen. Und jetzt sind die Wei?en Rosen in ihrem Hauptquartier auf dem Backereiboden versammelt.
        Vor ihnen steht ihr Anfuhrer und erhebt seine machtige Stimme: »Ein edler Mann und tapferer Krieger soll nun zum Ritter der Wei?en Rose geschlagen werden. Ein Kampfer, dessen Name weithin gefurchtet ist: Rasmus Rasmusson - tritt vor!«
        Der gefurchtete Kampfer tritt vor. Sicher ist er klein und nicht besonders erschreckend anzusehen, aber auf seiner Stirn brennt das Feuer der Begeisterung, das einen Ritter der Wei?en Rose kennzeichnet. Er erhebt seinen Blick zu dem Anfuhrer. In seinen dunkelblauen Augen ist ein Licht, das deutlich verrat: Jetzt erfullt sich ein tiefer und inbrunstiger Wunsch. Endlich wird er ein Ritter der Wei?en Rose, endlich!

»Rasmus Rasmusson, erhebe deine rechte Hand und schwore den heiligen Eid. Schwore, da? du nun und immerdar der Wei-
        - en Rose die Treue haltst, da? du keine Geheimnisse verraten willst und da? du die Roten Rosen bekampfen willst, wo du nur ihre Nasen siehst.«

»Ich will es versuchen«, sagte Rasmus Rasmusson. Er hob seine Hand und begann:
»Ich schwore, nun und immerdar eine Wei?e Rose zu sein und alle Geheimnisse zu verraten, wo meine Nase nur zu sehen ist, pfui Blase, ja, das schwore ich.«

»Alle Geheimnisse verraten - ja, das glaube ich ihm sicher«, flusterte Kalle Eva-Lotte zu. »Ich habe noch nie ein Knablein gesehen, das so geschickt an seinem eigenen Mund vorbeireden kann wie er.«

»Ja, aber er ist auf jeden Fall in Ordnung!« sagte Eva-Lotte.
        Rasmus sah erwartungsvoll seinen Anfuhrer an. Was wurde nun noch geschehen?

»Na, du hast es nicht ganz richtig gesagt«, sagte Anders lachelnd. »Aber das macht schlie?lich nicht viel aus. Rasmus Rasmusson, knie nieder!« Und Rasmus fiel auf dem abgenutzten Fu?boden in die Knie. Wie war er glucklich, oh, er hatte Lust, die Bohlen zu streicheln! Bald war dies hier auch sein Hauptquartier!
        Der Anfuhrer nahm ein Schwert von der Wand. »Rasmus Rasmusson«, sagte er. »Nachdem du nun der Wei?en Rose durch deinen Eid die Treue gelobt hast, schlage ich dich hiermit zum Ritter der Wei?en Rose.« Er schlug Rasmus leicht mit dem Holzschwert auf die Schulter, und dann sprang Rasmus freudestrahlend vom Boden auf.

»Ist es nun auch wirklich wahr, da? ich eine Wei?e Rose bin?« fragte er.

»Wei?er als die meisten«, sagte Kalle.
        Im selben Moment flog durch die offene Bodenluke ein Stein. Mit einem Knall landete er auf dem Fu?boden. Anders beeilte sich, ihn aufzuheben. »Nachricht vom Feind«, rief er und machte das Papier ab, das um den Stein gewickelt war.

»Was schreiben diese kleinen Rotlichen?« wollte Eva-Lotte wissen.

»Ihr Lausepudel der Wei?en Rose!« las Anders. »Alte Papiere hinter alten Bucherregalen hervorkramen, das konnt Ihr wohl, aber den Gro?mummrich werdet Ihr nie bekommen.
        Denn seht, er befindet sich im Haus des gro?en wilden Tieres, und dessen Name ist GEHEIM. Bei?t Euch das gro?e wilde Tier, wenn Ihr verbotener weise Karten spielt, nicht in die Hosen, habt Ihr den hochsten Trumpf fur Euch und schon den halben Namen. Dann schreitet suchend durch des Namens Rest besucht das gro?e Tier, wenn Ihr das ganze Ratsel uberhaupt versteht - Ihr Lausepudel!«

»Sto?en wir jetzt einen Kriegsschrei aus?« fragte Rasmus voller Hoffnung, als der Chef zu Ende gelesen hatte.

»Noch nicht, erst mussen wir nachdenken«, sagte Eva-Lotte.

»Nachdenken! Woruber?« fragte Anders.

»Ja«, sagte Kalle, »sie lassen merklich nach, die Roten. Gro-
        - es wildes Tier. In Kleinkoping gibt es doch wohl keine Lowen, Panther, Gorillas, Elefanten. Die Schafe konnen sie nicht meinen. Was also bleibt?«

»Pferde, Hunde und Katzen«, sagte Eva-Lotte.

»Bei uns im Garten sind viele Regenwurmer«, erganzte Rasmus.

»Aber die sind nicht wild und gro? schon gar nicht«, meinte Eva-Lotte.

»Pferde konnen wir auch streichen, bleiben Hunde und Katzen. So leicht ist das Ratsel ubrigens gar nicht, finde ich«, sagte Anders nachdenklich.

»Jaja, etwas Gehirn mu? man schon haben. Ich jedenfalls kenne keine einzige Katze in ganz Kleinkoping, die wild ist«, sagte Eva-Lotte.

»Und damit sind wir bei den Hunden angelangt«, sagte Kalle lachend. »Angestrengt haben sich die Roten wirklich nicht - ich tippe auf Doktor Hallberg!«
        Die anderen sahen Kalle verdutzt an. Was meinte er nur?
        Wenn Doktor Hallberg auch kein Kinderfreund war - ein gro-
        - es wildes Tier war er ja wohl auch nicht gerade. Plotzlich leuchtete es in Eva-Lottes Augen auf. Sie stie? Anders in die Seite und lachte. »Anders, Anders, wo ist dein Kopf? Ich hab’s!
        Er meint nicht Hallberg - er meint - - na?«
        Anders runzelte die Stirn, dann lachte auch er: »Ich meine, Kalle meint in Wirklichkeit den Hund, meinst du, Eva-Lotte.«

»Richtig, endlich!« rief Kalle. »Jetzt ist es nur noch ein Kin-derspiel. Der hochste Trumpf: das AS, und wenn wir ihn besu-chen wollen, schreiten wir durch das TOR, das ist der Rest des Namens: ASTOR. Astor ist Doktor Hallbergs Hund.«

»Aber wie in aller Welt haben sie den Gro?mummrich zu Astor in die Hundehutte legen konnen?« uberlegte Eva-Lotte.

»Sie mussen ihn vorher chloroformiert haben.«

»Wen - den Gro?mummrich?« fragte Anders gereizt.

»Quatsch, den Astor naturlich!«
        Astor war der Schaferhund vom Oberarzt des Krankenhauses, und er war genauso bosartig wie der Oberarzt, und das wollte etwas hei?en.

»Die Roten haben sicher aufgepa?t, als Doktor Hallberg den Hund ausgefuhrt hat«, sagte Kalle.

»Und was machen wir jetzt?« fragte Eva-Lotte.
        Sie setzten sich auf den Fu?boden und hielten Kriegsrat. Rasmus auch. Seine Augen waren gro? wie Teller und die Ohren ganz rot. Jetzt endlich sollten also die Abenteuer beginnen! Anders sah zu Rasmus, und in seinen Augen lag ein Lacheln. Nun hatte Rasmus so lange und so ergeben darauf gewartet, eine Wei-
        - e Rose zu werden, konnte man da das Herz haben, es ihm abzu-schlagen? Eigentlich war es ja recht beschwerlich, einen so kleinen Knirps die ganze Zeit am Bein hangen zu haben. Man mu?te versuchen, irgendeine Beschaftigung fur ihn zu finden, damit man sich in Ruhe mit den Problemen des Rosenkrieges befassen konnte ohne allzu gro?e Einmischung von Ritter Rasmus.

»Du, Rasmus«, sagte Anders. »Sause los zum Krankenhaus und sieh nach, ob Astor in seiner Hutte liegt.«

»Darf ich dann einen Kriegsschrei aussto?en?« fragte Rasmus.

»Naturlich, das darfst du«, sagte Eva-Lotte. »Sause nur los.«
        Und Rasmus sauste. Mehrere Stunden hatte er geubt, an dem Seil hochzuklettern, das die Wei?en Rosen gebrauchten, um in ihr Hauptquartier und hinaus zu kommen. Raufklettern konnte er noch nicht, aber runterrutschen, das konnte er. Nun sprang er auf das Seil zu und stie? den wildesten Kriegsruf aus, der jemals durch den Garten des Backermeisters geschallt war.

»Schon«, sagte Anders, als er verschwunden war. »Jetzt konnen wir wenigstens uber Sachen und Dinge reden. Zuerst - aus-spionieren, wann Doktor Hallberg mit seinem Astor auf Promenade geht. Das ist deine Aufgabe, Eva-Lotte.«

»Wird geschehen«, sagte Eva-Lotte.
        Rasmus trabte zum Krankenhaus. Er wu?te den Weg, er hatte Nicke dort schon einmal besucht. Die Villa des Oberarztes lag neben dem Krankenhaus. »Privatbesitz« und
»Achtung, bissiger Hund« stand auf den Tafeln, die neben dem Tor, das in den Garten fuhrte, angebracht waren. Aber Rasmus konnte glucklicherweise nicht lesen, und deshalb ging er in den Garten hinein. Astor lag in seiner Hutte. Er knurrte bose, als er Rasmus sah, bose und sehr gefahrlich. Rasmus blieb stehen. Er hatte seinen Auftrag, den ihm der Chef gegeben hatte, falsch aufgefa?t. Er glaubte, es ware seine Pflicht, den Gro?mummrich in das Hauptquartier zu bringen. Aber wie konnte er es wagen, wenn Astor ihn so unheimlich anknurrte und die Zahne zeigte? Hilfesuchend sah er sich um und bemerkte zu seiner Freude, da? ein Onkel auf ihn zukam. Derselbe Onkel ubrigens, der Nicke operiert hatte.
        Doktor Hallberg war auf dem Weg zum Krankenhaus, als er den kleinen Ritter der Wei?en Rose vor Astors Hutte stehen sah.
        Selbstverstandlich wu?te der Doktor nicht da? er einen Ritter vor sich hatte. Er konnte sehr wutend werden, wenn die Kinder den Astor reizten, und deshalb beschleunigte er seine Schritte, um einzugreifen. Aber Rasmus, der in dem Glauben lebte, da? nicht nur Kidnapper, sondern auch Oberarzte nette Menschen seien, sah bittend zu dem strengen Gesicht hinauf und sagte:

»Hor mal, nimm doch mal deinen Hund da raus, ich will namlich den Gro?mummrich holen!« Und als der Doktor nicht sofort tat, worum er gebeten worden war, nahm Rasmus ihn bei der Hand und zog ihn sanft, aber bestimmt zur Hundehutte.

»Komm, beeil dich«, sagte er, »denn ich habe keine Zeit!«

»Hast du nicht?« sagte Doktor Hallberg und lachelte. Jetzt erkannte er Rasmus - das war doch der kleine Junge, der entfuhrt worden war und von dem so viel in den Zeitungen gestanden hatte.

»Willst du nicht mitkommen und Nicke guten Tag sagen?«
        fragte der Doktor.

»Ja, aber erst, wenn ich den Gro?mummrich habe«, sagte der kleine Ritter unerschutterlich.
        Nicke erfuhr alles uber den Gro?mummrich. Er durfte ihn sogar sehen. Rasmus hielt ihn ihm stolz unter die Nase. Und er stie? einen Kriegsschrei aus, damit Nicke horen konnte, wie das war.

»Jetzt bin ich namlich eine Wei?e Rose, verstehst du, Nik-ke?« erklarte Rasmus.
»Vor einer Stunde habe ich darauf einen Eid geschworen.«
        Nicke sah ihn mit Stolz in den Augen an. »Ja, und eine feinere Wei?e Rose hatten die nie kriegen konnen«, sagte er zufrieden.
        Rasmus streichelte ihm die Hande. »Schon, da? du nicht mehr schlafst, Nicke«, sagte er.
        Nicke fand das auch. Sicher wurde es noch eine ganze Zeit dauern, bis er das Krankenhaus verlassen durfte. Aber er wu?te, er wurde gesund werden, und was dann kam, sollte wohl auf irgendeine Art in Ordnung gebracht werden. Sowohl Doktor Hallberg als der Professor hatten versprochen, ihm zu helfen, soviel sie konnten. Nicke sah also der Zukunft in Ruhe entgegen.

»Und es ist gut, da? du nicht mehr blutest«, sagte Rasmus und zeigte auf Nickes schneewei?es Hemd. Das fand Nicke auch. Er war vorher nie krank gewesen und besa? noch die tiefe Bewunderung des Naturkindes fur die seltsamen Einfalle der Medizinmanner. Das mit der Bluttransfusion zum Beispiel - davon mu?te er Rasmus doch noch erzahlen.

»Stell dir vor, die Doktoren nahmen Blut von einem anderen Menschen und pumpten es mir dann ein, weil ich auf Kalvo so viel davon verloren hatte.«
        Rasmus fand auch, da? es ganz merkwurdig war, was die Arzte sich so ausdachten.
        Aber er hatte es plotzlich sehr eilig. Eigentlich durfte man ja keine Krankenbesuche machen, wenn man mit dem Krieg der Rosen zu tun hatte. Er druckte den Gro?mummrich in seiner Hand und lief zur Tur.

»Hallo, Nicke«, sagte er, »bis dann. Ich komme mal einen anderen Tag wieder zu dir.« Bevor Nicke antworten konnte, war er verschwunden.

»Du kleines Haschen«, flusterte Nicke ganz leise vor sich hin.
        Kalle und Anders und Eva-Lotte sa?en noch immer auf dem Backereiboden. Backermeister Lisander war gerade mit frischen Schnecken bei ihnen gewesen.

»Eigentlich durftet ihr ja keine Schnecken haben«, brummte er, »bei so viel Arger, den man durch euch hat. Aber«, und er streichelte Eva-Lottes Backen,
»genaugenommen habt ihr naturlich trotzdem Schnecken verdient.«
        Als er wieder in seine Backstube gegangen war, horte man von drau?en einen Kriegsschrei. Der ausgesandte Kundschafter kam zuruck. Mit dem Gepolter einer ganzen Heerschar kletterte er die Bodentreppe hinauf.

»Hier«, sagte er und schleuderte den Gro?mummrich auf den Fu?boden.
        Kalle, Anders und Eva-Lotte starrten ihn an. Sie starrten den Gro?mummrich an. Und dann begannen sie zu lachen.

»Die Wei?e Rose besitzt eine Geheimwaffe«, jubelte Anders.

»Wir besitzen Rasmus!«

»Ja, nun konnen die Roten baden gehen und endgultig Feier-abend machen«, sagte Kalle.
        Rasmus sah unruhig von dem einen zum anderen. Die lachten doch wohl nicht uber ihn? Er hatte doch hoffentlich alles richtig gemacht?

»Ich hab’s doch wohl richtig gemacht?« fragte er angstlich.
        Eva-Lotte gab seinem Naschen einen kleinen Stups.

»Naturlich«, sagte sie und lachte. »Das hast du gro?artig gemacht, Ritter Rasmus!

  
        Kalle-Blomquist-Song
        Text: Kurt Rei?
        Musik: Erich Bender
        Wird etwas gestohlen
        an irgendeinem Ort,
        dann mu? man sich holen
        unbedingt sofort:
        Kalle Blomquist, den Meisterdetektiv,
        Kalle Blomquist, den Meisterdetektiv.
        Alle Diebe zittern
        am Tage und zur Nacht,
        sehn sich hinter Gittern,
        und wer hat dies vollbracht:
        Kalle Blomquist, der Meisterdetektiv,
        Kalle Blomquist, der Meisterdetektiv
        Alle Leute sprechen
        davon in jeder Stadt,
        es gibt kein Verbrechen,
        das aufgeklart nicht hat:
        Kalle Blomquist, der Meisterdetektiv,
        Kalle Blomquist, der Meisterdetektiv.
        Darum la?t die Finger
        von fremden Sachen weg,
        schon wartet der Bezwinger
        heimlich im Versteck:
        Kalle Blomquist, der Meisterdetektiv,
        Kalle Blomquist, der Meisterdetektiv.
        notes
        Ïðèìå÷àíèÿ

1
        Amerikanische Bezeichnung fur Kinderrauber.

 
Êíèãè èç ýòîé ýëåêòðîííîé áèáëèîòåêè, ëó÷øå âñåãî ÷èòàòü ÷åðåç ïðîãðàììû-÷èòàëêè: ICE Book Reader, Book Reader, BookZ Reader. Äëÿ àíäðîèäà Alreader, CoolReader. Áèáëèîòåêà ïîñòðîåíà íà íåêîììåð÷åñêîé îñíîâå (áåç ðåêëàìû), áëàãîäàðÿ ýíòóçèàçìó áèáëèîòåêàðÿ.  ñëó÷àå òåõíè÷åñêèõ ïðîáëåì îáðàùàòüñÿ ê