Ñîõðàíèòü .
Die Riesin Arachna Þðèé Êóçíåöîâ
        zauberland #9 Der Tiger irrte sich nicht. Ein Riesenkerl mit machtigen Fausten hatte den Sabelzahntiger am Genick gepackt und hielt ihn wie ein Katzchen in die Hohe. Achr, einst stolzer Anfuhrer eines Rudels gefahrlicher Raubtiere, sieht sich allein und gefangen von den Riesen des Stammes der Uiden.
        Doch dann erweist sich diese Gefangenschaft zum Wohle, denn das Riesenmadchen Ah wird seine Freundin, Spielgefahrtin und Weggefahrtin ins Zauberland. Die Seeschlange Glua bringt beide uber den dunklen Flu? hin zum Todesriff, dem Eingangstunnel zum Zauberland. Da drangt sich die Riesin Arachna hinzu. Die Schlange ist stark, und wahrscheinlich hatte sie die Riesin abgeschuttelt, ware da nicht der Felsblock gewesen. Den entdeckt die Riesin und wickelt den Schwanz der Schlange um den Stein herum. Mit letzter Kraft ermoglicht die Schlange Glua dem Sabelzahntiger und dem Riesenmadchen Ah, aber auch der Riesin Arachna die Ruckkehr ins Zauberland. Jetzt will Arachna beide gefangen nehmen. Flucht und Verfolgung enden bei dem schwarzen Stein des Zauberers Hurrikap.
        Seine Tunnel treiben den Tiger und das Madchen Ah in die Vergangenheit und unverhofften Abenteuern entgegen. Arachna fuhrt der Tunnel in ihre Kindheit zuruck, zu den Zwergen im Kampf gegen Karena.
        Aus dem Russischen von Aljonna Mockel
        Einbandgestaltung Leonid Wladimirski / Hans-E. Ernst
        Illustrationen Hans-E. Ernst
        ERSTER TEIL:
        ARACHNAS RUCKKEHR
        DER TIGER IN NOTEN
        Der Sabelzahntiger Achr trottete ziellos dahin. Einst Anfuhrer eines ganzen Rudels gefahrlicher Raubtiere, hatte er sich schon als Herrscher uber das Volk der Kauer gesehen. Dann aber war er vom Hohlenlowen Grau zweimal hintereinander uberlistet und besiegt worden. Von diesem Fremdling, der Gott wei? woher gekommen war und sich im Zauberland auf die Seite des Tapferen Lowen geschlagen hatte!
        Die Erinnerung an diese Schmach bedruckte den Sabelzahntiger sehr, das war ihm deutlich anzusehen. Seine sonst so runden Backen hingen schlaff herab, verdeckten fast vollig die langen spitzen Hauer, und die traurig gesenkten Barthaare erinnerten an einen alten Staubwedel.
        Andererseits war aber auch zu erkennen, da? Achr schon im nachsten Augenblick vor Zorn zu explodieren drohte. Man brauchte nur seinen Schwanz zu betrachten, der wild von einer Seite zur anderen ausschlug, so als wollte das Tier mit der Quaste seine Spuren verwischen.
        Doch seine Gegner hielten ihn offenbar nicht einmal einer Verfolgung fur wurdig. Niemand weit und breit, der sich ihm an die Fersen geheftet hatte! Der Hohlenlowe Grau war mit dem Tapferen Lowen und den funf Sabelzahntigern, dem ehemaligen Rudel Achrs, auf dem Weg in die Gro?e Wuste, wo die besten Handwerker des Zauberlandes und die Au?erirdischen vom Planeten Rameria den Katamaran »Arsak« bauten.
        Mit diesem Katamaran sollte die Suche nach dem Seemann Charlie Black aufgenommen werden, der irgendwo im Golf von Mexiko Schiffbruch erlitten hatte.
        Doch Achr gehorte keineswegs zu denen, die beim ersten Ruckschlag aufgaben oder mit dem vorliebnahmen, was ihnen irgendwelche dahergelaufenen Lowen gro?mutig uberlie?en! Er schmiedete Racheplane gegen seine Erzfeinde und gegen die ungetreuen Tiger, die ihn verraten hatten.
        Freilich waren das fur einen allein, ja sogar fur einen wie ihn, ziemlich viele Gegner. Ich mu? mir Verbundete suchen, sagte sich Achr.
        Andererseits - was fur Gleichgesinnte gab es denn im Zauberland noch. Die Sechsfu?er, fruher ungebardig und gefurchtet, waren langst zahm geworden, und der Drache Oicho vollig harmlos. Er hielt au?erdem Freundschaft mit dem Scheuch, dieser lacherlichen Strohpuppe, und mit dem inzwischen fast ganz eingerosteten Eisernen Holzfaller.
        Der Sabelzahntiger lief dahin, hing seinen dusteren Gedanken nach und bemerkte nicht, da? er plotzlich an jener Fallgrube angelangt war, zu der er seinerzeit den Hohlenlowen gelockt hatte. Er konnte nicht mehr anhalten und sturzte selber hinein.
        Im Grunde hatte Achr dem Lowen dankbar sein mussen, denn Grau hatte bei seinem Sturz damals ein Loch in die Grubenwand geschlagen, durch das man entkommen konnte. Dahinter lag ein uralter unterirdischer Gang. Der Tiger allein hatte es nie geschafft, sich aus dieser Falle zu befreien, er war zu schwach.
        Achr entdeckte die Offnung und schlupfte hindurch. Bald darauf stie? er auf Graus Spuren. Sie fuhrten nach rechts, und er folgte ihnen in der Annahme, am Gelben Backsteinweg herauszukommen, wo die Begegnung mit dem Lowen stattgefunden hatte. Doch das sollte sich als Irrtum erweisen. Grau hatte sich nur anfangs rechts gehalten, dann jedoch die Richtung gewechselt. Er wollte den Kauern zu Hilfe eilen und hatte die Sabelzahntiger zu Recht in ihrer Nahe vermutet.
        Uberzeugt, den richtigen Weg zu nehmen, achtete der Tiger bald nicht mehr auf die Spuren. Er trabte den Gang entlang, der immer tiefer ins Erdinnere fuhrte.
        Das beunruhigte den Tiger zunachst nicht besonders. Nur Durst bekam er langsam, und auch gegen eine kleine Mahlzeit hatte er nichts einzuwenden gehabt. Erst als die Staubschicht unter seinen Pfoten dicker wurde, bemerkte er, da? es keinerlei Spuren mehr gab. Er verlangsamte seinen Lauf.

»Bin ich etwa doch in die falsche Richtung gerannt?« schimpfte Achr. »Da hat mich dieser hinterhaltige Lowe also erneut genarrt! Na warte, Grau, das zahl ich dir heim!«
        Achr blieb stehen und wollte schon kehrtmachen, doch sein Lauf hatte mehr Staub aufgewirbelt, als ihm lieb sein konnte; die Wolke benahm ihm fast den Atem. Er fauchte wutend und zog sich etwas zuruck. Da wurde er wohl warten mussen, bis die Luft hier unten wieder einigerma?en klar war.
        Er legte sich hin, um einige Augenblicke auszuruhn. Doch daran war nicht zu denken. Die Staubschwaden glitten unaufhaltsam auf ihn zu, so da? er schnaufend und spuckend noch weiter zuruckwich. Der Boden wurde immer abschussiger, und so vorsichtig er auch vorankroch, um nicht noch mehr Schmutz aufzuwirbeln - die Wolke folgte ihm.
        Nachdem er wutend, aber naturlich vergebens seinen Widersacher Grau an die eigene Stelle gewunscht hatte, setzte er sogar zu einigen Sprungen an, um endlich wieder atmen zu konnen. Das allerdings endete mit einem neuen Reinfall. Beim dritten oder vierten Satz namlich prallte er in der Dunkelheit unvermutet und voller Wucht gegen eine Felswand.
        Achr setzte sich erschrocken auf seine Hinterbacken, sah unzahlige Sterne kreisen. Um wieder zur Besinnung zu kommen und zu uberprufen, ob er sich etwas verstaucht oder gar gebrochen hatte, bewegte er mehrmals den Kopf hin und her. Zum Gluck schien noch alles in Ordnung zu sein. Nur da? er jetzt wohl endgultig in der Falle sa?: von hinten kam der Staub immer naher, vorn aber waren die Felsen.
        Achr lief gehetzt umher, in der verzweifelten Hoffnung, ein Schlupfloch zu finden. Doch seitlich und vorn gab es nichts als undurchdringliches Gestein. So lang der unterirdische Gang auch war, hier schien er plotzlich zu enden.
        Wozu dann aber ein so ausgedehnter, vielleicht gar nicht zufallig entstandener Tunnel? Ob es an dieser Stelle einen Durchgang gegeben hatte, der spater zugemauert worden war? Moglicherweise um ungebetene Gaste abzuhalten?
        Achr machte sich hastig daran, die Wand vor ihm genauer zu untersuchen. Vielleicht entdeckte er einen Ri?, einen Spalt, den er verbreitern konnte. Warum sollte es ihm nicht gelingen, sich hindurchzuzwangen und auf der anderen Seite ans Tageslicht zu gelangen. Der Hohlenlowe hatte das schlie?lich auch geschafft.
        Doch bei dieser Arbeit wirbelte er nur neuen Schmutz auf, und auch die Schwaden hinter ihm holten ihn wieder ein. Schon waren Nase und Maul voller Staub.
        Verzweifelt schlug Achr mit den Tatzen und seinen machtigen Sabelzahnen auf die steinerne Wand ein. Wider Erwarten gelang es ihm nach und nach, in einem breiten Streifen Splitter und ganze Brocken herauszulosen. Ein Spalt offnete sich, und unvermittelt wurde es heller in der Hohle. Ein kaltes milchiges Licht drang zu ihm herein.
        Von seinem Erfolg beflugelt, arbeitete der Tiger emsig weiter. Hinter dem Spalt befand sich eine Art durchsichtiger Barriere. Achr klopfte ein gro?es Stuck davon frei - das Ganze schien so etwas wie eine Mauer zu sein, die sich im Laufe von Jahrhunderten, vielleicht sogar Jahrtausenden mit einer dicken Schicht von Kalk und Schmutz bedeckt hatte. Sie bestand nicht aus Steinen, sondern aus einem glasahnlichen unzerbrechlichen Material, das seinen Schlagen standhielt. Die Wand klirrte und drohnte unter den wuchtigen Hieben, trug aber nicht den kleinsten Kratzer davon. Im Gegenteil, als Achr nicht nachlie?, sie immer heftiger zu attackieren, brach er sich die Spitze eines seiner prachtvollen Sabelzahne ab. Da endlich gab er seine sinnlosen Bemuhungen auf und setzte sich erschopft auf den Boden.
        Der Staub hatte ihn mittlerweile eingeholt und hullte nicht nur ihn selbst ein, sondern die ganze Hohle mitsamt dem so muhsam blo?gelegten Fenster. Es hatte fur den Tiger die Rettung bedeuten konnen, denn dahinter lockte die Freiheit, eine ganze unterirdische Welt. In der Ferne sah man einen Flu? und eine Landschaft mit Talern und Hugeln.
        Doch das alles war fur ihn unerreichbar. Er war gefangen, und der Staub setzte sich in seiner Nase fest, in den Augen, ja sogar in der Kehle.
        Achr mu?te husten, auf einmal erschien ihm sein gewaltiger Zorn, sein Groll auf den Tapferen Lowen und den Hohlenlowen, der so unvermittelt im Zauberland aufgetaucht war, klein und nichtig. Eigentlich lohnt sich der Streit nicht, dachte er, es gibt Wichtigeres, ich sollte mich mit ihm vertragen. Immerhin lebten schon unsere Vorfahren zusammen und sind miteinander ausgekommen.
        DIE RETTUNG
        In diesem Augenblick geschah etwas Sonderbares. Kaum war der Tiger friedfertig geworden, kaum hatte er das Bose und Feindselige aus seinen Gedanken verdrangt, spurte er ein Kribbeln in seiner vom Staub ganz trockenen und hei?en Nase. Er streckte vorsichtig die Pfote aus und stellte zu seiner gro?en Uberraschung fest, da? die Barriere verschwunden war. Der Weg nach vorn war urplotzlich frei, und auch das Atmen wurde wieder leichter. Frische kuhle Luft kitzelte angenehm seine Nustern. Achr sauste begluckt los.
        Doch er kam nicht weit. Noch halb blind von dem gra?lichen Staub, der hinter ihm zuruckblieb, machte er einige Satze, ubersah aber einen unvermittelt vor ihm auftauchenden Abgrund. Vergeblich versuchte er, mitten im Sprung anzuhalten, es gelang nicht.
        Hals uber Kopf sturzte Achr zum zweitenmal an diesem ungluckseligen Tag in die Tiefe. Nur mit Muhe federte er den Fall ab, blieb danach wie betaubt am Boden liegen.
        Damit waren die Schrecken dieses Tages allerdings noch lange nicht ausgestanden. Der Tiger hatte sich kaum etwas von seinem Sturz erholt, da befand er sich schon wieder in der Luft. Besser gesagt, er spurte, wie er am Schlaffittchen gepackt und hochgehoben wurde. Das war ihm seit fruhester Kindheit nicht mehr widerfahren. Ja, jemand hielt ihn in die Hohe und wendete ihn hin und her, als wollte er sich vergewissern, was fur ein seltsames Spielzeug ihm zugefallen war.
        Der Tiger irrte sich nicht. Er sah ein Paar riesiger Augen auf sich gerichtet, die ihn neugierig musterten. Eine entsprechend gro?e Nase sa? darunter, ein gewaltiger Mund, und das alles gehorte zu einem Gesicht von betrachtlichen Ausma?en. Ein Riesenkerl mit machtigen Fausten hielt Achr gepackt.
        Aufs au?erste erbost, da? man ihn wie ein Hundchen behandelte, setzte sich der Tiger zur Wehr. Er ri? fauchend den Rachen auf, schlug mit den starken Tatzen nach dem fremden Gesicht, um dem Kerl die Nase zu zerfetzen, ihm die Augen auszukratzen. Ein fur allemal sollte ihm die Lust vergehen, einen Sabelzahntiger am Kragen zu packen. Doch der Riese lie? sich nicht uberrumpeln. Blitzschnell brachte er seine Nase aus der Gefahrenzone, Achr dagegen bekam einen Klaps auf die Schnauze, der sich gewaschen hatte. Tranen der Krankung traten ihm in die Augen, und der Schmerzensschrei, der seiner Kehle nun doch entfuhr, horte sich an wie das Zischen eines schwelenden Holzscheits, wenn es ins Wasser getaucht wird.
        Achr kochte vor Wut. Er begann sich nach Kraften zu winden und schlug seine Krallen in die Hand, die ihn festhielt. Nein, er war keine Hauskatze, das bewies das ohrenbetaubende Gebrull, das sein Prankenhieb ausloste. Die gro?e Hand lie? los, und Achr sauste ein drittes Mal in die Tiefe.
        Also wirklich, heute war ganz und gar nicht sein Tag, er kam aus dem Fallen einfach nicht heraus! Blo? da? er diesmal zum Gluck weich landete: in einem dunklen, weich federnden Verlies. Der Riese trug namlich einen Sack bei sich, in den der Tiger sturzte!
        Spater wurde Achr herausgeschuttelt und fand sich auf dem Boden einer riesigen Hohle wieder, die den Riesen als Heimstatt diente. Augenblicklich war er auf den Beinen, bereit, sich mit Krallen und Zahnen gegen jeden Angriff zu verteidigen.
        Diesmal sah der Tiger bereits drei Augenpaare auf sich gerichtet. Die Saulen aber, von denen er im ersten Moment geglaubt hatte, sie wurden das Dach abstutzen, erwiesen sich als drei Beinpaare. Sie standen so dicht beieinander, da? dem Gefangenen nicht die geringste Chance auf eine Flucht blieb.
        Der Tiger setzte sich aufs Hinterteil, zeigte drohend seine spitzen Hauer und brullte furchteinflo?end:

»A-a-ch-ch-r-r-r!«
        Als Antwort ertonte eine Stimme, die so laut hallte, da? sie den Tiger fast betaubte.

»Schau mal, Mama, wie lustig er ist. Er faucht sogar ein bi?chen!«
        Es war die Stimme eines Riesenmadchens, die in den Ohren der Mutter vielleicht niedlich, fur ihn jedoch wie ein Donnergrollen klang. Achr klemmte den Schwanz ein.
        Armer Tiger! Seine gefahrlichen Zahne schreckten niemanden, und das drohende Gebrull, das den Bewohnern des Zauberlandes fast das Blut in den Adern gefrieren lie?, war fur die Riesen hier nichts als ein possierliches Gepiepse.
        Wie Achr spater erfuhr, wohnte in dieser Hohle eine kleine friedliche Familie vom Stamme der Uiden. Diesen Namen hatten sich die Riesen vor unendlich langer Zeit selbst gegeben. Zur Familie gehorten drei Personen: Papa A, der unterwegs auf den Tiger gesto?en war und ihn im Sack hergebracht hatte, Mama Ara und das Madchen Ah.
        Sie lebten in dieser Hohle, solange die kleine Ah denken konnte, und das waren immerhin fast sieben Riesenjahre. Schon vorher aber waren sie hier zu Hause gewesen, in diesem unterirdischen Tal, am Ufer eines unterirdischen Flusses. Freilich empfanden sie selbst weder das Tal noch den Flu? als unterirdisch, denn sie waren noch nie nach oben gelangt, zur Erdoberflache. Fur sie waren es einfach der Dunkle Flu? und das Tal. Nur Papa Ar erzahlte manchmal vom Gro?vater, der wiederum von seinem Vater gehort hatte, irgendwo gabe es noch eine andere Welt. An dieses Gerucht hatten aber schon die Alten nie so recht geglaubt, sondern alles fur mu?iges Geschwatz gehalten. Sie fuhlten sich wohl in ihrem Tal, wo es trocken und warm und der Flu? reich an Fischen war. Was wollten sie mehr?
        Lediglich eine entfernte Verwandte Ahs, eine zankische Alte, hatte an allem etwas auszusetzen gehabt. Als sie dann eines Tages aus der Hohle verschwand und nicht mehr wiederkam, waren alle erleichtert.
        Das Madchen Ah liebte ihr Tal ebenfalls, nur fuhlte sie sich manchmal ein bi?chen einsam. Besonders wenn die Erwachsenen ihrem langweiligen Tagwerk nachgingen. Nun habe ich endlich jemanden zum Spielen, dachte das Madchen erfreut, wahrend sie das drollige kleine Tier betrachtete. Wie ulkig das Kerlchen doch aussieht mit seinen winzigen spitzen Zahnen, die aus der Schnauze ragen, und mit seinem gestreiften Fell!

»Wir wollen ihn Achr nennen«, schlug sie vor, »er hat sich ja selbst so vorgestellt. Au?erdem erinnert sein Name an den von Gro?vater Aracha.«
        Gegen diesen Vorschlag hatte niemand etwas einzuwenden, und so wurde der Sabelzahntiger zum zweitenmal auf den Namen Achr getauft, zu Ehren des ihm unbekannten Gro?vaters.
        Das Madchen Ah war hochst zufrieden, als das Tierchen, kaum da? sie es mit seinem Namen ansprach, sofort den Kopf hob und sie anschaute. Sie wollte, beflugelt von ihrem Erfolg, seinen Rucken streicheln, doch der Tiger straubte derart bedrohlich sein Fell, da? sie von ihrem Vorhaben ablie?. Schlie?lich waren die Kratzer auf der Hand ihres Vaters nicht zu ubersehen.
        Und tatsachlich uberlegte Achr auch einen Augenblick, ob er nicht nach dem Finger der Kleinen schnappen sollte. Doch war es vielleicht erst einmal besser, abzuwarten.
        Als Ah dann vermutete, das kleine Tier konnte Hunger und Durst haben, hatte der Tiger nichts einzuwenden. Wirklich, er konnte eine Starkung gebrauchen, der Magen knurrte ihm, und der Hals war ganz ausgetrocknet.
        Das Madchen stellte ihm eine Schussel mit Wasser hin und warf ihm ein »Fischchen« vor die Fu?e, das nur wenig kleiner war als er selbst. Um diesen Grundling zu bandigen, der noch lebte und erbost mit dem Schwanz schlug, mu?te Achr alle Krafte aufbieten. Doch schlie?lich trug er den Sieg davon, sattigte sich und loschte auch seinen Durst, indem er die Schussel Wasser leertrank. Damit gab er zu verstehen, da? er seine Rolle als zahmes Haustier zumindest furs erste annahm.
        Als das Madchen ihn dann streichelte und auch hinterm Ohr kraulte, lie? er es gro?mutig zu. Zwar straubte sich ihm bei der ersten Beruhrung noch gewaltig das Fell, doch nach und nach fand er Gefallen daran, geno? es schlie?lich sogar.
        Hatten die Bewohner des Zauberlandes seinerzeit Gelegenheit gehabt, den Sabelzahntiger zu streicheln - wer wei?, vielleicht hatte sich sein Schicksal anders gestaltet, und er ware ebenso zahm geworden wie die Sechsfu?er oder der Drache Oicho.
        Wie dem auch sei, in der Hohle der Uiden herrschten Eintracht und Friede, und Achr fugte sich gern in sein Schicksal. Mehr noch, er und das Madchen Ah wurden bereits kurze Zeit spater richtig dicke Freunde.
        DER NACHTLICHE ZWEIKAMPF
        Erschopft von seinen anstrengenden Abenteuern, fiel der Tiger, kaum da? er gegessen und getrunken hatte, in einen tiefen Schlaf. Er schlief den ganzen restlichen Tag hindurch und auch noch die halbe Nacht. Bis er plotzlich von einem seltsamen Gerausch erwachte. Es war ein Raunen und Zischeln, eine Art »Schu-a, schu-a«, das in seine Traume drang.
        Achr offnete einen Spaltbreit die Augen, und da er, wie alle Katzen, im Dunkeln ausgezeichnet sehen konnte, entdeckte er sofort ein merkwurdiges Tier, das auf ihn zukroch. Es bewegte sich schemenhaft und nahezu lautlos, nur das leise unheilvolle Zischen war verraterisch. Offenbar ein Raubtier, das auf Beute aus war und sich schon seines Erfolges sicher glaubte.
        Doch der Tiger Achr war alles andere als eine Beute! Er setzte, im Gegenteil, zum Sprung an. Sobald das unbekannte Geschopf in Reichweite war, schnellte er blitzschnell nach vorn. Fur ihn war, wie fur jeden Tiger, der erste Satz entscheidend. Es mu?te ihm gelingen, auf dem Rucken des Gegners zu landen, dann war der Sieg schon halb errungen.
        Und Achr erreichte sein Ziel. Das Tier, auf einen Angriff nicht vorbereitet, verharrte uberrascht. Sein Zischen ging in ein zorniges Brullen uber, als der Tiger so unverhofft auf seinem Schuppenpanzer aufprallte. Von dem plotzlichen Gewicht wurde es zu Boden gedruckt.
        Doch es raffte sich sofort wieder auf, hetzte hin und her, um den Gegner abzuschutteln. Dabei peitschte es die Luft mit seinem langen Schwanz, an dessen au?erstem Ende sich ein spitzer, gezackter, an eine Harpune erinnernder Dorn befand. Ein giftiger Dorn - hatte er sich in den Korper des Tigers gebohrt, es ware sein Ende gewesen.
        Achr hielt sich nur mit gro?ter Muhe auf dem Rucken des Angreifers, der ganz und gar mit diesem Panzer versehen war. Sogar der Schwanz und der Hals waren mit dicken Hornplatten bedeckt.
        Dann zog das Ungetum jah den Kopf ein und baumte sich wie ein Stier auf, um den ungebetenen Gast endlich abzuwerfen.
        Der Tiger konnte sich nicht halten, seine Krallen rutschten auf dem glatten Panzer ab. Achr klatschte zu Boden, war aber in Sekundenschnelle wieder auf den Beinen und griff diesmal von hinten an. Mit aller Wucht schlug er seine Zahne in den Schwanz, knapp neben dem giftigen Stachel, und lie? nicht mehr los.
        So wogte der Kampf auf Leben und Tod hin und her, ohne eine Entscheidung zu finden. Das Schuppentier hatte sicherlich gern den Ruckzug angetreten, doch Achr hielt es fest gepackt.
        Diese gefahrliche Auseinandersetzung ware wohl noch eine Zeitlang so weitergegangen, hatte ihr nicht Papa Ar ein Ende bereitet. Er war von den ungewohnlichen Gerauschen wach geworden und hatte Licht gemacht, um zu sehen, was los war.
        Aber das ist ja eine Schua! dachte er erschrocken. Wie ist dieses kreuzgefahrliche Biest blo? hierher geraten? Ein Gluck, da? die Katze aufgepa?t hat, sonst hatte das Schlimmste passieren konnen. Denn mit ihrem scharfen Gebi? und dem Giftstachel war die Schua auch fur Riesen lebensbedrohlich.
        Das Schuppentier begriff, da? es ihm nun an den Kragen ging, und unternahm einen letzten Versuch, zu entkommen. Es ri? sich mit aller Kraft von Achr los, wobei es allerdings den Schwanz einbu?te. Plotzlich frei, sturzte es Hals uber Kopf davon und aus der Hohle. Im eigenen Bau wurde es seine Wunden lecken und abwarten, bis ihm ein neuer Schwanz samt Giftstachel gewachsen war.
        Endlich gelang es auch dem Tiger, seine Hauer aus den Hornplatten zu losen. Er sprang zur Seite und beobachtete die letzten Zuckungen des jetzt selbstandigen Schwanzes. Der peitschte noch einmal die Luft, wand sich und kam endlich zur Ruhe. Achr lie?, gewisserma?en als Zeichen seines Sieges, ein triumphierendes Gebrull ertonen, rannte ein Stuck zur Seite und streckte sich ermattet aus.
        Ar ging zu ihm. Im Fackelschein gluhten die gelben Augen des Tigers wie zwei kleine Kohlestucken.

»Bist ein Prachtkerl«, sagte Ar freundlich, »ein ganz braves Tier.« Er hockte sich neben Achr und strich ihm ubers Fell, das noch immer ein bi?chen gestraubt war. Dann entfernte er sich kurz und kam mit einem Fisch zuruck, legte ihn vor den Tiger hin.

»Hier, fri?, hast es dir verdient.«
        Der stolze Sabelzahntiger aber, der die Sechsfu?er und den Drachen Oicho stets verachtet hatte, weil sie den Menschen dienten, empfand plotzlich Befriedigung, jemandem von Nutzen gewesen zu sein.
        Ar loschte die Fackel wieder, und Stille kehrte ein.
        Als am anderen Morgen der Rest der Familie beim Fruhstuck beisammensa?, erzahlte Papa Ar von dem nachtlichen Ereignis, und der Tiger wurde erneut mit guten Worten, aber auch mit Leckerbissen uberhauft.
        Bei meinen Krallen und Zahnen, dachte Achr, wahrend er sich genu?lich die Backen vollstopfte, eigentlich ist es ganz schon, geliebt und geachtet zu werden!
        Nachdem alle gegessen hatten, ging das Madchen Ah spielen. Endlich brauche ich nicht mehr allein los, dachte sie, kann Achr mitnehmen. Nur schade, da? er nicht spricht.
        Sie rannten aus der Hohle, die nicht allzu weit vom Flu? entfernt lag.

»Das ist der Dunkle Flu?«, erklarte das Madchen respektvoll. »Niemand wei?, wo er entspringt und wo er endet.«
        Sie liefen an dem leicht abschussigen Ufer entlang. In seiner Neugier wagte sich der Tiger bis unmittelbar ans Wasser; er wollte prufen, wie es schmeckte. Doch das Madchen Ah rief erschrocken:

»Geh nicht zu dicht heran, die Lange Glua konnte dich aufspuren! Das wurde uns beiden schlecht bekommen.«
        Aber die Warnung kam zu spat. In der Mitte des Flusses, wo das Wasser einen deutlich sichtbaren Strudel bildete, wolbte sich plotzlich eine gro?e Blase auf. Im selben Moment erschien ein flacher Kopf an der Oberflache, der an den einer Schlange erinnerte, aber viel gro?er, ja geradezu riesig war. Ein starrer Blick aus runden Telleraugen traf den Tiger, dann setzten sich Kopf und Hals ganz sacht auf Achr und das Madchen zu in Bewegung. Kurz darauf hatte der Kopf, auf dem Wasser dahingleitend, schon die Halfte des Weges zum Ufer zuruckgelegt, wahrend der Hals noch immer kein Ende fand. Doch die beiden hatten auch kein Interesse daran, herauszufinden, wie lang er wirklich war. Sie rannten davon, moglichst weit vom Flu? fort.
        Das Madchen Ah wagte nicht einmal, nach hinten zu schauen; sie furchtete, der Kopf des Ungeheuers konnte sie jeden Augenblick im Genick packen. Ihr war, als spurte sie schon seinen Atem im Nacken.
        Der Atemhauch war auch keine Einbildung, nur stammte er glucklicherweise nicht von Glua, sondern von Ahs Spielgefahrten Achr. Der Tiger, der naturlich viel schneller laufen konnte als das Madchen, hielt sich absichtlich hinter ihr, um sie zu beschutzen, falls der Schlangenkopf allzu neugierig werden sollte. Der aber dachte anscheinend gar nicht daran, sie zu verfolgen. Als Achr das erkannte, lief er um das Madchen herum und stellte sich ihr in den Weg.
        Die kleine Ah jedoch rannte so schnell, da? sie gegen den Tiger prallte und hinfiel.

»Was kommst du mir denn in die Quere?!« schimpfte sie argerlich, war aber sofort wieder auf den Beinen, strich das Kleid glatt und betrachtete den Kratzer an der Hand, den sie sich bei dem Sturz zugezogen hatte. »Willst du vielleicht, da? mich die Glua zu fassen kriegt?«
        Achr leckte ihr schuldbewu?t das Knie, das gleichfalls ein wenig aufgeschlagen war.

»Ich wollte dir nur klarmachen, da? uns niemand auf den Fersen ist«, murmelte er verlegen.

»Was denn, du kannst sprechen?!« Das Madchen schlug vor Verwunderung die Hande zusammen. »Wieso hast du das nicht schon fruher verraten?«

»Es gab keinen Grund dafur«, erwiderte Achr bescheiden. »Aber du brauchst nicht erstaunt zu sein. Ich komme schlie?lich aus dem Zauberland, und dort konnen alle sprechen: Menschen, Tiere und Vogel. Sogar der Weise Scheuch und der Eiserne Holzfaller.«
        Ah beugte sich zu Achr hinunter, packte ihn bei seinen runden Backen und druckte ihm einen begeisterten Schmatz direkt auf die Nasenspitze.
        Verwirrt, zugleich aber auch zufrieden, schuttelte der Tiger den Kopf und die Hande des Madchens ab, wobei er ihr mit seiner rauhen Zunge fluchtig und wie unabsichtlich uber die Wange strich.
        Ein so freundliches Verhalten gereichte einem einstmals gefurchteten Rauber und Anfuhrer eines ganzen Rudels von Sabelzahntigern nun gewi? nicht zur Ehre. Achr baute insgeheim darauf, da? ihn niemand sah und keiner im Zauberland je etwas davon erfuhr. Andererseits war er aber liebebedurftig wie alle Katzen, selbst wenn er seinen Kopf fur sich hatte!
        Das Madchen Ah dagegen, noch immer verblufft und aufs hochste begluckt, da? sie jemanden hatte, mit dem sie nicht nur spielen, sondern sich auch unterhalten konnte, plapperte munter drauflos. Sie erzahlte dem Tiger, da? die Bewohner im Uidenland schon seit Urzeiten von der Existenz der langhalsigen Glua wu?ten. Sie war, soweit man zuruckdenken konnte, in dem Dunklen Flu? zu Hause, verschwand zwar manchmal fur einige Zeit, tauchte dann aber urplotzlich wieder auf. Man munkelte sogar, die zankische Alte sei damals nicht freiwillig davongelaufen, sondern von der geheimnisvollen Glua entfuhrt worden.
        Der Sabelzahntiger seinerseits erinnerte sich an eine Geschichte, die von seinen Vorfahren uberliefert war. Danach war eines Tages eine Riesin namens Arachna im Zauberland aufgetaucht, von der niemand wu?te, woher sie kam. Wegen ihrer Boshaftigkeit und ihrer Greueltaten hatte der Gro?e Zauberer Hurrikap sie in einen mehrere tausend Jahre wahrenden Schlaf versenkt. Nach dieser Zeit aber war sie wieder erwacht und hatte aus Rache einen dichten Nebel uber das ganze Zauberland gebreitet. Die Bewohner nannten ihn den Gelben Nebel. Sie waren fast an ihm zugrunde gegangen.
        Achr deutete auch an, diese Riesin und Ahs zankische Urahnin konnten ein und dieselbe Person sein, das jedoch wollte das Madchen nicht glauben.
        Wahrend der Tiger von seiner Heimat erzahlte, dem fernen Zauberland, spurte Ah sein Heimweh. Und obwohl sie ihren neuen Spielgefahrten gewaltig vermissen wurde, beschlo? sie, ihm bei seiner Ruckkehr zu helfen.
        Eine gewisse Rolle spielte dabei wohl auch der unbestimmte Wunsch, selber mal einen Blick auf dieses Oberirdische Reich zu werfen. Auf jene Welt voller Helligkeit, wo eine freundliche Sonne schien, weiches grunes Gras wuchs und so sympathische kleine Geschopfe herumsprangen wie dieser furchtlose Achr.
        Wenn diese Riesin in der oberen Welt wirklich meine bose Ahnin war, dachte sie unvermittelt, hat die Gro?e Glua sie vielleicht doch entfuhrt. Oder sie wurde vom Dunklen Ru? ins Zauberland gespult…

»Falsch, mein kleines Madchen, ganz falsch!« flusterte es da plotzlich neben ihr.
        Ah fuhr erschrocken herum. Hinter einem der hier verstreut herumliegenden Steine entdeckte sie einen machtigen Kopf. Es war das Haupt der Glua.
        DIE GROSSE SCHLANGE
        Das Madchen Ah schrie auf und wich entsetzt zuruck. Langsam, den Blick gebannt auf den Kopf gerichtet, der vielleicht zuschnappen wurde, schob es sich Schritt um Schritt nach hinten. Nur moglichst weg von der Glua! Doch sie kam nicht weit, ihre Fersen stie?en plotzlich an ein Hindernis. Sie ware hingefallen, hatte nicht etwas Weiches und Federndes, das an ein elastisches Seil erinnerte, sie aufgefangen. Das Madchen bekam es mit den Handen zu fassen und erschrak noch heftiger: das vermeintliche Tau war glitschig na? und nichts anderes als der zum Halbkreis geformte Schwanz der Schlange.

»Immer mit der Ruhe, meine Kleine, schon vorsichtig, sonst tust du dir noch weh«, zischte die Schlange leise und mit gedehnter Stimme. »Der Glua kann man nicht entkommen, schau nur richtig hin!«
        Ah blickte sich um und stellte fest, da? die ganze Lichtung, auf der sie haltgemacht hatten, von der Schlange eingenommen wurde. Dabei hatten sie geglaubt, ihr entwischt zu sein!
        Die Glua schickte eine sanfte Wellenbewegung durch ihren langgezogenen Korper, so da? ihre wunderschone perlmuttfarbene Schuppenhaut sichtbar wurde.
        Ah verfolgte fasziniert dieses Wellenspiel, das sich uber die ganze Lichtung hinweg fortsetzte. Ihr wurde direkt schwindlig davon.
        Der Sabelzahntiger dagegen hatte sich angriffslustig zum Sprung geduckt. Bei den ersten zischenden Lauten der Schlange glaubte er noch, es erneut mit einer gefahrlichen Schua zu tun zu haben, und auch als er seinen Irrtum erkannte, gab er sich nicht geschlagen. Er lauerte auf eine Gelegenheit, sich in der Schwanzspitze der Glua festzubei?en. Doch diese Gelegenheit kam nicht. Im Gegenteil, die Glua packte ihn mit eben diesem Schwanzende und hob ihn hoch in die Luft.

»Wer wird denn so wagemutig sein, mein Katzchen!« sagte die Schlange spottisch und beobachtete belustigt, wie der Tiger verzweifelt, aber vollig erfolglos mit den Beinen strampelte. »Willst du wieder absturzen wie neulich, als du zu uns ins Tal gepurzelt bist? Das wurde deinen Pfotchen gar nicht gut bekommen. Beruhige dich, ich fresse weder kleine Madchen noch winzige Tiere, schon gar nicht, wenn sie so tapfer sind wie du. Ubrigens schmecken sie mir auch nicht, selbst die boshafte Urahnin von Ah hab ich am Leben gelassen.«

»Dann kannten Sie meine Vorfahrin also, hatten mit ihr zu tun?« fragte das Madchen, deren Neugier sogleich uber die Furcht siegte. »Was ist mit ihr passiert?
        Die Glua lachte:

»Immer langsam, meine Kleine!« zischte sie. »Mit der Zeit wirst du schon noch erfahren, was du wissen willst.« Sie setzte den Tiger wieder auf die Erde.

»Du scheinst dich gut auszukennen«, sagte Achr. »Wenn du wirklich so allmachtig bist, wie es scheint, dann hilf mir zuruck ins Zauberland. Bestimmt wei?t du uber die Tur in dem unterirdischen Gang Bescheid, die sich damals so unerwartet vor mir geoffnet hat.«

»Naturlich wei? ich, was es mit dieser Tur auf sich hat«, erwiderte die Glua.
»Aber ein zweites Mal wird es dir nicht gelingen, dort hindurchzuschlupfen.«

»Und weshalb nicht?« fragte der Tiger unzufrieden. »Nimmst du etwa an, ich sei hier unten im Land der Uiden dicker geworden?«

»Ganz und gar nicht!« Die Schlange lachte zischelnd. »Aber die Tur gibt nur dem den Weg frei, der eine Wandlung vom Bosen zum Guten durchmacht. Erinnere dich, was du seinerzeit in deiner Todesangst gedacht hast. Wei?t du es noch?«
        Naturlich wu?te Achr das. Die furchtbaren Minuten im unterirdischen Gang, als er fast am Staub erstickt ware, wurde er nie vergessen!

»Ich habe daran gedacht, da? mein Streit mit den Lowen unsinnig war und da? wir uns in Zukunft besser vertragen sollten«, brummte er.

»Stimmt«, bestatigte die Schlange. »Du hast dich besonnen, wenn auch erst im letzten Augenblick. Die unsichtbare Wand hat sich geoffnet, weil du einsichtig warst. Doch dieses Wunder geschieht nur einmal. Zur Ruckkehr steht dir dieser Weg nicht mehr zur Verfugung.«
        Der Tiger legte betrubt den Kopf auf die Vorderpfoten. Das Madchen Ah beugte sich uber ihn und strich ihm trostend ubers Fell.

»Sei nicht traurig, Achr«, sagte sie beschworend, »wir werden einen anderen Weg zuruck ins Zauberland finden, Glua wird uns bestimmt dabei helfen.« Sie schaute die Schlange bittend an.

»Nun ja, der Dunkle Flu? hat zum Gluck keine Ahnung von dieser Geschichte«, murmelte die Glua kaum horbar. »Also wird er mich auch nicht hindern, etwas zu unternehmen.« Und lauter: »In Ordnung, ihr konnt auf mich zahlen. Es gibt tatsachlich einen anderen Weg nach oben.«

»Aber wo ist er?« rief das Madchen aufgeregt. »Ich kenne das Tal der Uiden wie meine Jackentasche, habe aber nirgends auch nur das kleinste Schlupfloch entdeckt. Oder sind alle Turen nach drau?en verzaubert wie der unterirdische Gang, den Achr benutzt hat?«

»Und was ist mit dem Dunklen Flu??« erinnerte die Glua. »Du hast dem Tiger selbst erzahlt, da? niemand wei?, wo er seinen Anfang nimmt und wo er endet!«

»Der Flu?? Ich kann doch gar nicht schwimmen!« sagte das Madchen erschrocken. »Und das Wasser ist so tief, so rei?end.«
        Der Tiger war gleichfalls wenig begeistert, schwimmen zu mussen. Wie alle Katzen, machte er sich das Fell nur ungern na?.

»Dafur schwimme ich wie ein Fisch«, sagte aufmunternd die Schlange. »Einen anderen Weg aus dem Unterirdischen Reich gibt es nicht!«
        Sie setzte sich wieder in Bewegung, glitt zuruck zum Flu?. Ah und Achr folgten ihr.
        Zum erstenmal in ihrem Leben trat das Madchen ganz dicht an den Flu? heran. Doch sie bemerkte die rasante Stromung und bekam noch mehr Angst.
        Der Tiger streckte vorsichtig eine Pfote ins Na?, schuttelte angewidert die Tropfen ab und wich zuruck. Dieser Strom flo?te ihm keinerlei Vertrauen ein.
        Nur die Glua fuhlte sich ausgezeichnet. Sie glitt elegant in die Fluten, wobei sie ihren Korper ringformig aufrollte, bis nur noch die Schwanzspitze an Land war. Der Kopf dagegen ragte ein Stuck aus dem Wasser.
        Sie spornte die beiden an:

»Na los, nur Mut, ihr braucht keine Furcht zu haben!«
        Bevor sie es sich versehen hatten, wurden das Madchen und der Tiger mit der Schwanzspitze in das Nest aus Ringen befordert, das die Schlange fur sie gebildet hatte. Sie sa?en darin wie in einem runden Gummiboot. Zielstrebig ging es stromabwarts, fort aus dem Tal der Uiden.

»Oje, ich habe nicht einmal meinen Eltern Bescheid gesagt!« rief das Madchen ein bi?chen verspatet.
        Doch das Boot, das die allmachtige Glua aus ihrem Korper geformt hatte, befand sich bereits in der Mitte des Dunklen Flusses.
        Obwohl die Schlange ihre Korperringe so fest wie moglich aneinanderpre?te, sickerte Wasser durch einige Ritzen und fullte das Boot allmahlich. Es reichte Ah, die auf dem obersten Ring sa?, schon fast bis an die Knie. Achr aber sah sich genotigt, wie eine Katze auf den Armen des Madchens Zuflucht zu suchen. Anfangs hatte er sich mit seinen Krallen selber am Bootsrand festgehalten, doch das kitzelte die Glua.

»Wenn du das nicht la?t«, drohte sie, »rolle ich mich auseinander, und dann konnt ihr zusehn, wie ihr ins Zauberland kommt.«

»Aber dein Boot ist ziemlich lochrig«, nahm Ah ihren Freund in Schutz. »Wenn das so weitergeht, finden wir uns sowieso im Wasser wieder.«

»Keine Bange«, sagte die Schlange beschwichtigend, »hoher steigt das Wasser nicht. Nasse Fu?e mu?t du allerdings in Kauf nehmen.«
        Die Glua schwamm, den Kopf hoch aufgereckt, wie ein Schwan. Allmahlich richteten sie sich ein. Ah und der Tiger wurden mutiger, klammerten sich jetzt weniger angstlich aneinander und hielten neugierig nach allen Seiten Ausschau.
        DIE BEGEGNUNG MIT ARACHNA
        Das Tal der Uiden lag mittlerweile weit hinter ihnen, die Ufer waren hoher und schroffer geworden. Das Wasser, zwischen Felswanden eingezwangt, stromte nun schneller dahin. Weiter vorn aber teilte sich der Dunkle Flu? in zwei Arme. Die drei glitten genau auf eine Insel zu, die in der Mitte lag und ihn spaltete.
        Die Glua kannte diese Stelle ganz offensichtlich, denn sie schwenkte mit ihren beiden Gasten zielstrebig nach rechts ab.
        Als sie auf Hohe der Insel waren, bot sich ihnen ein Anblick, der den Tiger an heimische Gefilde erinnerte: Das Eiland hatte jetzt flache sandige Ufer, und uberall waren machtige Findlinge verstreut.
        Direkt am Wasser aber stand eine riesengro?e Frau. Ihre langen, aufgelosten Haare flatterten im Wind, und ihre Augen waren unverwandt auf die Ankommlinge gerichtet. Selbst aus dieser Entfernung konnte man die Bosheit und Arglist in ihrem Blick erkennen, der jetzt allerdings auch Erstaunen und unverhohlene Freude ausdruckte.
        Die Riesin fuchtelte mit den Armen und schrie, wobei sie zwischendurch drohend die Fauste schuttelte:

»Zu Hi-ilfe! Rettet mich! Ihr sollt mich mitnehmen!«
        Obwohl Ah dieser Frau noch niemals begegnet war, spurte sie, da? es sich um keine vollig Fremde handelte. Schon allein wegen ihrer Korperma?e gehorte sie eindeutig zum Stamme der Uiden.
        Soll das etwa die sagenumwobene Urahnin sein, die vor langer Zeit auf so geheimnisvolle Weise verschwunden ist? dachte das Madchen. Wie hat sie blo? die Jahrhunderte uberlebt? War schon nicht schlecht, sich mal mit ihr zu unterhalten.
        Die Riesin beugte sich, als das Boot vorbeiglitt, blitzschnell heruber und versuchte, danach zu greifen.
        Die Glua schuttelte energisch den Kopf und wich scharf zur Seite aus. Durch diese heftige Bewegung drehte sie sich samt ihren Gasten und stand nun quer zur Stromung. Um sich wieder in Fahrtrichtung zu bringen, schlug sie heftig mit dem Schwanz, doch darauf hatte die Riesin nur gewartet. Sie packte den Schwanz der Schlange mit beiden Handen und rief triumphierend:

»A-a-ah, jetzt kommt ihr mir nicht mehr davon!«
        Zunachst kampfte die Frau vergeblich gegen die Glua, die sich ihr energisch widersetzte. Die Schlange war stark, und wahrscheinlich ware die Riesin unterlegen, hatte sie nicht einen Felsblock entdeckt, um den sie den Schwanz wickeln konnte. Sie verknotete ihn sogar, so da? die Glua gefangen war. Das Boot loste sich Ring um Ring auf.

»Haltet euch fest, Kinder«, zischte die Glua, so laut sie konnte, »dieses verdammte Weibsbild rollt mich total auf!«
        Dieser Warnung hatte es nicht erst bedurft. Das Madchen und der Tiger klammerten sich verzweifelt an den Hals der Schlange, was jedoch nicht verhinderte, da? sie pudelna? wurden.
        Die Glua dachte gar nicht daran, sich der Riesin zu ergeben. Im Gegenteil, jetzt, da sie nicht mehr krampfhaft das Boot zusammenhalten mu?te, konnte sie sich voll auf den Kampf mit ihr konzentrieren.
        Arachna aber - denn es handelte sich in der Tat um die bose Hexe, die der Tiger erwahnt hatte - wollte nichts als zuruck zur Erde. Nach ihrem Versuch damals, sich zur Herrscherin uber das Zauberland aufzuschwingen, war sie vom Eisernen Ritter Tilli-Willi und dem Riesenadler Karfax besiegt worden. Sie war von der Todesklippe gesturzt, und alle hatten sie fur tot gehalten.
        Warum habe ich sie blo? aufgefangen und auf diese unbewohnte Insel gebracht, dachte die Glua argerlich. Das hat man nun von seiner Gutmutigkeit!
        Damit, da? Arachna die Schlange am Felsen festband, hatte sie ihr jedoch gleichzeitig eine Stutze gegeben. Unter Aufbietung all ihrer Krafte gelang es der Glua, den Korper aus dem Flu? zu schleudern, so da? sie wie ein Pfahl uber dem Wasser aufragte.
        Ah und der Tiger mu?ten das Manover mitmachen, wurden auf diese Weise aber wenigstens aus dem nassen Element befreit.
        Der Riesin dagegen gefiel die Sache weniger. Wie sollte sie die Schlange nun zwingen, auf ihre Wunsche einzugehen? Sie wurde sich bestimmt bald wieder losrei?en.
        Arachna uberlegte fieberhaft, und erfinderisch wie sie war, kam ihr auch eine Idee. Wenn sich das Madchen und der Tiger am Hals der Glua festhalten konnten, warum dann nicht sie? Schlie?lich war sie viel starker. Sie mu?te nur den gewaltigen Sprung wagen.
        Wenn ich die Schlange nicht verfehle, dachte Arachna, hat sie gar keine andere Wahl, als mich mitzunehmen.
        Der Sprung gelang. Die Schlange, die begriff, was die Riesin beabsichtigte, sah zunachst keine Moglichkeit, sie an Land zuruckzuwerfen. Sie wurde dabei nur die beiden Passagiere gefahrden, die ohnehin alle Muhe hatten, sich an ihrem nassen, glitschigen Hals festzuhalten.
        Doch dann griff sie zu einer List. Zwei Hocker oben an ihrem Hals formend, zwischen denen sie das Madchen und den Tiger sicher einbettete, richtete sich die Glua erneut zu voller Hohe auf. Sie hoffte, die Riesin wurde keinen Halt mehr finden und abrutschen. Wenn sie nicht vorher absprang, wurde sie auf den Stein prallen, an dem sie den Schwanz festgebunden hatte. Das wurde ihr eine Lehre sein!
        Aber die Schlange irrte sich. Arachna verstand sich hervorragend aufs Klettern. Die Riesin umklammerte mit Armen und Beinen den Leib der Glua und kraxelte, statt abzurutschen, behende immer hoher.
        Inzwischen ragten die beiden Halshocker so hoch in die Luft, da? Ah unter sich kaum noch etwas erkennen konnte. Als die Schlange dann noch mit dem Kopf in eine dichte Wolkendecke uber den Felsgipfeln eintauchte, vermochte das Madchen uberhaupt nichts mehr zu sehen. Und erst nachdem die Glua diesen Nebel, der an Schlagsahne erinnerte, durchbrochen hatte, begriff der Tiger plotzlich, wohin es sie verschlagen hatte!

»Das ist ja die Todesklippe!« fauchte er mit gestraubtem Fell, denn der Ort war gefurchtet. Aber gleich darauf wurde ihm bewu?t, dem Unterirdischen Reich entronnen zu sein und sich nun wieder im Zauberland zu befinden.
        Alle Bewohner des Zauberlandes kannten diese Klippe, die so furchterregend war, weil sie sich uber einem bodenlosen Abgrund erhob.
        Wie sich nun herausstellte, war dieser Abgrund gar nicht bodenlos! Er fuhrte nur in ein ganz anderes Land, ins Unterirdische Reich der Uiden. Aber da nie jemand lebend dorthin gelangt oder gar zuruckgekehrt war, uberraschte es auch nicht, da? keiner etwas von der Existenz dieses Reiches wu?te. Nur ein Wunder in Gestalt der Gro?en Glua hatte die Riesin Arachna seinerzeit erretten und dem Tiger Achr jetzt die Ruckkehr in seine Heimat ermoglichen konnen. In seiner Begleitung aber durfte das Uidenmadchen Ah zum erstenmal in ihrem Leben das Oberirdische Reich betrachten: den blauen Himmel, die orangen leuchtende Sonne, die Berge im Licht, die Walder und die Gro?e Wuste.
        Zweifelsohne hatte das Zauberland den Tiger Achr mit Vergnugen wieder aufgenommen, zumal er jetzt gelautert war. Auch den Gast aus dem Unterirdischen Reich der Uiden, das Madchen Ah, hatte es willkommen gehei?en. Die Riesin Arachna dagegen wunschte man dort ganz bestimmt nicht wiederzusehen. Aber leider hielt sich die Hexe nicht daran und tat alles, gleichfalls nach oben zu gelangen.
        Die Glua hatte sich zu ihrer ganzen Gro?e aufgerichtet, um die beiden Passagiere auf der Todesklippe abzusetzen. Sie vibrierte vor Anspannung wie eine straff gespannte Saite, ihr Kopf beschrieb gewaltige Kreise in der Luft, so da? es den Tiger und das Madchen um ein Haar gegen den Felsen geschlagen hatte.
        Das aber hinderte Arachna nicht daran, wie eine Riesenraupe am Korper der Schlange emporzuklettern. Sie erinnerte sich, da? sie vor langer, langer Zeit von diesem Felsen in die Tiefe gesturzt und auf wundersame Weise von der Gro?en Glua mitten im Fluge aufgefangen worden war. Deshalb hoffte sie, auf demselben Wege, nur eben in umgekehrter Richtung, wieder zuruck ins Zauberland zu gelangen, wo sie neue Bosheiten ersinnen und sich wie fruher vom Volk der Zwerge bedienen lassen konnte.
        Endlich hatte die Glua es geschafft, Ah und den Tiger weich auf dem Gipfel der Todesklippe abzusetzen. Sie wollten sich gerade voneinander verabschieden, als urplotzlich die Riesin aus der wei?en Wolkenschicht auftauchte. Nicht mehr lange, und sie wurde gleichfalls den Gipfel erreichen!

»Lauft schnell weg!« zischte die Glua. Dann schleuderte sie Arachna mit einer letzten Kraftanstrengung gegen die Felswand.
        Die Schlange war so erschopft von all diesen Muhen, da? sie gleich darauf entkraftet in sich zusammenfiel. Blo? gut, da? Arachna meinen Schwanz am Uferstein festgebunden hat, dachte sie, ich wurde in den Fluten ertrinken.
        DIE VERFOLGUNG
        Alles ging so furchtbar schnell, da? keiner der Beteiligten auch nur zum Luftholen kam. Ehe sie sich’s versahen, war die Schlange wieder in dem milchigen Nebel versunken, das Madchen und der Sabelzahntiger lagen auf dem flachen Plateau der Todesklippe, wahrend die Riesin wie betaubt den steinigen Abhang hinunterrollte.
        Nun waren sie ganz auf sich gestellt.
        Das Madchen Ah sprang sofort auf die Beine und schaute sich mit gro?en, vor Staunen weit geoffneten Augen in der neuen, fur sie vollig ungewohnten Umgebung um. Ihr ware nie und nimmer in den Sinn gekommen, da? ihr hier, in dieser freundlichen Welt, eine Gefahr drohen konnte.
        Die Begeisterung des Tigers dagegen hielt sich in Grenzen. Zwar freute er sich, wieder zu Hause zu sein, doch sein Raubtierinstinkt blieb wach und lie? ihn zunachst vorsichtig nach allen Seiten spahen.
        Er entdeckte schnell die Riesin, die reglos auf dem Abhang lag, und er mi?traute dieser Reglosigkeit; schlie?lich war Arachna fur ihre Hinterlist bekannt. Er selbst wurde mit ihr ja noch einigerma?en fertig werden, doch das arglose Madchen Ah war ihr ausgeliefert. Er kannte die Geschichte vom Gelben Nebel und wu?te, wozu die Riesin fahig war. Ihr mi?fiel bestimmt, da? es Augenzeugen fur ihre schmachvolle Ankunft im Zauberland gab, und gewi? wollte sie so lange wie moglich unentdeckt bleiben, um neue Gemeinheiten auszuhecken. Also wurde sie alles daran setzen, ihn und Ah auszuschalten, damit niemand etwas von ihrer Anwesenheit verraten konnte.
        Achr war also zur Verteidigung bereit, klopfte mit der Schwanzspitze schon ungeduldig auf die Erde. Doch die Riesin am Abhang dachte vorerst nicht daran, uber sie herzufallen! Es sah eher so aus, als wurde sie an gar nichts denken. Sie regte sich nicht, gab keinerlei Lebenszeichen von sich.
        Vielleicht ist sie tot? sagte sich der Tiger hoffnungsvoll, und einen solchen Gedanken konnte man ihm fast nicht verubeln.
        Ah dagegen schlug vor Entsetzen die Hande uber dem Kopf zusammen und rannte schnurstracks zu der Riesin.

»La? mich los«, protestierte Ah, »vielleicht braucht sie unsere Hilfe!«

»Aber Arachna ist bose und gefahrlich.«

»Erst einmal mussen wir feststellen, ob sie sich verletzt hat.«

»Na gut, aber dann geh ich voran«, erklarte der Tiger entschieden. Er staunte selber, wie nachgiebig er geworden war.
        Achr sprang voraus und naherte sich behutsam der Riesin. Arachna lag tatsachlich in einer tiefen Ohnmacht. Sie hatte sich beim Klettern total verausgabt, und der Aufprall auf die Steine hatte ihr das Bewu?tsein genommen. Doch sie atmete, und von einer Verletzung war nichts zu sehen.

»Ich denke, wir sollten so schnell wie moglich von hier verschwinden«, beharrte Achr, »schlie?lich hat uns auch die Schlange Glua zur Flucht geraten. Wacht Arachna erst mal auf, ist es womoglich zu spat. Au?erdem wird sich ihre Ankunft ohnehin bald herumsprechen. Im Zauberland wachen Tausende von Augen und Ohren uber alles, was geschieht. In der Luft kreisen die Riesenadler mit Karfax an der Spitze, und es gibt die Vogelpost der Krahe Kaggi-Karr. Auf dem Boden wiederum sind die Zwerge allgegenwartig; sie tarnen sich so geschickt, da? man sie selbst bei genauem Hinschauen nicht entdeckt. Unter der Erde schlie?lich tummelt sich das Mausevolk der Konigin Ramina.«
        Wer wu?te besser als die einstige Raubkatze Achr, da? die Bewohner des Zauberlandes stets auf der Hut vor allen moglichen Feinden waren.
        Ah sah unschlussig den Tiger an, dessen Fell sich vor Besorgnis straubte, dann richtete sie den Blick wieder auf Arachna. Die Zauberin lag schmutzig und mit wirrem Haar noch immer leblos da, ihr Gesicht wirkte trotz der Ohnmacht bose und hinterhaltig.
        Achr hat recht, dachte das Madchen, er kennt die Riesin besser als ich und wei?, wozu sie fahig ist. Au?erdem stimmt es ja, bisher habe ich nur Schlechtes uber sie gehort! Deshalb sagte sie entschlossen:

»Also gut, la? uns fliehen. Doch wir wollen dem ersten, dem wir begegnen, mitteilen, da? hier am Abhang eine Frau liegt, die Hilfe braucht.«
        Der Tiger war einverstanden. Er wollte die Bewohner des Zauberlandes ja gleichfalls von der Ankunft der Hexe in Kenntnis setzen. Sollten sie selbst entscheiden, wie sie mit ihr verfuhren.
        Doch plotzlich hielt er in seinen Uberlegungen inne und dachte verwirrt: Aber wo soll ich uberhaupt hin? Die Leute hier werden mich nicht gerade mit offenen Armen empfangen, denn sie kennen mich ja nur als gefahrlichen Rauber. Au?erdem bin ich in Begleitung eines Riesenmadchens, das dazu noch Ahnlichkeit mit Arachna besitzt. Meine Chancen werden sich dadurch bestimmt nicht verbessern.
        Achr seufzte bekummert. War schon nicht ubel, jetzt dem Hohlenlowen Grau und den funf Sabelzahntigern zu begegnen, dachte er. Mit denen wurde ich sicherlich eine gemeinsame Sprache finden…
        Genau, das war es! Die Lowen und das Rudel waren zur Grenze zwischen dem Zauberland und der Gro?en Wuste aufgebrochen, wo sich der Tunnel zum Planeten Rameria befand; der Tiger hatte sie damals belauscht. Dort waren die Ramerianer mit Grau gelandet, dorthin waren der Tapfere Lowe, der Eiserne Holzfaller, der Weise Scheuch und die anderen Bewohner des Zauberlandes geeilt. Auch der Drache Oicho hatte diesen Ort angeflogen, immer aufs neue schwer beladen mit irgendwelchem Gerat. Wie die Vogel erzahlten, wollten die Au?erirdischen ein Schiff bauen.
        Alles klar, sagte sich Achr. Wenn schon vor Arachna fliehen, dann dorthin! Die Truppe, die sich da versammelt hat, ist so gro?, da? sie es sogar mit der Riesin aufnehmen kann. Falls es ihr in den Sinn kommt, Ah und mich zu verfolgen.
        Nun war er etwas zuversichtlicher. Er warf einen letzten prufenden Blick auf die Hexe und lief los. Das Madchen schlo? sich ihm an.
        Sie hatten einen mehrstundigen Weg vor sich, der uber steinige Pfade immer bergab fuhrte. Fur Achr war die Strecke nicht besonders schwierig, er hatte nur Sorge, Ah konnte stolpern oder gar abrutschen. Doch schon bald stellte er beruhigt fest, da? die kleine Uidin ganz hervorragend mit dem felsigen Grund zurechtkam. Aufgewachsen im Unterirdischen Reich, war sie mit Gestein und Hugeln bestens vertraut.
        Das Madchen selbst aber, vertieft in den Anblick dieser neuen herrlichen Welt, nahm die Schwierigkeiten gar nicht wahr. Unten angelangt, stand sie staunend, ja geradezu hingerissen, vor einer Baumgruppe, und gleich im ersten Waldchen, das sie erreichten, tat sie sich an Beeren und Fruchten gutlich, die hier in gro?en Mengen wuchsen.
        Achr durchstreifte inzwischen das Unterholz und kam nach einer Weile gleichfalls zufrieden zuruck. Er leckte sich noch die Lippen von dem schmackhaften Braten, den er ergattert hatte.
        Bald darauf gelangten sie an einen Bach mit kristallklarem Wasser, und der Tiger wu?te, da? es bis zu ihrem Ziel nicht mehr weit war.
        Plotzlich vernahmen sie einen gewaltigen Schrei, der als Echo von Berg zu Berg widerhallte. Wie angewurzelt blieben die beiden stehen und schauten sich um.
        Arachna war wieder zu sich gekommen, hatte sich an Ah und den Tiger erinnert und die Verfolgung aufgenommen. Sie eilte mit Riesenschritten, ohne auf Hindernisse zu achten, den Berg hinunter und ri? dabei ganze Gerollawinen mit sich. Wie sie so, uber die Spalten und Felsvorsprunge setzend, zielstrebig naherkam, erinnerte sie an eine Gewitterwolke, die wenig Gutes verhie?.
»Blo? weg hier!« rief der Tiger dem Madchen zu und sauste los. Ah, die nicht seine Sprungkraft besa?, aber gro?ere Schritte machen konnte, folgte ihm ohne Schwierigkeiten.
        Es war eine Art Wettrennen zwischen ungleichen Gegnern, denn Arachna hatte sich schnell von den erlittenen Strapazen erholt. Unter anderen Bedingungen hatte es dem Madchen sogar Spa? gemacht, frei dahinzulaufen, nicht uberall an Grenzen zu sto?en wie in ihrem unterirdischen Tal. So dagegen uberwog die Furcht. Obwohl ihr andererseits nicht in den Sinn wollte, da? eine aus ihrem Stamm etwas Schlimmes mit ihnen vorhaben sollte.
        Die Riesin kam immer naher, im allgemeinen gewann sie solche Wettrennen. Achr, der nach Verbundeten Ausschau hielt, spornte seine Freundin noch mehr an, denn sie mu?ten gleich am Ziel sein. Aber wo blieben der Tapfere Lowe, der Hohlenlowe Grau, der gewaltige Drache Oicho? Niemand, nicht einmal ein Tiger seines ehemaligen Rudels, war zu sehen.
        Armer Achr! Woher hatte er wissen sollen, da? der Katamaran »Arsak« langst fertiggestellt und auf gro?e Fahrt gegangen war. Mit Kau-Ruck und Sor von der Rameria, durch die Gro?e Wuste nach Kansas zu den Farmersleuten Smith. Dort hatte sich Chris, der Sohn der beruhmten »Fee des Totenden Hauschens« Elli, zu ihnen gesellt, und gemeinsam waren sie zum Golf von Mexiko aufgebrochen, um dort nach dem Einbeinigen Seemann Charlie Black zu suchen. Dieser alte Seebar war ja mit seinem Schiff auf ein Korallenriff gelaufen und gesunken. Doch auch der Hohlenlowe Grau mit seinen Sabelzahntigern war weit weg. Die Tiere hatten langst Abschied von den Bewohnern des Zauberlandes genommen, die damals ihre Zelte am Bauplatz aufgeschlagen hatten und jetzt in einem abgelegenen Waldchen lebten. Sie hatten im Kampf gegen Arachna allein allerdings sowieso nichts ausrichten konnen. Dazu hatten sie wenigstens den Eisernen Ritter Tilli-Willi gebraucht.
        In der Ferne tauchte der Schwarze Stein des Zauberers Hurrikap auf, den der Tiger unbedingt erreichen wollte, weil dort der Eingang zum Tunnel war. Arachna hatte inzwischen den Berg hinter sich gelassen und war ihnen dicht auf den Fersen. Sie spruhte vor Zorn, da? die beiden ihr zu entkommen drohten. Wenn sie Achr und Ah nicht wieder einfing, wurde bald jeder im Zauberland von ihrer Ruckkehr wissen. Dabei hatte sie doch vor, seine aufsassigen Bewohner, all diese Kauer, Zwinkerer und Springer, ein fur allemal zu unterwerfen. Schnell und ohne da? sie eine Ahnung von der Gefahr bekamen, sollte das gehen. Deshalb mu?te sie den Tiger und das Madchen um jeden Preis schnappen und zu sich in ihre alte Hohle bringen. Dort hausten ihre einstigen Diener, die Zwerge, die ihre Herrin ordentlich aufpappeln wurden. Sobald sie sich dann von allen Strapazen erholt hatte, wurde sie ans Werk gehen.
        Die beiden da vorn konnte Arachna ubrigens gut fur ihre Plane gebrauchen. Sie hatte in Ah ihre Stammesgenossin erkannt und hoffte, sie ohne Muhe zur Mithilfe zu gewinnen. Auch Achr war gewi? kein Problem, sie glaubte seinen hinterhaltigen Charakter genugend zu kennen. Das Tierchen wurde sich bestimmt nicht lange bitten lassen, wurde ihr seine Gefolgschaft nicht verweigern! Schade, da? sie nicht schon fruher auf die Idee gekommen war, das Rudel der Sabelzahntiger fur ihre Ziele einzuspannen.
        Achr wendete inzwischen den Kopf gehetzt nach allen Seiten, in der Hoffnung, einen Menschen oder ein Tier zu entdecken. Doch vergeblich, die Gegend war wie ausgestorben. Was sollte er blo? machen? Fast hatte die Riesin sie schon eingeholt, ihr Hohnlachen klang ihm drohnend in den Ohren:
»Gleich hab ich euch, meine Taubchen, wartet nur!«

»Na los«, rief Achr in letzter Not dem Madchen zu, »beeil dich, lauf zu dem gro?en schwarzen Stein dort druben und klettre hinauf!«
        Ah wu?te nichts von Hurrikap und dem Tunnel zur Rameria, dennoch folgte sie der Aufforderung. Die Worte der Hexe klangen wirklich nicht freundlich. Sie erreichte den Stein und sprang hinauf.
        Achr aber half ihr, indem er sich der Riesin jah in den Weg stellte. Er lie? sein lautestes Brullen horen und sprang sie mit aller Kraft an. Dabei schnappte er nach ihrem Finger, so da? sie erschrocken zuruckprallte und sich aufs Hinterteil setzte.

»Bleib schon hier sitzen, du alte Hexe«, fauchte der Tiger und jagte dem Madchen hinterher.

»Das wirst du mir bu?en!« schrie Arachna wutend und rappelte sich wieder auf.
        Mit zwei, drei Schritten hatte sie Hurrikaps Stein erreicht, doch die beiden waren wie vom Erdboden verschluckt.
        ARACHNAS TRAUM
        Die Riesin schuttelte unglaubig den Kopf. Sie traute ihren Augen nicht und beschlo? deshalb, sich mit den Handen davon zu uberzeugen, da? tatsachlich niemand mehr da war. Der machtige Stein des Zauberers Hurrikap reichte ihr gerade mal bis zur Hufte, und sie begann ihn abzutasten. Doch mit einemmal wurde sie von einem Sog erfa?t. Die Oberflache des Felsbrockens gab nach, und obwohl Arachna verzweifelt Widerstand leistete, sturzte sie kopfuber in einen steinernen Tunnel.
        Es war ja, wie wir aus fruheren Geschichten uber das Zauberland wissen, die Eigenart dieses verhexten Steins, jeden anzuziehen, der sich ihm naherte. Die Offnung oben, die den Eingang zum Tunnel bildete, war fur das Auge unsichtbar, der Schacht selber aber verband die Erde mit einem fernen Planeten, der Rameria. Ein Abzweig fuhrte durch das sogenannte Elmenland sogar noch zur Irena, einem zweiten Himmelskorper.
        Das Madchen Ah und der Tiger Achr waren ebenfalls in den Tunnel gerutscht, hatten jedoch einen gehorigen Vorsprung. An eine Verfolgung durch die boshafte Arachna war deshalb nicht mehr zu denken.
        Doch wie sich herausstellte, besa? der geheimnisvolle Stein noch eine andere Eigenschaft. Es war, als wurde er mitsamt dem Schacht plotzlich verschwinden, sich in Luft auflosen. Im Moment, da die drei in ihn eingetaucht waren, setzte er sich in Bewegung und entfuhrte die Riesin - nicht etwa zu einem fremden Planeten, sondern in die Vergangenheit! Der Tunnel reichte auf einmal um Tausende von Jahren bis in eine langst entschwundene Zeit zuruck.
        Dort wurde Arachna, die als letzte geschluckt worden war, jah wieder ausgespuckt. Das alles aber geschah so unvermutet und schnell, da? sie nicht das geringste von dem ganzen Vorgang begriff.
        Der Tiger und das Madchen Ah eilten - so viel sei schon jetzt verraten - gleichfalls in die Vergangenheit, unverhofften Abenteuern entgegen. Sie trafen erneut auf die Schlange Glua und, wer wurde es fur moglich halten, sogar auf den Gro?en Zauberer Hurrikap! Arachna aber wurde mit ziemlicher Wucht in die Hohe geschleudert und plumpste wie ein Mehlsack zu Boden. Ihren Fliegenden Teppich, auf dem sie im Zauberland durch die Lufte gesegelt war, ohne abzusturzen, hatte sie hier ja nicht zur Verfugung. Beim Aufschlag prallte sie mit dem Kopf gegen einen Felsen und verlor die Besinnung.
        Sie lag eine ganze Weile in einem schlimmen Dammerzustand zwischen Wachen und Traumen, konnte sich nicht vorstellen, wo sie war. Sie hatte uberall blaue Flecken. Von dem Sturz taten ihr samtliche Knochen weh, und der Boden, auf dem sie lag, war hart und steinig. Sie hatte sich gern erhoben, vermochte es aber nicht.
        Dann drangen unvermutet langst vergessene Bilder auf sie ein. Es waren Erinnerungen, aber nicht etwa aus dem Zauberland, sondern aus einer unendlich fernen Vergangenheit. Sie war noch ein Kind, vielleicht so gro? wie Ah, der sie vorhin nachgejagt war, und befand sich in einer weiten ebenen Landschaft. Berge ragten in der Ferne auf, riesige Steinblocke lagen herum, und hinter einem Felsen hervor kam plotzlich eine Riesin auf sie zugerannt, die noch viel gro?er war als sie selbst. Sie gebardete sich hochst unfreundlich, drohte ihr und schimpfte so laut, wie es Arachna lange nicht mehr erlebt hatte: »Nichtsnutziges Ding, Schmutzfink, Rumtreiberin, findest du dich endlich wieder zu Hause ein! Wo hast du so lange gesteckt, und was hast du in der Zwischenzeit angestellt? Dir werd ich zeigen, da? du zu gehorchen hast!« Sie fiel mit Puffen und Nasenstubern uber Arachna her, von denen die schwachsten einem Kamel hatten die Hocker brechen konnen.
        Arachna, vollig verblufft, traumte weiter, da? sie aufsprang und sich ihrer Haut zu wehren begann, sich gegen die Schlage der anderen verteidigte.

»Was willst du von mir, weshalb verprugelst du mich«, rief sie, »ich habe dir nichts getan, ich kenne dich ja gar nicht!«
        Doch das stimmte nicht, sie hatte selbst das Gefuhl, diese Frau schon gesehen zu haben, und die Riesin brach auch gleich in ein Hohngelachter aus:

»Ich hor wohl nicht recht, mein Taubchen«, schrie sie, »du willst mich, deine leibliche Mutter Karena, nicht kennen?! Das ist der gro?te Blodsinn und die dummste Behauptung, die mir je untergekommen sind. Du bist das mi?ratenste kleine Biest, das auf Erden herumlauft, auch wenn du standig deine Unschuld beteuerst. Du bist genauso hinterlistig wie dein Vater Arachn, den ich glucklicherweise verlassen habe, bevor du zur Welt kamst!«
        Arachna war regelrecht betaubt von diesem Wortschwall, und wahrend die Frau weiterblaffte, sie erneut zu packen und schutteln versuchte, uberlegte sie fieberhaft, was an der Geschichte wahr sein konnte. Ja, es stimmte, auch sie war einst ein kleines Madchen gewesen, hatte eine Mutter gehabt, die mit ihr schimpfte und mit der sie sich stritt. Von der sie oft weglief, sich irgendwo versteckte. Eine gro?e starke Riesin, wie diese hier, mit denselben Handen, denselben Gesichtszugen.
        Arachnas Kopf brummte wie ein siedender Kupferkessel, doch der Traum brachte ihr immer neue Erinnerungen. An ein Land, in dem es rauh und unwirtlich war und wo es zwei Muhlen gab, die standig Larm machten. An eine Schlucht, uber der stets dicke gelbe Wolken standen, und an ein riesiges steinernes Schlo?, in dem sie und ihre Mutter Karena zu Hause waren.
        Wirklich, es war beeindruckend, dieses Schlo? mit seinen starken Mauern und dem hohen Turm. Von weitem glich es einem einfachen Felsen, war jedoch meisterhaft aus einem einzigen Granitblock herausgehauen. Je naher man diesem Felsen kam, desto deutlicher wurde, da? es sich um eine gewaltige Wohnstatt handelte. Man konnte sie gut und gern mit den majestatischen Ritterburgen des Mittelalters vergleichen, nur da? sie noch viel wuchtiger war. Zwar fehlte dem Schlo? etwas die Eleganz, und es hatte keinerlei Schnorkel oder Verzierungen, dafur war es aber umso fester und stabiler.
        Das Schlo? hatte mehrere Sale und Schlafgemacher, lange dunkle Gange und Gewolbe, in denen Arachna sich versteckte, wenn es wieder mal Krach gab. Und dann - richtig - waren da auch noch winzig kleine Gestalten, die uberall herumrannten, in den Raumen, auf den Fluren und auf dem Vorplatz, so da? man hollisch aufpassen mu?te, um keine von ihnen versehentlich zu zertreten.
        Naturlich, das waren die Zwerge, von denen auf Arachnas Handflache bequem ein Dutzend Platz gefunden hatten. Sie waren die Untergebenen Karenas, dienten ihr, sorgten dafur, da? die Riesin und ihre Tochter immer gut versorgt waren. Denn ungeachtet ihres geringen Wuchses, waren diese Wichte ganz normale und vor allem flei?ige Leute. Sie erfullten ernsthaft ihre Aufgaben und besa?en einen so naturlichen Stolz, da? Arachna uberhaupt nicht auf den Gedanken gekommen ware, sich uber sie lustig zu machen.
        Ja, die Zwerge - Manner, Frauen und sogar Kinder - waren stets dagewesen, wenn man sie brauchte. Unter ihnen gab es nicht nur Jager und Landwirte, Erzgraber und Schatzsucher, Zimmerleute und geschickte Kunstschmiede, sie verstanden sich auch bestens auf die Hauswirtschaft, konnten ausgezeichnet kochen und backen. In ihrem Traum sah Arachna, die langsam aus ihrer Betaubung erwachte und im Unterbewu?tsein merkte, da? ihr ungeheuer der Magen knurrte, die kleinen Kerle, wie sie Pfannen und Topfe herbeischleppten. Sie brachten Brot, Fleisch, Kuchen und Wein, und das Mahl war so uppig, da? der Hexe aus dem Zauberland das Wasser im Mund zusammenlief.
        DAS LAND TAUREKIEN
        Doch was Arachna fur einen Traum gehalten hatte, war bis zu einem gewissen Grad durchaus Wirklichkeit. Der Schwarze Stein des Hurrikap hatte sie tatsachlich ins Land ihrer Mutter Karena zuruckgetragen. Vor Tausenden von Jahren, das ist in einem fruheren Buch beschrieben, war sie von dort hergekommen, hatte gro?es Ungluck uber die anderen Bewohner des Zauberlandes gebracht. Nun war sie in ihre Kinderzeit zuruckversetzt worden und in eine Lage geraten, die sie unmoglich hatte vorhersehen konnen.
        Denn zwischen der herrschsuchtigen Riesin Karena und den sanftmutigen Zwergen stand es in diesen Tagen ganz und gar nicht zum besten. Die Zwerge waren die Ureinwohner dieses Landstrichs, sie hatten ihr Reich Taurekien genannt und bezeichneten sich selbst als Taureker. Keiner von ihnen hatte freilich sagen konnen, wann Karena in dieser Gegend aufgetaucht war. Dabei hielten sie das Andenken an ihre Vorfahren sehr hoch, fuhrten eine genaue Chronik uber samtliche Geschehnisse.
        Da aber niemand mehr wu?te, wie lange die Riesin hier lebte, meinten die Zwerge, da? es schon immer so gewesen sei und sie folglich seit jeher ihre Untertanen waren.
        Deshalb hatten sie es auch hingenommen, ihr zu dienen, ware Karena nicht so bose, zankisch und aufbrausend gewesen. Gutmutig wie diese kleinen Menschen waren, hatten sie ihr sogar freiwillig Gefolgschaft geleistet, hatte sich nicht ihr ganzer Stolz gegen die strenge, ungerechte Behandlung aufgebaumt, die ihnen widerfuhr. Karena bestrafte sie namlich auf grausame Weise fur jede noch so geringe Unachtsamkeit.
        Doch was sollten sie tun. Gewi?, sie konnten einfach davonlaufen, sich verstecken - die Riesin wurde sie ganz bestimmt nicht wiederfinden. Sie waren ja Meister der Tarnung! Wenn sie ihre grauen Capes und Zipfelmutzen anlegten, waren sie auf dem steinigen Grund nicht mehr zu sehen. Au?erdem gab es unzahlige Bodenlocher, Spalten und Hohlen, in die sie kriechen konnten. Selbst von ihresgleichen waren sie dann kaum zu entdecken, geschweige denn von der Alten aus ihrer gewaltigen Hohe herab.
        Auf Dauer allerdings konnten sich die Taureker trotz allem nicht verbergen, es entsprach auch nicht ihrer Natur. Das gro?te Ungluck aber sahen sie darin, da? Karena eine garstige Hexe war. Alle moglichen bosen Machte waren ihr Untertan. Sie kannte unzahlige Beschworungsformeln, verstand es, Unheil und schlimme Krankheiten uber die Zwerge zu bringen. Hatte sie jedoch einmal eine Formel vergessen, zog sie ihr gro?es Zauberbuch zu Rate. Darin war anscheinend alles Ungemach der Welt versammelt.
        Au?erdem besa? Karena einen gro?en Fliegenden Teppich, an dem wohl Generationen von Taurekern gewirkt hatten. Auf ihm flog sie in regelma?igen Abstanden ihre riesigen Besitztumer ab, um nach dem Rechten zu sehen.
        Die Taureker dagegen bedienten, solange sie zuruckdenken konnten, sowohl eine gewaltige Stein- als auch eine riesige Wassermuhle. Sie machten den Larm, an den sich Arachna in ihrem Traum erinnert hatte. Die Steinmuhle zerkleinerte mit ihren von einem machtigen Rad angetriebenen Mahlsteinen gro?e Felsblocke zu Staub. Diese Blocke wurden vorher muhsam von den Felswanden abgeschlagen, die das flache Land Taurekiens umgaben. Auf diese Weise wollte Karena das Tal erweitern und uber die Jahrtausende hin mehr Raum fur sich schaffen. Das war ihr auch gelungen. Der von den Mahlsteinen aufsteigende gelbe Staub aber wurde uber ein ganzes System von Rohrleitungen in die nahegelegene Schlucht gelenkt. Sie war sehr schmal, sehr tief und fuhrte in vielen Windungen in eine unergrundliche Ferne.
        Die Wassermuhle beruhte auf dem gleichen Prinzip. Sie wurde nicht etwa von einem Bach oder Flu? angetrieben, sondern schopfte im Gegenteil Wasser mit vielen kleinen Schaufeleimern aus einem benachbarten See. Von einer unterirdischen Quelle gespeist, hatte dieser See Taurekien langst uberschwemmt, ware er nicht von den Zwergen stets auf dem gleichen Stand gehalten worden. Durch ein ebenfalls ausgeklugeltes Rohrsystem wurde das Wasser dann in die bereits erwahnte Schlucht geleitet. Beide Muhlrader aber wurden allein durch die Kraft der winzigen Menschen in Gang gehalten.
        Die Stelle nun, wo das Wasser auf den gelben Steinstaub traf, bevor es ihn in die Schlucht hinunterspulte, war bei den Zwergen sehr gefurchtet. Mehr noch, sie war ihnen unheimlich, denn hier bildeten Steinstaub und Flussigkeit einen dichten gelben Nebel. Er stand Tag und Nacht uber der Schlucht und formte bei Wind die seltsamsten, grusligsten Gebilde. Sie erinnerten an Ungeheuer, die unablassig miteinander rangen, sich ineinander verkeilten und gegenseitig auffra?en. Wegen dieser undurchdringlichen Wolken wu?te niemand, wie tief die Schlucht war und wie weit sie sich erstreckte. Denn jeder, der es wagte, in den Nebel einzudringen, erstickte darin. Das gleiche Schicksal ereilte ubrigens auch alle, die bei ihrer Herrin in Ungnade gefallen waren. Sie wurden ergriffen und kurzerhand in die Schlucht geworfen.
        Tag fur Tag ruckten zwei Zwergenheere zu den Muhlen aus. Sie kletterten ins Innere der Rader und lie?en sie kreisen, indem sie von einer Strebe zur anderen klommen.
        Die beiden Zwergentrupps wohnten getrennt, jeder fur sich in einer eigenen Siedlung. Sie trugen auch zwei unterschiedliche Namen, die erst zusammengenommen die Bezeichnung des gesamten Zwergenvolkes bildeten. Die einen waren die Tau, die anderen die Reker.
        Die Tau bedienten die gewaltige Steinmuhle, die Reker waren fur die gro?e Wassermuhle zustandig. Karena hatte diese Trennung einst eingefuhrt, um die Gruppen gegeneinander ausspielen zu konnen. Auf ihr spezielles Gehei? hin mu?ten sich die Zwerge sogar unterschiedlich kleiden - die Tau trugen Gelb, die Reker Blau.
        Jede Stammesgruppe besa? ihren Altesten. Den Tau stand ein gewisser Kastao vor, ein Mannchen mit uppigem Bart, die Reker dagegen wurden von Antreno angefuhrt, dessen Bart zwar nicht ganz so uppig, dafur aber schon lang war. Die zwei waren keineswegs miteinander verfeindet, obwohl die Hexe Karena das ganz gern gesehen hatte. Sie sagte sich, da? es bestimmt besser war, wenn die beiden ihren Zorn gegeneinander richteten als gegen sie und ihre Muhlen.
        Tau und Reker aber hielten Freundschaft. Sie besuchten sich gegenseitig, feierten gemeinsam, die jungen Manner und Frauen des einen Stammes konnten sogar in den jeweils anderen aufgenommen werden, wenn sie es wunschten. Zu diesem Zweck wechselten sie einfach die Farbe ihrer Kleider und zogen in das andere Lager.
        All jene Zwerge, die in Karenas Schlo? lebten und ihr unmittelbar dienten, trugen graue Gewander. Sie bildeten keinen gesonderten Stamm, sondern legten morgens, wenn sie zur Arbeit erschienen, lediglich die entsprechende Kleidung an.
        Die Taureker waren, wie erwahnt, freundliche Wesen, sie hatten ihr Schicksal lange geduldig ertragen, doch nun war der Tag gekommen, da sie den Entschlu? fa?ten, der Hexe Karena den Kampf anzusagen.
        Zur Nacht, als in beiden Siedlungen die Lichter verloschen waren und sich in Karenas Schlo? die Hektik gelegt hatte, die dem Abendbrot und dem Zubettgehen der Hexe voranging, konnte man in einem kleinen Anbau der Steinmuhle einen schwachen, rotlich glimmenden Lichtschein erspahen. Die beiden Muhlen ragten duster aus dem nachtlichen Dunkel auf, und ware jemand mutig genug gewesen, um diese Zeit hierher zu kommen, er hatte durch ein schmales Fenster drei Taureker entdeckt. Sie sa?en an einem Feuer, das direkt auf dem Steinfu?boden entfacht worden war. Einer von ihnen trug die blaue Tracht der Reker - es war der Alteste Antreno. Der zweite Mann war Kastao, Abgesandter der Tau, und der dritte schlie?lich, ganz in Grau, war aus dem Schlo? herbeigeeilt.
        Die drei hatten sich hier zusammengefunden, um einen Aufstand gegen Karena vorzubereiten. Beginnen sollte es damit, da? am nachsten Tag niemand zur Arbeit erschien. Die Muhlrader wurden zum erstenmal seit vielen hundert Jahren stillstehn. Sie hatten Tag fur Tag nach neuer Nahrung, nach immer mehr Steinen und Wasser verlangt, nun war erst einmal Schlu? damit.
        Fur die Hexe selbst aber hatten sich die drei Manner eine besondere Uberraschung ausgedacht. Wenn sie am Morgen erwachte, sollte sie im Schlo? keinen einzigen Diener vorfinden. Das Becken fur ihr tagliches Bad wurde leer bleiben, das Wasser zum Waschen eiskalt sein. Man wurde kein Essen kochen und schon gar nicht die uber Nacht ausgekuhlten Gemacher heizen.
        DIE KRIEGSERKLARUNG
        Am nachsten Morgen erwachte Karena von einer Kalte, die sich sogar unter ihr dickes Federbett geschlichen hatte. Sie gahnte, streckte sich und stand frostelnd auf. Ihre Tochter war nicht da, war nach einem Streit wieder einmal davongelaufen. Sollte sie, der Hunger wurde das widerborstige Biest schon heimtreiben.
        Nach alter Gewohnheit machte Karena ein paar Kniebeugen vor dem Bett, hupfte ein paarmal auf und ab, um dann, ohne viel Federlesens, ins Badebecken zu springen. Es befand sich direkt im Schlafzimmer und war wunderbar zum Planschen geeignet. Der laute Knall, der ihrem Sprung folgte, horte sich allerdings an, als sei ein gro?er Luftballon geplatzt. Karena war voller Wucht auf den Steinboden des Beckens geklatscht, in dem sich diesmal kein Wasser befand! Da? man es nicht gefullt hatte, war noch nie passiert.

»Was habt ihr da gemacht, ihr elenden Wichte!« tobte sie. »Na wartet, ihr Halunken, das werdet ihr mir bu?en! Wehe, wenn ich die Schuldigen erwische! Ich werde sie nicht nur in die Staubschlucht werfen lassen, ich werde…«
        Sie erstickte fast vor Zorn, und ihr fiel nicht gleich ein, wie sie diese Taugenichtse noch bestrafen konnte.

»He, Wache!« rief sie schlie?lich und klatschte dreimal laut in die Hande. »Bringt sofort die Wassergie?er zu mir, die fur mein Bad zustandig sind. Ich will sie lehren, das Becken nicht zu fullen!«
        Doch auch nachdem sie ihren Befehl dreimal wiederholt hatte, lie? sich niemand von den Dienern blicken. Nur das Echo hallte vielfach aus allen Ecken des ausgestorbenen Schlosses zuruck.

»Sieh an«, grollte die Hexe, »diese Gauner machen heute anscheinend blau. Da rei?en ja ganz neue Sitten ein.«
        Karena sprang aus dem Becken und hastete, nur im Nachthemd, durchs ganze Schlo?. Sie sauste von ihrem Schlafzimmer im obersten Stockwerk zum Speisesaal und von da bis hinunter in den Keller. »Tatsachlich«, murmelte sie, nun schon ziemlich verblufft, »keine Zwergenseele!« Sie hatte sich im Laufe der Jahrhunderte total daran gewohnt, da? man ihr beim Baden und Ankleiden half, ihr Essen und Trinken vorsetzte.
        Dann rannte sie auf den Vorplatz, doch auch hier lag alles wie ausgestorben da. Weder Menschen noch Tiere weit und breit! Wie sich herausstellte, hatte der Schlo?jager Arkado sogar die Haustiere in die Steppe hinausgescheucht.
        Das Kuchenpersonal aber hatte samtliche Lebensmittelvorrate in geheimen Gewolben versteckt, von denen Karena nicht die geringste Ahnung hatte. Der Zugang zu diesen Gewolben war so meisterhaft getarnt, da? ihn keiner entdeckte, es sei denn, er wu?te Bescheid.
        Die Zwerge selbst, die im Schlo? dienten, waren in ihre Siedlungen zuruckgekehrt. Sie hatten ihre graue Kluft abgelegt und die Kleider ihres Stammes angezogen. Da die Riesin ihre winzigen Untergebenen sowieso nicht auseinanderhalten konnte, wurde sie nie jemanden dort finden. Zumal die Taureker ehrliche und stolze Leute waren, die selbst unter Androhung der Todesstrafe keinen der Ihren verraten wurden!
        Karena uberlegte kurz und kehrte dann entschlossen ins Schlafzimmer zuruck. Sie ging zu ihrem Bett, vor dem ein hubscher Teppich lag. Es war ein Vorleger, der ihr auf angenehme Art die Fu?e warmte, wenn sie
        barfu? aus dem Bett stieg, der aber noch eine andere Eigenschaft besa?. Er vermochte sie uber weite Entfernungen zu tragen, denn es war ihr Fliegender Teppich.
        Die Hexe nahm in der Mitte Platz und befahl ihm, sie zur Siedlung an der Steinmuhle zu bringen.
        Schon von weitem war sie unangenehm von der ungewohnten Stille beruhrt, die hier herrschte. Weder das Drohnen der Maschinen im Steinbruch war zu horen noch das Quietschen der Muhlrader.
        Aber auch die Siedlung selbst wirkte wie ausgestorben. Sie lag still und verlassen da, nur uber dem Haus des Altesten Kastao wehte, laut flatternd, die gro?e gelbe Fahne der Tau im Wind, die lediglich bei bedeutenden oder festlichen Anlassen gehi?t wurde.

»Zur Wassermuhle!« befahl Karena, und der Teppich schwenkte gehorsam zur zweiten Siedlung ab.
        Dort erwartete sie das gleiche Bild: ein regloses Muhlrad, leere, ausgetrocknete Wasserrohre, und uber dem Haus des Altesten Antreno die blaue Fahne der Reker.

»Na wartet, meine Taubchen«, zischte die Hexe unheilvoll, »diese Bummelei wird euch teuer zu stehen kommen! Von nun an la? ich euch noch viel mehr schuften. Tag und Nacht. Ich habe genugend Mittel, euch die Matzchen auszutreiben. Es ware doch gelacht, wenn ich euch nicht zwingen konnte, meine Befehle auszufuhren!«

»Nach Hause, auf dem schnellsten Weg nach Hause!« knurrte Karena ungeduldig und versetzte dem Teppich sogar einen Tritt. Sie konnte es nicht erwarten, wieder ins Schlo? zu kommen, wo sich in einem kleinen Geheimversteck ihr beruhmtes Buch befand. Darin waren Hunderte von Beschworungsformeln aufgeschrieben, mit deren Hilfe sie sich die bosen Geister unterwarf und auf die sie jetzt all ihre Hoffnung setzte.
        Der Teppich brachte Karena sicher nach Hause zuruck. Nachdem er vor der Schwelle den Staub abgeschuttelt hatte, der ihm unterwegs zugeflogen war, sauste er, geschickt manovrierend, durch alle Etagen und Flure. Sich an besonders engen Stellen fast zu einem Rohr formend, landete er schlie?lich an seinem gewohnten Platz vor dem Bett.
        Das kalte, unaufgeraumte Schlafzimmer wirkte niederdruckend auf Karena, so da? sie plotzlich das Gefuhl hatte, die nachsten Jahrtausende einsam und allein, ohne die Diener und sogar ohne ihre Tochter, in diesem menschenleeren, unbehaglichen Schlo? zubringen zu mussen.
        Doch dann fegte sie diesen dusteren Gedanken weg und sturzte in die Zimmerecke, wo sich unter einer der fest verfugten Bodenplatten ihr Geheimfach befand. Sie druckte auf einen Knopf, von dem sie annahm, da? er nur ihr bekannt war. Die Platte, von einer Feder bewegt, glitt zur Seite und gab den Blick auf eine Vertiefung frei.
        Dort allerdings bluhte ihr eine neue Uberraschung. Auf einem Seidenkissen lag - nicht etwa das erwartete Buch, sondern lediglich ein kleiner Zettel, ein lumpiges Stuck Papier, das die Taureker ihrer Herrin Karena als Botschaft zugedacht hatten.

»Verdammt!« heulte die Hexe auf und stampfte in ohnmachtiger Wut mit den Fu?en.
»Sie haben mein Buch gestohlen! Diebe! Rauber! Banditen!«
        In ihrem Zorn zerknullte sie den Zettel, wollte ihn zum Fenster hinauswerfen. Doch es war zu, und so blieb das Papier auf dem Fensterbrett liegen.
        Karena lie? sich schwer auf den Vorleger plumpsen. Der Teppich jedoch fing sie federnd ab und legte sie behutsam aufs Bett. Da krallte sie sich mit aller Kraft an ihm fest, als konnte auch er plotzlich verschwinden.

»Ein Gluck, da? diese hinterhaltigen Zwerge nur das Buch und nicht auch noch dich gestohlen haben«, sagte die Riesin und sprach zum erstenmal in einem freundlichen Ton mit ihrem treuen Teppich.
        Allmahlich kam sie zur Ruhe.

»Na schon«, sagte sie nach einer Weile, »wenn die Zwerge den Krieg wollen, sollen sie ihn haben. Ich bin auch ohne das Buch stark genug, mit diesen Wichten fertig zu werden. Schlie?lich besitze ich noch eine Geheimwaffe. Es wird Zeit, da? ich sie ausprobiere.«
        Sie zog sich mit einiger Muhe an, starkte sich recht und schlecht mit den Essensresten, die sie noch vom Vorabend an ihrem Bett fand. Sie nahm aus dem Krug zum Handewaschen einen Schluck kaltes Wasser und machte sich daran, einen Schlachtplan zu entwerfen.
        KARENAS RACHE
        Im Krieg ist es immer gunstig, die Plane des Gegners zu kennen. Karena erinnerte sich, die Botschaft der Zwerge weggeworfen zu haben, deshalb ging sie zum Fenster, um nach dem Zettel zu suchen. Sie entdeckte das zusammengeknullte Papier, entfaltete es und las:
        HOCHVEREHRTE HERRIN!
        Noch nie in der Geschichte der Taureker haben wir aufbegehrt, doch heute wenden wir uns mit einer dringlichen Bitte an Euch. Was wir wunschen, ist nichts weiter, als da? Ihr uns so behandelt, wie es ehrliche und flei?ige Leute verdienen. Es steht Euch nicht zu, uns wegen jedes noch so kleinen Vergehens oder einfach nach Eurem Belieben in die Staubschlucht zu werfen. Wir sind zwar klein von Wuchs, aber dennoch lebendige Menschen, die Gerechtigkeit verlangen! Dies ist unsere erste und letzte Bitte. Solltet Ihr dem Wunsch nicht nachkommen, werden die Muhlrader fortan stillstehen.
        Wir hoffen, da? Ihr uns diese Gute gewahrt, und schworen zum Dank dafur, Euch und Euren Nachfahren bis ins siebente Glied zu dienen! Doch erwarten auch wir, da? Ihr schwort, fur immer Wort zu halten. Und zwar mit dem Gro?en Riesenschwur.
        Voller Achtung verbleiben
        Kastao, Altester der Tau
        Antreno, Altester der Reker
        Arkado, Schlo?jager.

»Das ware ja noch schoner!« rief die Riesin, nachdem sie die uber alle Ma?en ehrerbietige Botschaft zur Kenntnis genommen hatte. »Ihr wi?t ja gar nicht, was ihr von mir verlangt. Wie kann ich mir denn gewi? sein, da? ihr die Muhlrader dreht, wenn ich euch nicht bestrafe! Die aber mussen sich bewegen, sonst hat meine Herrschaft keinen Bestand.«
        Gleich darauf begann sie giftig und hohnisch zu lachen. Den Gro?en Riesenschwur verlangen diese eingebildeten Taureker! Na ja, immerhin hab ich es geschafft, sie so zu zahmen, da? sie vor mir zittern. Sie haben es nicht einmal gewagt, mir ihr Anliegen personlich vorzutragen. Sie wissen, wie schrecklich ich in meinem Zorn bin und da? ich sie auf der Stelle zu Staub zermahlen hatte.
        Karena nahm erneut auf ihrem Teppich Platz und befahl ihm, sie noch einmal zur Steinmuhle zu bringen.
        Unterdessen hatten sich Kastao, Antreno und Arkado in aller Fruhe in der Steinmuhlensiedlung zusammengefunden, von wo aus sie das Schlo? beobachteten. Sie sahen den Fliegenden Teppich vorbeisausen, auf dem drohend die Hexe stand: im Nachthemd, mit wirren, vom Wind gezausten Haaren und einer schauerlichen Grimasse, die nichts Gutes verhie?.
        Kurze Zeit spater bemerkten sie den Teppich abermals uber ihrer Siedlung, nur da? Karena inzwischen recht und schlecht angezogen und halbwegs gekammt war.
»Was sie wohl vorhat?« murmelte Kastao, der um die Sicherheit seines Dorfes furchtete.
        Der Teppich ging neben der Steinmuhle nieder. Eine Zeitlang war von dort kein einziger Laut zu horen. Auch von der Riesin selbst konnten sie nichts entdecken.
        Plotzlich jedoch war die Luft vom Gedrohn, vom Kreischen und Quietschen der Mahlsteine und Muhlrader erfullt. Was hatte das zu bedeuten?

»Sieht aus, als wollte uns Karena die Arbeit abnehmen«, sagte Kastao spottisch. Dann wurde er aber wieder ernst und fuhr, an Arkado gewandt, fort: »Wir sollten herauszufinden versuchen, was diese Hexe im Schilde fuhrt.«
        Arkado lie? sich nicht lange bitten, sondern brach umgehend zur Steinmuhle auf. Als Jager verstand er es ausgezeichnet, sich lautlos zu bewegen.
        Eine Stunde spater tauchte er wie ein Gespenst hinter Kastao und Antreno auf. Er berichtete, da? Karena in der Tat wie besessen und ganz allein gro?e Steinbrocken zu Staub zermahlen, diesen in Sacke fullen und damit den Fliegenden Teppich beladen wurde. Die Arbeit ginge ihr so flott von der Hand, als hatte sie ihr Lebtag nichts anderes getan.
        Antreno, der Stammesalteste der Reker, uberlegte.

»Ich wei? zwar nicht, was sie vorhat«, lie? er sich nach einer Weile vernehmen,
»doch eins ist wohl klar: die Sache schlagt uns nicht zum Guten aus. Ich furchte, uns Zwergen droht Gefahr.«
        Karena schuftete den ganzen Tag. Hochstens da? sie einmal auf ihre mi?ratene Tochter schimpfte, die sich, statt ihr zu helfen, irgendwo in der Ferne herumtrieb. Viele Male flog der Teppich uber die Siedlung hinweg in Richtung Schlo?, und er war so schwer beladen, da? er fast an den Dachern der Hauser hangenblieb.
        Allmahlich wurden die Taureker von ernster Sorge ergriffen. Sie konnten sich einfach nicht erklaren, wofur Karena diese Unmengen gelben Staubs benotigte.
        Die Hexe selbst aber, erschopft von der schweren, ungewohnten Arbeit, kehrte erst spat in der Nacht nach Hause zuruck. Dort lie? sie sich, angezogen und schmutzig wie sie war, ins Bett fallen. Sie sank in einen unruhigen Schlaf, walzte sich von einer Seite auf die andere und hustete heftig von all dem Staub, der sich in ihrer Kehle festgesetzt hatte.
        Kaum da? es dammerte, erhob sie sich schon wieder, und wie sie so dastand, erinnerte sie an eines der gelben Ungeheuer, die morgens aus der Staubschlucht heraufkrochen.
        Dann setzte sie sich erneut auf den Fliegenden Teppich und steuerte den See an. Zusammen mit ihrem Gefahrt lie? sie sich ins Wasser plumpsen. Das kalte Na? erfrischte die Riesin und verlieh ihr neue Krafte. Sie planschte im See herum, bis sie blau anlief. Als sie schlie?lich gewaschen war und auch den Teppich vom dicksten Staub befreit hatte, rief sie, bibbernd vor Kalte, doch triumphierend:

»Ihr seid wirklich nicht zu beneiden, meine Taubchen!«
        Vor Freude uber ihren hinterhaltigen Plan, mit dem sie sich an den Zwergen rachen wollte, brach sie in ein lautes Hohngelachter aus.
        Der Teppich schuttelte sich wie ein zottiger Hund, der aus dem Wasser kommt, und brachte seine Herrin in Windeseile zuruck zum Schlo?. Hier zog sich Karena trockene Kleider an, dann schritt sie zur entscheidenden Tat.
        Wieder lud sie - zum wievielten Male schon - die randvoll gefullten Sacke auf den Teppich. Sie hatte ein ganzes Lager von diesem Dreckszeug zusammengetragen und im riesigen Speisesaal gehortet. Der Staub war ihr mehr wert als jeder Goldschatz.

»Los geht’s!« befahl sie und lenkte den Teppich nun zur Siedlung an der Wassermuhle.
        Sie war ganz bewu?t in aller Herrgottsfruhe aufgebrochen, damit die Taureker nicht vorzeitig von ihrem Vorhaben Wind bekamen und davonliefen. Die fruhen Morgenstunden, in denen die Leute am tiefsten schliefen, waren ihr gerade recht.
        Karena zog in Gedanken einen riesigen Kreis, der von der Wassermuhle uber die Gerollsteppe bis hin zur Siedlung der Tau neben der Steinmuhle reichte, und machte sich ans Werk.
        Sie band einen der Sacke auf und begann den gelben Staub auszuschutten, wobei sie den Teppich anwies, moglichst tief zu fliegen. In dicken Schwaden senkte sich der erstickende Schmutz auf die Erde.
        Ringsum herrschte vollige Stille, auch der Teppich glitt lautlos dahin, und so ahnten die Zwerge, die friedlich in ihren Betten schliefen, nichts von dem Schlag, zu dem die Riesin ausgeholt hatte.
        Bald schon bildete der Staub uber dem Gebiet, das die Hexe auserkoren hatte, eine geschlossene Decke, schnitt als undurchdringlicher gelber Vorhang das Land Taurekien von der ubrigen Welt ab. Verbunden mit Wasser, Nebel und dem Morgentau, wurde der Schmutz zu einer dichten Masse aufquellen, die samtliche Senken und Spalten fullte. Nicht mal eine Maus konnte dann mehr hindurchschlupfen.
        Nachdem Karena ihr verderbenbringendes Gut abgeworfen hatte, kehrte sie ins Schlo? zuruck, um Nachschub zu holen. Sie schaffte es, den Kreis ein zweites Mal abzufliegen und damit die Siedlungen der Taureker vollstandig einzuhullen.
        Nun hatte sie ihr Ziel erreicht: der gelbe Dunst wurde den Zwergen die Luft nehmen und sie wie eine Schlange im Wurgegriff erdrucken.
        Die Hexe lie? sich vom Teppich zum hochsten Turm ihres Schlosses bringen, wo sich eine Aussichtsplattform befand. Von dort aus betrachtete sie zufrieden ihr Werk und rieb sich vor Vergnugen die Hande. Zwar fiel ihr noch ihre Tochter ein, die irgendwo da drau?en steckte, aber die war widerstandsfahig und wurde sich schon durchschlagen. Auch ihr wurde die Sache eine Lehre sein. So richtig treffen dagegen wurde sie diese aufsassigen Wichte.

»So wahr ich Karena hei?e«, murmelte sie kichernd, »ein paar Tage noch, dann werden die Zwerge auf Knien angerutscht kommen, damit ich sie von dem Gelben Nebel befreie!«
        GEFANGEN IM GELBEN NEBEL
        Der Jager Arkado war der erste, der am Morgen das Haus verlie? und bemerkte, da? etwas nicht stimmte. Die Sonne, die um diese Zeit schon hinter den Felsvorsprungen hatte hervorschauen und ihre warmenden Strahlen zur Erde schicken mussen, sah aus wie eine gro?e schmutzige Apfelsine. Sie leuchtete kaum, und von warmenden Strahlen konnte man gleich gar nicht reden.
        Arkado schaute in die Runde und stellte fest, da? uberall, so weit er blicken konnte, ein gelber Schleier uber der Erde wallte. Er reichte bis in die Ebene hinunter, stand uber der Wassermuhle und erhob sich auch hier, an der Steinmuhle! Selbst uber der Staubschlucht hing er, vermengte sich mit den Nebelschwaden dort. Man hatte meinen konnen, die Schlucht wollte ihre Fuhler ausstrecken, um die ganze Umgebung in sich einzusaugen.
        Der Jager rannte entsetzt ins Haus zuruck, er traf auf der Schwelle Kastao und Antreno, die gleichfalls keine Ruhe mehr hatten. Wortlos wies er mit einer weiten Handbewegung nach drau?en, damit die Altesten sich selbst ein Bild von dem Geschehen machten.

»Das ist es also, was Karena vorhatte!« sagte Antreno nach einer Weile betroffen.
»Seht nur, meine Siedlung an der Wassermuhle ist schon ganzlich von diesem Nebel uberzogen. Ich mu? sofort zu meinen Brudern und Schwestern!«
        Er eilte, so schnell er konnte, davon. Die beiden anderen hielten ihn nicht ab - ein Stammesaltester hatte im Augenblick der Gefahr bei seinem Volk zu sein.

»Was meinst du«, wandte sich der Jager an Kastao, »ist dieser Dunst sehr gefahrlich?«

»Ich glaube schon«, antwortete Kastao, und da er merkte, da? der Jager, der ja nie bei den Muhlen gearbeitet hatte, nur wenig uber diese Erscheinung wu?te, erklarte er:

»Gefahrlich ist der Gelbe Nebel vor allem, weil er ein Gemisch darstellt. Der Steinstaub an sich ist leicht und wird normalerweise vom Wind weggeweht. Vermengt mit Wasser, kann er jedoch endlos lange in der Luft hangen.«
        Er rausperte sich und fuhr fort:

»Der Aufenthalt in diesem Dunst ist au?erst schadlich fur die Gesundheit. Er kann, wie du selber wei?t, schon bei kurzer Dauer krank machen. Immer wieder finden sich ja wagemutige Manner, die in die Schlucht hinabsteigen, um sie zu erkunden, doch noch nie hat einer den Grund erreicht. Wenn sie nicht schnell zuruckkommen, ersticken sie. Auch die armen Kerle, die zur Strafe in den Abgrund geworfen werden, kommen auf diese Weise um, wenn sie sich nicht gleich das Genick brechen. Viele Taureker, die in unmittelbarer Nahe der Schlucht arbeiten, leiden unter standigem Husten, ihre Augen tranen und bu?en die Sehkraft ein.«

»Und du glaubst, Karena will uns fur unseren Ungehorsam auf diese furchtbare Art bestrafen?« flusterte Arkado erschrocken.
        Kastao verzichtete auf eine Antwort, denn zusehends naherte sich der Gelbe Nebel bereits der Steinmuhlensiedlung.

»Wenn wir am Leben bleiben wollen, durfen wir keine Minute mehr verlieren!« rief er. »Wir mussen umgehend fliehen!«

»Aber wohin?« fragte der Jager, mehr sich selbst. »Dieser gelbe Dunst ist uberall, wohin man schaut!« Er uberlegte kurz, dann fuhr er entschlossen fort: »Hor zu, Kastao, geh du zu deinen Leuten und warne sie vor der drohenden Gefahr. Ich laufe inzwischen in die Steppe und prufe, ob es einen Platz gibt, der uns Sicherheit bietet. Ich kenne dort Weg und Steg, jeden noch so engen Felsspalt, vielleicht finden wir ein Versteck.«

»Einverstanden. Wir verschanzen uns in den Hausern, bis du uns Bescheid gibst, dichten samtliche Tur- und Fensterritzen ab. Wenn wir eine Offnung fur die Luft lassen und sie mit feuchten Tuchern verhangen, werden wir es schon eine Weile durchstehen. Falls ubrigens dich unterwegs der Gelbe Nebel einholt, solltest du dir gleichfalls ein nasses Tuch vors Gesicht binden, Arkado. Es hilft ganz gut, ich hab es selber ausprobiert.«
        Dem Jager kam ein Gedanke.

»Wie will eigentlich Karena selbst uberleben?« fragte er. »Auch sie ist ja nicht unsterblich, mu? atmen, essen…«

»Die Riesen sind leider viel kraftiger als wir, au?erdem wurden sie sich in die obersten Stockwerke ihres Schlosses fluchten oder auf den Turm«, erwiderte Kastao zornig. »Der Nebel breitet sich hauptsachlich am Boden aus und wird das Schlo? gerade mal bis zur Halfte einhullen. Bleibt nur die Hoffnung, da? die alte Hexe verhungert. Wir haben so ziemlich alle Lebensmittel versteckt.«

»Und wie sieht’s mit euren eigenen Vorraten aus? Ihr mu?t ja gleichfalls essen und trinken. Und ihr seid eine Menge Leute.«

»Stimmt, wir konnen uns nur an das halten, was sicher in den Kellern aufbewahrt ist und nicht durch diesen Giftschlamm verunreinigt wird. Immerhin konnen wir zwei Wochen durchhalten, wenn wir sparsam sind.«
        Arkado und Kastao umarmten sich zum Abschied, und im nachsten Augenblick war der Jager wie vom Erdboden verschluckt. Der Stammesalteste aber eilte zu seinen Leuten, um den Schutz zu organisieren.
        Er hatte noch Zeit, samtliche Einwohner auf dem Dorfplatz zu versammeln, um ihnen die schwierige Lage zu erlautern, in der sie sich befanden. Als er gerade zu den Ma?nahmen kam, die ergriffen werden sollten, traf uberraschend Antreno wieder bei ihnen ein. Es stellte sich heraus, da? es in der Wassersiedlung nicht gelingen wurde, dem Gelben Nebel den Zugang zu den Hausern zu versperren. Die Turen und Fenster schlossen nicht dicht genug, es blieb viel zu wenig Zeit, alle Ritzen und Locher zu verstopfen. Der schmutzige Dunst drang uberall ein - schon litten einige Zwerge unter heftigem Augentranen und starkem Husten. Deshalb hatte sich Antreno einen anderen Ausweg uberlegt:

»Wir mussen in die Wassermuhle fluchten und das Muhlrad erneut in Bewegung setzen!
        rief er seinen Leuten zu. »Das ist die einzige Rettung!«

»Was denn, wir sollen wieder anfangen zu arbeiten?!« emporten sich die Reker.
»Wozu haben wir Karena dann uberhaupt den Kampf angesagt? Sie wird sofort denken, wir hatten aufgegeben und sie ware die Siegerin! Eine solche Schmach konnen wir nicht hinnehmen, sie wurde in aller Ewigkeit auf unserem Volk lasten!«
        Antreno war nicht erstaunt uber diesen Protest, er erwiderte ruhig:

»Es geht nicht darum, nachzugeben, sondern unser Leben zu schutzen und dann den Widerstand weiterzufuhren. Mit Hilfe des Wassers konnen wir uns den Nebel vom Leib halten. Wir leiten das Wasser ubers Dach der Muhle, so da? wir hinter einem flie?enden Vorhang sitzen, in einer Art kunstlichen Glocke. Allerdings mussen wir das Rad rund um die Uhr in schneller Bewegung halten, damit wir einen starken Wasserdruck erzeugen. Nur so konnen wir den Nebel abhalten.«
        Der Alteste legte eine Pause ein. Als er sah, da? ihm die Leute aufmerksam zuhorten, fuhr er fort:

»Die Sache ist nicht leicht, hat aber einen zweiten Vorteil. Wir werden nicht jeder fur sich, sondern alle beisammen sein. Gemeinsam werden wir uns an die Arbeit machen, statt angstvoll abzuwarten. Denn glaubt mir, meine Freunde, aus langjahriger Lebenserfahrung wei? ich, da? es nichts Qualvolleres gibt, als in Augenblicken der Gefahr mu?ig herumzusitzen und die Hande in den Scho? zu legen.«
        Mit seiner entschlossenen Rede hatte Antreno die Zwerge uberzeugt. Mehr noch, sie hielten es fur richtig, auch die Bewohner der Steinsiedlung zu benachrichtigen und ihnen anzubieten, mit in die Wassermuhle zu kommen. Ihre Hauser wurden dem Gelben Nebel bestimmt ebensowenig standhalten.
        Aus diesem Grund war Antreno zu Kastao und den Tau geeilt, legte ihnen in der gebotenen Kurze die Dinge dar. Nein, wenn sie die Wassermuhle wieder in Betrieb nahmen, taten sie es bestimmt nicht aus Feigheit oder Verrat an ihrer gemeinsamen Sache. Es war vielmehr die einzige Moglichkeit, den Kampf fortzufuhren und vielleicht sogar zu siegen.
        Die Tau begriffen sofort, und bereits eine Stunde spater setzte sich aus der Steinsiedlung ein langer Treck in Richtung Wassermuhle in Marsch. Er bestand aus Fuhrwerken, voll beladen mit dem Hab und Gut der Zwerge und naturlich aus den Bewohnern der Dorfer selbst.
        Den Schlu? bildete der alte Kastao. Zum erstenmal, seit er sich erinnern konnte, ja zum erstenmal in der Geschichte seines Volkes, lag die Siedlung vollig ausgestorben da. Nur die gelbe Fahne wehte noch uber seinem Haus, doch als er sich dann ein letztes Mal umschaute, war sie schon nicht mehr zu sehen. Die Siedlung war bereits vom Gelben Nebel erfa?t und die Fahne in diesem Gewaber verschwunden.
        Viel Zeit blieb den Zwergen nicht fur ihren Umzug, und wahrend die einen noch beim Einraumen waren, verlegten die anderen schon Rohre, setzten dritte das Muhlrad in Gang. Wie geplant, wurde das Wasser nun nicht mehr in die Schlucht geleitet, sondern aufs Muhlendach, von wo es nach allen Seiten herabstromte und einen undurchdringlichen Vorhang gegen den erstickenden Nebel bildete.
        Antreno selbst ging mehrmals prufend um die Muhle herum, uberzeugte sich, da? es keine Lucken in den Wasserwanden gab. Die Geschichte funktionierte! Die giftigen Schwaden konnten ihnen nichts mehr anhaben. Sie sa?en geschutzt, wie hinter kraftig herabsturzenden Wasserfallen.
        Im Innern der Muhle wurde unterdessen emsig gezimmert und gebaut. Man horte das Kreischen der Sagen und das Klopfen der Hammer, die Raume wurden wohnlich hergerichtet. Die Frauen kummerten sich ums Essen und um die Kinder, die ihnen standig zwischen den Beinen herumquirlten, helfen oder nur spielen wollten.
        Kastao und Antreno aber hatten sich in ein kleines Zimmer zuruckgezogen. Sie sprachen uber Arkado. Beide bedauerten schon, da? sie den tapferen Jager hatten allein in die Steppe ziehen lassen. Selbst wenn es ihm gelungen war, eine Stelle zu finden, wo ihm der Gelbe Nebel nichts anhaben konnte - wie sollte er jemals zuruckkommen?
        Gewi?, Arkado kannte die Gegend wie seine Westentasche, er wurde nicht gleich zugrundegehen. Doch was, wenn er sein Leben aufs Spiel setzte, um die Zwerge zu retten? Sie kannten ihn, er wurde keine Gefahr scheuen und ihnen auf schnellstem Wege zu Hilfe eilen. Wie leicht konnte er sich dann trotz seiner Wegekenntnis verirren und ersticken.
        Falls Arkado aber uberlebte, kame er gewi? zur Steinsiedlung zuruck, von der er aufgebrochen war. Das Dorf jedoch war von seinen Bewohnern ubersturzt verlassen worden, erinnerte an einen zerstorten Ameisenhaufen. Bestimmt wurde der Jager daraus schlie?en, da? Karena uber die Tau hergefallen war und sie alle verschleppt hatte! Deshalb wurde er entweder zum Schlo? der Riesin aufbrechen oder aber zur Wassersiedlung laufen. Im ersten Fall wurde er wahrscheinlich in die Fange der Riesin geraten, im zweiten das Quietschen des Muhlrades vernehmen. Diese zweite Moglichkeit war freilich immer noch die bessere, selbst wenn Arkado dann zu dem Schlu? kam, die stolzen Reker hatten sich ergeben.
        ARACHNA ERWACHT
        Der Jager Arkado war zunachst in Richtung Schlo? geeilt. Der Nebel hatte sich noch nicht bis dorthin vorgearbeitet, und die Luft war sauber und klar.
        Schon von weitem sah er hoch oben auf der Turmplattform die Hexe, die zufrieden ihr Werk betrachtete. Naturlich konnte sie aus dieser Hohe herab unmoglich den winzigen Mann entdecken, der sich seinen Weg durchs Gestrauch bahnte. Es gab unzahlige solcher Pfade in Taurekien, sie bildeten ein gro?es, ineinander verschlungenes Netz. Nur wenige Zwerge kannten sich in diesem Gewirr so gut aus wie der Jager.
        Arkado lie? das Schlo? seitlich liegen. Er blieb nur kurz stehen, als er plotzlich einen Zettel durch die Luft tanzen und direkt vor sich auf den Boden fallen sah. Das Blatt Papier kam ihm bekannt vor, und er hob es auf. Naturlich, es war die Botschaft der Zwerge, die sie Karena ubermittelt hatten, und die von der Riesin jetzt, da sie ihren Inhalt kannte, endgultig weggeworfen worden war.
        Kurze Zeit spater war der Jager bereits tief in die Steppe vorgedrungen. Hier merkte er plotzlich, da? ihm das Atmen schwerer fiel. Weiter oben war der Nebel gewi? weniger dicht, deshalb erklomm Arkado eine nahegelegene Anhohe. Sie gehorte zu einer Hugelkette, von der die Steppe durchzogen wurde. Vom Kamm aus konnte er nun erkennen, da? der gelbe Dunst inzwischen na? und bedrohlich in den Talsenken stand.
        Aber auch hier oben turmten sich schon erste Nebelwande auf, und er mu?te ja weiter, wenn er ein Versteck fur die Zwerge finden wollte. Also holte Arkado, dem Rat Antrenos folgend, ein Tuch aus der Tasche, durchtrankte es mit Wasser aus seiner Trinkflasche und band es sich vor Mund und Nase. Dann setzte er seinen Weg fort. Nun hing alles davon ab, wie schnell er vorankam und wie weit sich der Gelbe Nebel uber die Steppe erstreckte.
        Das Laufen wurde immer schwieriger. Bisweilen mu?te sich der Jager geradezu blindlings vorwartstasten, denn die Sicht reichte keine zehn Meter weit. Er war auch stets von neuem gezwungen, das Tuch anzufeuchten, weil sich eine Staubschicht darauf gebildet hatte.
        Die Nacht verbrachte Arkado in einer hoher gelegenen Hohle, die er von seinen Streifzugen her kannte. Seine Beine fuhrten ihn fast automatisch zu diesem Unterschlupf, dessen Eingang er mit einem gro?en Stein verschlossen und mit Zweigen getarnt hatte. Er wollte verhindern, da? Tiere hineingelangten und sich uber den dort hinterlegten Proviant hermachten. Die Zweige und der Stein hatten auch den Nebel daran gehindert, ins Innere der Hohle einzudringen.
        Obwohl der gelbe Dunst hier zum Gluck schwacher war, dichtete der Jager den Eingang wieder ab, nachdem er hineingeschlupft war, und warf sich erschopft auf sein kleines Strohlager. Er schlief sofort fest ein.
        Arkado benotigte noch drei solcher Unterkunfte, ehe es ihm gelang, den Gelben Nebel hinter sich zu lassen. Endlich hatte er eine weitraumige Hochebene erreicht, die fernab von den beiden Siedlungen und vom Schlo? lag. Zu fern. Er selbst war zwar schon ofter hier gewesen, doch er bezweifelte, da? die anderen Zwerge den beschwerlichen Weg bis zu diesem Ort schaffen wurden.
        Der Jager schaute aufmerksam in die Tiefe - vielleicht gab es noch eine nebelfreie Zone im Tal, die naher an die beiden Siedlungen heranreichte. Doch das war nicht der Fall, der Nebel wallte uberall, die Hexe hatte ganze Arbeit geleistet! Was sollte aus den Taurekern werden, wenn sie keinen Ausweg fanden?
        Wenn die Lebensmittelvorrate in ihren Hausern aufgebraucht waren? Mu?ten sie klein beigeben, sich der Riesin erneut auf Gedeih und Verderb unterwerfen? Sie wurde ihnen den Ungehorsam heimzahlen und sich noch gemeinere Strafen ausdenken.
        Dann lie? Arkado die Augen zur anderen Seite der Hochebene schweifen, so als konnte er dort Hilfe fur sein Volk finden. Doch plotzlich geschah etwas, das er in seinen schlimmsten Traumen nicht erwartet hatte. Es rauschte in der Luft, als kame ein Felsblock geflogen, und genau in seiner Blickrichtung sauste eine riesige Frau zu Boden. Karena! dachte der Jager entsetzt. Wie um Himmels willen kommt die hierher? Hat der Fliegende Teppich ihr etwa ein Schnippchen geschlagen und sie abgeschuttelt? Vor drei Tagen hab ich sie noch hoch oben auf ihrem Schlo? gesehen, ist sie mir vielleicht auf die Spur gekommen?
        Doch diesen unsinnigen Gedanken schob er sogleich wieder beiseite. Karena hatte anderes zu tun, als ihm nachzujagen. Wahrscheinlich brachte sie sich nur selbst vor dem Nebel in Sicherheit oder war auf der Suche nach etwas E?barem, weil sie ihre Vorrate aufgebraucht hatte.
        Sicherheitshalber legte sich Arkado flach auf den Boden, um nicht gesehen zu werden. Er wartete eine Weile ab, doch die Riesin war ohnmachtig oder gar tot, sie blieb unbeweglich liegen. Der Jager erhob sich wieder und pirschte sich naher an sie heran. Von einem Felsen aus betrachtete er sie genauer und begriff - das da war gar nicht Karena! Nein, nein, diese Riesin war kleiner, es handelte sich um die andere, ihre Tochter, mit der sie sich standig zankte und die zuletzt wieder einmal aus dem Schlo? weggelaufen war. Aber wieso fiel sie jetzt vom Himmel?
        Meine Gute, die auch noch, dachte der Jager erschrocken, womit hab ich das verdient? Sie bewegt den Arm, also lebt sie noch. Wahrscheinlich ist sie durch einen Zaubertrick hierher gelangt.
        Scheint nicht ganz gelungen zu sein, so wie sie heruntergeplumpst ist. Trotzdem, was will sie hier?
        Plotzlich kam ihm eine Idee. Und wenn ich nun versuche, die beiden gegeneinander aufzuhetzen? Die Tochter gegen die Mutter, sie sind sich ja sowieso nicht grun. Vielleicht gelingt es mir, Arachna auf unsere Seite zu ziehen. Wir haben immerhin das Zauberbuch, einen fetten Koder.
        Arkado beobachtete die Riesin weiter, allem Anschein nach ging es ihr ziemlich schlecht. Sie regte sich etwas, ohne zu erwachen, und sie sah erschopft und zerschunden aus. Auch ihre Kleider waren in einem beklagenswerten Zustand.
        Was immer geschehen sein mag, ich mu? die Gelegenheit nutzen, sagte sich der Jager. Wenn sie erwacht, wird sie Hunger und Durst haben. Ich will mein Bestes tun, sie friedlich zu stimmen. Vielleicht la?t sie dann mit sich reden.
        Die Sache war nicht blo? gefahrlich fur ihn, sie erforderte auch all seine Kraft. Die Riesin war nur kurz aus ihrer Betaubung erwacht und hatte sich, wohl ohne etwas zu begreifen, auf die Seite gedreht. Sie schlief den Nachmittag und die ganze Nacht hindurch, wobei sie schnarchte, da? die Hugel ringsum widerhallten.
        Arkado aber raumte inzwischen seine Vorratslager leer. Er arbeitete fast ohne Pause, schleppte Essen und Trinken herbei. Das Dorrfleisch und die Wasserschlauche, mit denen ein ganzes Heer von Zwergen hatte versorgt werden konnen, legte er in einiger Entfernung von der Riesin nieder, damit sie es beim Erwachen fand.
        Gegen Morgen entfachte der Jager dann ein gro?es Feuer, wobei er darauf bedacht war, trockenes Holz zu nehmen. Er wollte nicht, da? Qualm aufstieg und womoglich Karena anlockte. Es hatte ja sein konnen, da? sie einen Rundflug unternahm.
        Als alles getan war, starkte er sich erst einmal selbst und legte sich gleichfalls fur ein paar Stunden aufs Ohr. Wenn Arachna zu sich kam, wurde er sofort wieder auf den Beinen sein.
        Arkado erwachte, als die Riesin sich zu regen begann. Sie schlug die Augen auf, war aber offensichtlich zu geschwacht, um aufzustehen. Der Duft des Fleisches und die Warme des Feuers schienen freilich ihre Lebensgeister zu wecken. Sie blickte suchend umher und sah zunachst einen der Wasserschlauche.
        Dieses Geschenk kam ihr gerade recht, denn sie hatte gro?en Durst.

»Wasser«, krachzte sie erfreut und kroch auf allen Vieren zu dem Platz, von dem die verlockenden Geruche ausgingen. Sie ergriff den Ledersack mit der glucksenden Flussigkeit, offnete ihn und setzte ihn an die Lippen. Gierig lie? sie das kostbare Na? die ausgedorrte Kehle hinunterrinnen, das Arkado fur sie bereitgestellt hatte.
        Fur sie waren es nur wenige Schlucke, doch der Jager hatte ja vorgesorgt. Schnell entdeckte die Riesin auch die anderen Schlauche und kurz darauf das Fleisch. Ein Anblick, bei dem sie vor Freude mit der Zunge schnalzte. Ohne erst lange zu uberlegen, woher die Schatze kamen, setzte sie sich zu Tisch. Das hei?t, sie blieb gleich auf dem Boden hocken, wahrend sie mit beiden Handen zugriff, gro?e Happen Dorrfleisch verspeiste, Knochen abnagte und mit einem Trunk Wasser nachspulte. Sie fragte sich hochstens dabei, ob etwa ihr Traum von vorhin weiterging. Einmal kniff sie sich sogar in die Backe, um sich vom Gegenteil zu uberzeugen.
        Arkado, der die Frau aus seinem Versteck heraus beobachtete, konnte sich nur wundern, mit welcher Geschwindigkeit sie seinen Monatsvorrat vertilgte. Man mu?te direkt Angst haben, da? sie sich daran verschluckte!
        Schlie?lich hatte Arachna ihr Mahl beendet. Sie schaute bedauernd auf die abgenagten Knochen und geleerten Schlauche, war aber sichtlich zufrieden. Sie setzte sich ans Feuer, um sich ein wenig aufzuwarmen, und erst da schien ihr das Erstaunliche der Situation bewu?t zu werden. Plotzlich sprang sie wie von der Tarantel gestochen auf und spahte aufmerksam in die Runde.

»Ich mochte gar zu gern wissen, wer mir all diese Speisen hingestellt hat«, murmelte sie verwirrt. »Das war doch kein Zufall. Sollte sich Karena, meine Mutter, Sorgen um mich machen? So freundlich ist sie doch sonst nicht. Wo bin ich uberhaupt, was ist mir zugesto?en? Ich bin… ach ja, ich bin vor ein paar Tagen aus dem Schlo? weggelaufen, weil wir uns wieder mal gestritten hatten. Das Leben mit ihr ist in der Tat unertraglich. Ob sie mir hinterherspioniert? Wie auch immer, ich mu? auf der Hut sein.« Sie hielt erneut nach allen Seiten Ausschau, konnte aber nichts Beunruhigendes entdecken.
        DER PAKT
        Man mag sich wundern, da? Arachna nicht mehr an das Zauberland, an das Madchen Ah, den Tiger und alles andere dachte, aber da sie in ihre Vergangenheit, in die Zeit ihrer Jugend zuruckgekehrt war, hatte sie das Geschehen der spateren Zeit vollig vergessen. Besser gesagt, es war in ihrem Hirn ausgeloscht worden.

»Seltsam«, murmelte die Riesin, »kein Mensch weit und breit! Und doch warmt mich dieses Feuer, standen Wasser und Fleisch bereit. Oder galt der Empfang jemand anderem? Aber wem - so viele Leute gibt es hier nicht. Au?er Karena leben im Land eigentlich nur noch die Zwerge.«
        Die Zwerge, naturlich, erst vorhin waren sie ihr ja wieder im Traum erschienen. Bestimmt trieben sich einige auch in dieser Wildnis herum. Andererseits, was hatte Arachna ihnen schon Gutes getan, fur das sie sich hatten erkenntlich zeigen mussen. Eigentlich gar nichts Gutes bisher, wenn man ehrlich war. Trotzdem, irgendeinen Zusammenhang mu?te es hier geben. Und aufmerksam begann die Riesin ihre nahere Umgebung abzusuchen.
        Wer sucht, der findet. Zunachst stie? Arachna auf ein Blatt Papier, das jemand ziemlich dicht vor ihrer Nase auf einen Ast gespie?t hatte. Sie brauchte nur den Arm auszustrecken, und schon hatte sie es in der Hand. Eine Botschaft, die vielleicht Licht in das Dunkel brachte. Etwas muhsam entzifferte sie die Worte auf dem zerknitterten Zettel, die eigentlich Karena galten.
        Die Riesin zog die Stirn in Falten, uberlegte fieberhaft. Sie begriff nicht alles, was in der Botschaft stand, doch eins war klar: Die Zwerge hatten ihrer Mutter den Kampf angesagt!
        Diese Wichte mussen in der Nahe sein, sagte sich Arachna gleich darauf, sie beobachten mich. Ob sie sich wirklich ernsthaft mit meiner Mutter anlegen wollen? Das ist lacherlich, Karena wird sie zerquetschen. Andererseits sind es viele, und wir sind auf sie angewiesen.
        Sie hielt den Zettel unschlussig in den Handen. Mit ihrer Mutter war zwar nicht gut Kirschen essen, dennoch schien die Gelegenheit gunstig, sich bei diesen Leutchen Ansehen zu verschaffen. Sie rief:

»Was wollt ihr? Ich hab nichts gegen euch.«
        Arachna erwartete, da? sich die Zwerge zeigten, aber nichts dergleichen geschah.

»Kommt heraus, damit wir miteinander reden konnen«, sagte sie. »Ich schwore, euch nichts zu tun!«
        Doch auch diesmal passierte nichts, und die Riesin wollte bereits ungehalten werden, als ihr die letzten Worte der Botschaft an Karena wieder einfielen. Ganz schon hartnackig, dachte sie, diese Bande will wahrscheinlich auch von mir den Gro?en Riesenschwur.

»Also gut, ihr sollt euren Willen haben! Hiermit leiste ich den Gro?en Riesenschwur, euch gegenuber fair zu sein und euch anstandig zu behandeln. Bei meinen Vorfahren! Sollte ich ihn je brechen, will ich in ewigen Schlaf verfallen!«
        Sie erhob sich der Feierlichkeit wegen zu voller Gro?e und kam sich in diesem Augenblick sehr edel vor. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie den Gro?en Schwur, den jeder Riese von Kindesbeinen an kennt, zum letztenmal gesprochen hatte.
        Kaum war das letzte Wort verklungen, stand plotzlich ein winziges Mannlein vor ihr. Der Zwerg mu?te aus den Buschen gekommen sein, die sich noch leicht bewegten. Er rief, so laut er konnte:

»Ich bin Arkado, der Schlo?jager. Es freut mich, da? wir uns verstandigen konnen.«

»Habt ihr mir das leckere Fleisch und die Wasserschlauche hingelegt?«

»Ich war es«, sagte Arkado stolz. »Es hat mich einige Arbeit gekostet, aber ich sah, da? es Euch nicht besonders gut ging und da? Ihr eine Starkung gebrauchen konntet.«

»Das kann man wohl behaupten«, brummte Arachna und wunderte sich, es nur mit einem der Zwerge zu tun zu haben. Sie wu?te ja nichts von dem Gelben Nebel und der Flucht der anderen Taureker in die Wassermuhle.
        Arkado, der begriff, da? die Riesin trotz ihres Schwurs noch immer unschlussig war, wie sie sich verhalten sollte, erzahlte ihr nun von den Geschehnissen der letzten Tage.

»Deshalb bin ich allein hier«, schlo? er, »Karena aber soll wissen, da? wir Taureker ein stolzes Volk sind. Wir werden lieber sterben, als uns weiter so von ihr demutigen zu lassen.«

»Und was erwartet ihr von mir?«

»Ihr konntet uns in unserem Streit mit Karena helfen.«

»Du wei?t nicht, was du von mir verlangst«, erwiderte Arachna, die keine Lust hatte, sich in eine Auseinandersetzung mit ihrer Mutter einzulassen. »Die Alte ist starker als ich, und den Gelben Nebel, von dem du redest, kann ich auch nicht wegblasen.«

»Aber vielleicht konntet Ihr uns in eine Gegend bringen, wo wir in Frieden leben und wieder frei atmen konnen. Statt Karena wurden wir allezeit Euch dienen.«
        Die Riesin uberlegte. War es nicht besser, sich trotz allem auf die Seite ihrer Mutter zu schlagen? Trotz des Gro?en Schwurs?
»Karena besitzt den Fliegenden Teppich und das Zauberbuch«, wandte sie ein.

»Irrtum. Das Zauberbuch haben wir!«
        Diese fast beilaufig gegebene Antwort verbluffte Arachna so, da? ihr der Mund offenstand. Gleichzeitig trat ein gieriges Funkeln in ihre Augen. Schlie?lich wu?te sie, was man mit diesem Buch alles anstellen konnte, sie hatte ihre Mutter mehr als einmal beim Zaubern belauscht. Sturme, Uberschwemmungen, Erdbeben konnte man damit auslosen, aber auch Reichtumer in seinen Besitz bringen. Selbst der Fliegende Teppich mu?te den Befehlen gehorchen, die im Buch standen.

»Ihr habt wirklich das Zauberbuch an euch gebracht?« fragte die Riesin.

»Gewi?, es ging nicht anders.«

»Dann bring mich zu dem Ort, wo ihr es versteckt habt.«

»Ihr denkt doch an Euren Schwur?« sagte Arkado zogernd.

»Aber ja. Wenn ich das Buch habe, bin ich starker als Karena und kann euch helfen.
        Der Jager mu?te sich auf ihre Worte verlassen, er vertraute auch darauf, da? Arachna gern selbst die Herrscherin ware. Und au?erdem - er hatte keine Wahl.
        Sie zogen los. Der Jager band erneut ein feuchtes Tuch vor Mund und Nase, dann hob Arachna ihn hoch. Auf ihrer Handflache sitzend, die Arme um einen ihrer Finger geklammert, konnte er einigerma?en atmen und sie gut dirigieren. Die Riesin selbst dagegen verzichtete auf ein Tuch, sie wurde schon nicht gleich an dem Staub ersticken.
        DIE TAUREKER WERDEN GERETTET
        Fur einen Au?enstehenden ware das ein lustiger Anblick gewesen. Arachna bewegte sich mit Riesenschritten vorwarts, bemuht, nicht zu stolpern und Arkados Kommandos zu befolgen. Von Zeit zu Zeit schaute sie zu dem Jager hinunter, der sich einerseits festhalten, andererseits auf den Weg achten mu?te. Vor lauter Anspannung und von dem vielen Staub tranten beiden die Augen.
        Nach einer Stunde hatten sie den Hohleneingang erreicht, der so meisterlich getarnt war, da? weder Karena noch Arachna ihn je entdeckt hatten. Doch selbst wenn sie auf ihn gesto?en waren - es hatte ihnen nichts genutzt. Zum Hohleninneren fuhrte namlich ein langer Gang, langer als der Arm der Riesen, wenn man ihn bis zur Schulter hineinsteckte. Dahinter erst wurde es weiter, erstreckte sich ein Gewolbe, geraumig wie eines der Zimmer in Karenas Schlo?.
        Arkado bat die Riesin, ihn vor der Hohle abzusetzen. Arachna ging in die Hocke und legte die Hand auf den Boden, damit der Jager bequem absteigen konnte. Gleich darauf war er im Gestrauch verschwunden und tauchte in die Hohle ein.
        Da die Zwerge zu Beginn ihres Aufstands noch nicht wu?ten, wie es mit dem Zauberbuch weitergehen wurde, hatten sie Pferde und Fuhrwerk im Gewolbe zuruckgelassen. Arkado hatte den Tieren Wasser hingestellt und sie mit Heu versorgt, jetzt begru?ten sie ihn freudig wiehernd. Der Futtervorrat war ziemlich zusammengeschmolzen, doch hatten sie es noch eine Weile ausgehalten.
        Der Jager tatschelte liebevoll ihre Zottelmahnen und schuttete neues Wasser in ihre Holztroge. Dann uberzeugte er sich, da? Karenas Buch noch unversehrt in der Ecke lag.
        Er spannte an, beforderte das Werk mit gro?er Muhe auf den Wagen, setzte sich obenauf und lenkte das Gefahrt aus der Hohle.
        Kurze Zeit spater war er bei Arachna angelangt, die vor Ungeduld von einem Fu? auf den anderen trat. Als sie den Jager erblickte, wollte sie das Buch sofort aufschlagen, um ihre Kunste zu erproben, doch eine Art Ehrfurcht hielt sie zunachst davon ab. Au?erdem war hier, im Nebel, nicht der richtige Platz zum Lesen.
        Sie marschierten erneut los. Arachna packte das Zauberbuch mit der freien Hand und pre?te es so fest an die Brust, als furchtete sie, irgendwer konnte es ihr wieder wegnehmen. Arkado hatte zuvor die Pferde ausgespannt, damit sie in dem Nebel nicht noch das Fuhrwerk ziehen mu?ten. Schnaubend folgten die Tiere der Riesin.
        Endlich lie?en sie den Dunst hinter sich, und nun hielt es Arachna nicht langer aus. Sie setzte sich gleich auf die Erde und begann in dem Schatz zu blattern, der ihr so unverhofft zugefallen war.
        Arkado hatte etwas entfernt auf einem Stein Platz genommen und lie? die Riesin nicht aus den Augen. Er war sich nicht schlussig - hatte er es wirklich richtig gemacht? Nicht nur sein Schicksal, auch das der anderen Zwerge hing jetzt von dieser Frau ab. Wenn sie sich trotz ihrer Zusicherungen gegen die Taureker wandte, waren sie endgultig verloren.
        Und wie war es seinen Stammesgenossen dort im Gelben Nebel uberhaupt ergangen? Immerhin hatte er schon einige Tage nichts mehr von ihnen gehort. Hoffentlich war die Hexe inzwischen nicht uber sie hergefallen! Karena war alles zuzutrauen. Sollte sie herausbekommen, wo das Zauberbuch war, scheute sie bestimmt vor keiner Grausamkeit zuruck.
        Und in der Tat, Arkados Befurchtungen waren nicht aus der Luft gegriffen. Um ein Haar ware es den Zwergen in der Muhle tatsachlich ubel ergangen!
        Karena hatte tagelang vergeblich darauf gewartet, da? ihre aufsassigen Diener sich wieder demutig unterwarfen, und sie hatte sich in Gedanken bereits die hartesten Strafen fur sie zurechtgelegt. Doch als das Erhoffte nicht eintrat, beschlo? sie, selber etwas zu unternehmen. Der Larm, der standig von der Staubschlucht heruberdrang, konnte nur von den Muhlen kommen. Aber warum waren sie wieder in Gang gesetzt worden? Von ihrem Turm aus versuchte Karena den Nebel mit Blicken zu durchbohren. Anfangs nahm sie ja noch an, die Zwerge hatten sich besonnen und wollten mit flei?iger Arbeit ihre Herrin versohnlich stimmen. Doch als die Tage verstrichen, ohne da? sich einer ihrer Diener im Schlo? blicken lie?, wurde sie unruhig. Bis dann ihr Zorn und ihre Neugier siegten und sie sich auf den Weg machte, um selbst nachzusehen.

»Ich will wissen, was diese Taugenichtse treiben«, knurrte Karena mi?mutig. »Wehe, wenn sie mir unter die Finger kommen! Ich werde sie durchschutteln, da? ihnen Horen und Sehen vergeht.«
        Sie schwang sich auf ihren Teppich und befahl ihm, sie zur Schlucht zu bringen, zu den Muhlen. Um die Taureker aber nicht zu warnen, beschrieb sie einen gro?en Bogen, naherte sich ihnen von der Schlucht her, von wo sie bestimmt nicht erwartet wurde!
        Als sie uber die Steppe flog, entdeckte sie in einiger Entfernung, dort wo der Nebel mit dem Himmel verschmolz, eine dunne Rauchfahne.

»Sieht aus wie ein Lagerfeuer«, murmelte sie, »wer konnte das sein? Etwa Arachna? Na, die Rumtreiberin nehm ich mir spater vor. Erst rechne ich mal mit den Zwergen ab, dann kommt sie dran.«
        Doch aus dieser Absicht wurde nichts. Die Rauchfahne, die sie da unten aufsteigen sah, ruhrte von einem Feuer her, an dem tatsachlich Arachna sa?, die aber blatterte bereits in dem Zauberbuch. Und genau in dem Augenblick, als Karena die Staubschlucht uberquerte, hatte ihre Tochter die entscheidende Formel gefunden, mit der man den Fliegenden Teppich rufen konnte.

»Abradox Knochenkrox - zu mir, Teppich!« rief Arachna mit drohnender Stimme unvermittelt, so da? der Jager vor Schreck fast von seinem Stein gefallen ware.
        Der Teppich nun - das mu? erwahnt werden - diente jedem, der die richtigen Befehle gab. Nichts da von Anhanglichkeit, der jeweilige Besitzer war ihm egal, nur die Formel aus dem Zauberbuch zahlte.
        Aus diesem Grund baumte er sich, kaum da? er den fernen Ruf vernommen hatte, heftig auf. Die vollig uberraschte Riesin Karena wurde abgeworfen, bevor sie noch einen klaren Gedanken fassen konnte. Sie sturzte kopfuber in die Tiefe, sauste in die Staubschlucht hinab, in die sie sonst ihre Diener zu werfen pflegte. Im Fallen scho? ihr noch durch den Sinn, da? es ein Fehler gewesen war, der Rauchfahne von vorhin nicht auf den Grund zu gehen. Denn der Teppich, das bekam sie in letzter Sekunde mit, drehte genau in jene Richtung ab.
        Arachna und Arkado aber mu?ten eine Weile auf den Fliegenden Teppich warten, so da? sie schon befurchteten, die Formel wirke nicht. Als er dann doch kam, kannte die Freude des Riesenweibs keine Grenzen. Sie sprang auf, begann wie wild um das Feuer herumzutanzen und rief:

»Er kommt! Er kommt wirklich, das Goldstuck!«
        Sie hupfte so ungestum umher, da? es Arkado vorzog, sich hinter einem Stein in Sicherheit zu bringen, um nicht unter ihre stampfenden Fu?e zu geraten.
        Der Teppich verharrte einen Augenblick uber ihnen, dann fiel er herab, plumpste Arachna genau auf den Kopf. Die Riesin kam ins Stolpern und krachte zu Boden. Als sie sich aufgerappelt hatte, war ihr Gesicht dunkel von Staub und Schmutz. Doch dieser kleine Unfall storte sie in keiner Weise. Ihre Augen und Zahne blitzten in all dem Schwarz nur umso heller.

»Arkado«, rief die Riesin mit grollender Stimme, »wo steckst du, zum Donnerwetter! Wir wollen zu deinen Leuten fliegen, damit sie was zu essen und zu trinken herbeischaffen. Auch neue Kleidung brauche ich, meine ist nach all den Strapazen ziemlich mitgenommen.«
        Der Jager kam vorsichtig hinter seinem Stein hervor. Bei Arachnas Gebrull fragte er sich besorgt, ob sie nicht vom Regen in die Traufe geraten waren. Die Tochter Karenas, die bereits mitten auf dem Teppich thronte, war vielleicht nicht besser als ihre Mutter. Immerhin, sie hatte den Gro?en Schwur geleistet und versprochen, die Zwerge gerecht zu behandeln. Die alte Riesin dagegen…
        Wenn ich blo? wu?te, wo Karena jetzt ist? dachte Arkado gleich darauf. Wurde mich gar nicht wundern, wenn sie uns eine Falle stellt.
        Da er Arachna damit etwas Respekt einzuflo?en hoffte, teilte er ihr seine Befurchtungen umgehend mit.

»Wir mussen vorsichtig sein, Herrin«, sagte er, »mit Eurer Mutter ist nicht zu spa?en.«
        Diese Worte dampften den Drang der Riesin, sich als neue Herrscherin aufzuspielen, tatsachlich.

»Was schlagst du vor?« fragte sie, ruhiger geworden.

»Zuerst sollten wir mit dem Fliegenden Teppich die Gegend bei den Muhlen und Siedlungen erkunden«, sagte Arkado, der wieder seinen Platz auf ihrer Handflache eingenommen hatte.
        Arachna war einverstanden. Auf ihr Gehei? hin erhob sich der Teppich und flog auf die Schlucht zu. Sie hielten sich seitlich davon und vernahmen plotzlich Gerausche, die an das Quietschen von Muhlradern erinnerten.
        Ich komme zu spat, dachte Arkado betrubt. Offenbar mu?ten meine Freunde aufgeben und sich Karena erneut unterwerfen.
        Der Teppich nahm jetzt direkten Kurs auf die Wassermuhle, denn der Arbeitslarm schien von dort zu kommen. Unvermutet ri? die gelbe Nebelschicht unter ihnen auf und gab die Sicht auf das graue Gebaude frei. Doch was hei?t grau - so sah sie ja gar nicht mehr aus. Im Gegenteil, die Muhle lag wie ein funkelnder Diamant da, wie ein Zauberstein, dessen Facetten in bunten Regenbogenfarben schillern. Das aber kam von dem Wasser, das nach allen Seiten ubers Dach zu Boden sturzte. Es hatte den Nebel vertrieben, den Staub weggewaschen und vermengte sich nun mit den Sonnenstrahlen. Ein farbenprachtiges Bild! Arkados Angst jedenfalls war auf einmal wie weggeblasen, und er begriff, da? die Taureker ein Mittel gefunden hatten, sich gegen Karenas Gelben Nebel zur Wehr zu setzen.

»Auf so einen grandiosen Einfall kann nur Antreno gekommen sein, einer unserer Stammesaltesten«, rief er laut. Eine ungeheure Freude hatte ihn ergriffen, gepaart mit dem Stolz auf das ganze Zwergengeschlecht.
        ARACHNAS RUCKKEHR
        Der Teppich setzte zum Sturzflug an, glitt in den Spalt zwischen Wasserkuppel und Gelbem Nebel und landete direkt vor dem Eingang zur Muhle. Das alles aber geschah hochst elegant und lautlos.
        Beim Anblick der dreckverschmierten Riesin flohen die wachhabenden Zwerge entsetzt ins Innere des Gebaudes und verriegelten das Tor. In dem Tohuwabohu hatte naturlich niemand den Jager Arkado auf Arachnas Hand entdeckt. Die Wache war vielmehr uberzeugt, Karena in hochsteigener Person sei zu ihnen herabgestiegen, um Rache fur ihre Aufsassigkeit zu nehmen.
        Auf das Geschrei hin war auch Antreno herbeigeeilt, sein Alter und alle Wurde vergessend. Ebenso schnell war Kastao zur Stelle, und uberhaupt wimmelte es am Tor im Nu von Kindern und all jenen Zwergen, die gerade nicht beschaftigt waren. Die halbe Muhlenbevolkerung hatte sich eingefunden.
        Plotzlich wurde laut ans Tor geklopft, und eine bekannte Stimme rief:

»He, Freunde, macht auf! Antreno, Kastao, hort ihr mich - ich bin es, der Jager Arkado! Die Riesin neben mir ist nicht Karena, sondern unsere neue Herrin Arachna. Sie hat den Gro?en Riesenschwur geleistet und wird uns beschutzen, wenn wir fortan ihr anstatt Karena dienen.«
        Antreno spahte unglaubig durchs Guckloch. Tatsachlich, da drau?en stand, heil und unversehrt, der Jager. Die beiden Stammesaltesten hatten in den letzten Tagen oft von ihm gesprochen und schon fast die Hoffnung aufgegeben, ihn jemals lebend wiederzusehen.
        Das Tor fuhr quietschend auf. Arkado fand sich in den Armen seiner Gefahrten wieder, die ihn ungestum an sich druckten und mit Fragen uberhauften. Wieviel hatte sich doch seit jener nachtlichen Zusammenkunft ereignet, als sie die Verschworung gegen die Hexe vorbereiteten! Das Leben nicht nur der Taureker hatte sich grundlegend verandert, sondern alles ringsum. Da war plotzlich Arachna an die Stelle ihrer Mutter getreten und hatte den Gro?en Schwur geleistet. Es gab offenbar noch richtige Wunder.
        Die Riesin ihrerseits betrachtete neugierig die seltsame Muhle und die Ansammlung dieser winzigen Menschlein. Dann verlie? sie ihren Fliegenden Teppich, schritt zu dem Wasserfall, bemuht, dabei nicht versehentlich auf eines der quirligen Wesen zu treten, und begann sich unter wohligem Achzen zu waschen. Um sie her bildete sich sogleich eine gro?e schmutzige Pfutze, die in dem Ma?e schlammiger wurde, wie die Frau den Dreck abspulte. Schlie?lich erinnerte die Pfutze an einen Sumpf, vor den Taurekern aber stand ein verhaltnisma?ig sauberes gro?es Weib, das im Vergleich zu Karena sogar einigerma?en hubsch war.
        Zwei Dutzend Frauen aus der einstigen Schlo?dienerschaft eilten mit einem Tablett herbei, auf dem sie ein Salzfa? und viele Brote trugen, um den Neuankommling nach altem Brauch willkommen zu hei?en. Ungefahr hundert Manner aber legten der Riesin ehrerbietig ein Kleid Karenas zu Fu?en, das sie aus dem Schlo? mitgenommen hatten, um bei Bedarf neue Sachen fur die Zwerge daraus zu schneidern.
        Arachna lachelte zufrieden. Nicht ubel, so verwohnt zu werden, dachte sie, man braucht ja nur ein bi?chen freundlich zu sein. Ich werde die Zwerge mit auf den Fliegenden Teppich nehmen und so weit fortsegeln, da? meine Mutter mich nicht mehr wiederfindet. Die Riesin konnte ja nicht wissen, da? Karena in die Staubschlucht gesturzt war.
        Mit einer Handbewegung scheuchte sie ihre neuen Diener ins Haus, damit sie sich umziehen konnte. Dann rief sie, ohne noch Zeit mit unnutzen Gesprachen und Verhandlungen zu vergeuden, mit lauter Stimme, so da? es in jedem Winkel der Muhle zu horen war:

»Also gut, ihr Zwerge! Ich habe geschworen, euch zu behuten und kein Leid anzutun, aber auch ihr habt einen Eid geleistet! Nun denn, ihr gefallt mir, und ich bin gewillt, euch in ein fernes Land mitzunehmen. Es geht eine Sage daruber, und obwohl niemand von uns je dort war, bin ich sicher, da? es existiert. In diesem Reich soll es eine freundliche Sonne, grune Walder, blaue Berge und saftige Wiesen geben. Es hei?t Zauberland, und wenn wir es erreichen, erwartet uns ein gluckliches Leben. Macht euch also bereit zum Aufbruch. Packt nur das Notigste zusammen, auf dem Teppich ist nicht unbegrenzt Platz! In einer Stunde starten wir!
        Unterdessen hatte Arkado den Freunden von seinen Erlebnissen berichtet. Antreno und Kastao lobten ihn fur seine List und Tapferkeit, doch mitten in ihr Gesprach hinein ertonte die Donnerstimme ihrer neuen Herrin. Die drei tauschten einen kurzen Blick und sagten seufzend:

»Was hilft’s, wir mussen tun, was sie verlangt. Schlimmer als hier kann es in diesem Zauberland nicht sein.«
        Eine Stunde danach fanden sich alle Zwerge bei Arachna ein, die bereits auf ihrem Fliegenden Teppich thronte. Der wertvolle Vorleger erinnerte jetzt an die beruhmte Arche Noah, denn die Taureker hatten ihr ganzes Vieh mitgebracht: Kuhe und Pferde, Katzen und Hunde, Huhner und Enten.

»Auf ins Zauberland!« befahl Arachna dem Teppich, als die Zwerge sich eingerichtet hatten, so gut es eben ging.
        Ein Zittern lief durch den Teppichkorper, er spannte sich und hob mit sichtlicher Muhe vom Boden ab. Die Zwerge atmeten erleichtert auf.
        Arachna gab dem Teppich keine Befehle mehr, sie war selbst gespannt, ob er sie in das Land bringen wurde, von dem manchmal die Alten gesprochen hatten und das sehr schon sein mu?te. Sie wu?te nicht mehr, da? sie selbst schon dort gelebt und seine Bewohner zu unterwerfen versucht hatte, denn sie war ja durch den Tunnel und den Stein des Hurrikap um mehrere Jahrtausende zuruckgeworfen worden und hatte dabei ihr Gedachtnis verloren.
        Der Teppich aber, eben ein Zauberteppich, fand den Weg in der Tat allein. Er landete auf der Talsohle, und die Zwerge machten sich sofort ans Werk. Die einen luden das Gepack ab, die anderen nahmen bereits geeignete Baume fur den Hausbau in Augenschein. Wahrend Antreno die Arbeiten leitete, rustete Arkado schon zur ersten Jagd. Kastao aber machte sich auf die Suche nach einer Unterkunft fur die Riesin und entdeckte auch bald eine gro?e Hohle. Sie befand sich ganz in der Nahe in einer Schlucht, und Arachna erkor sie sofort zu ihrem neuen Domizil.
        Kaum da? sie allein war, suchte sie sich eine Felsspalte als Geheimfach fur ihren gro?ten Schatz aus, das Zauberbuch.
        Auf diese Weise kam Arachna also ins Zauberland und fuhrte sich hier bald schlimmer auf als ihre Mutter Karena in der fruheren Heimat. Zwar lie? sie, ihrem Schwur gema?, die Zwerge in Ruhe, suchte dafur aber die Kauer, Zwinkerer und wie die Bewohner noch hie?en, mit ihrer Bosheit heim. Nachdem der Gro?e Zauberer Hurrikap sie deswegen mit einem funf Jahrtausende wahrenden Schlaf bestraft hatte, war sie kein bi?chen besser geworden, und es kam zu den Kampfen mit dem Weisen Scheuch, dem Eisernen Holzfaller und dem Tapferen Lowen, in die schlie?lich das Madchen Ann Smith, der Junge Tim O’Kelly und der Einbeinige Seemann Charlie Black eingriffen.
        Vom scheinbaren Ende Arachnas an der Todesklippe und ihrer Rettung durch die Gro?e Glua habe ich schon erzahlt, von ihrer Begegnung mit dem Uidenmadchen Ah und dem Sabelzahntiger Achr ebenfalls. Durch den Schwarzen Zauberstein und den Zeitentunnel kam die Riesin dann in ihre Kindheit zuruck. So schlo? sich der Kreis, dem Arachna nicht entgehen konnte. Wenn sie in der Vergangenheit war, hatte sie die Zukunft vergessen, und umgekehrt. Deshalb wurden all ihre Abenteuer immer wieder von vorn beginnen.
        ZWEITER TEIL:
        DIE DEFEKTEN TUNNEL
        EIN MERKWURDIGER VORFALL
        Wahrend Arachna all diese Ereignisse durchlebte, wahrend der Sabelzahntiger Achr und das Madchen Ah weiter durch einen Tunnel sturzten, der sie in eine unbekannte Welt schleuderte, geschahen mit den Freunden des Zauberlandes neue, aufregende Dinge.
        Das betraf vor allem Ol, den Raum- und Zeitflieger vom Planeten Irena, der noch vor kurzem Chris Tall aus Kansas, dem Seemann Charlie Black und dem Piloten Kau-Ruck aus der Klemme geholfen hatte. Nach seiner Ruckkehr von der Irena war Charlie auf ein geheimnisvolles Korallenriff geraten, das ihn einfach nicht mehr freigab. Chris Tall und seine Freunde hatten sich mit einem Katamaran auf die Suche nach ihm gemacht, ihn schlie?lich auch gefunden, sa?en am Ende aber selber fest, und ware ihnen nicht der Irener Ol zu Hilfe gekommen, hatten sie ihr geliebtes Amerika vielleicht nie wiedergesehen.
        Ol, seine Tochter Viola, die lange im Elmenland gewesen war, wo die Menschen zu durchscheinenden korperlosen Wesen wurden, und seine Frau Vi sa?en an diesem Abend im Wohnzimmer ihres Hauses auf der Irena beisammen. Viola hatte das kleine Sofa vor dem Kamin mit Beschlag belegt, die Mutter gab Robby, einem lustigen Kuchenroboter, letzte Anweisungen fur die Zubereitung des Abendbrots, und Ol unterhielt sich mit zwei Jungs, die bei ihnen wohnten. Es waren Mo und No, vor langer Zeit von der Erde gekommen und, wie spater auch das Madchen Viola, zu Elmen geworden.
        Die beiden hatten ein eigenartiges Schicksal. Sie stammten von der sagenumwobenen Insel Atlantis, die einst im Meer untergegangen war. Noch heute traumten sie von ihrer Heimat und erzahlten gern davon. Vor kurzem hatten sie wieder ihre menschliche Gestalt erlangt, und Ol hatte sie bei sich aufgenommen. Im Augenblick erklarte er ihnen gerade eine noch recht neue Erfindung, mit der man Raum und Zeit uberbrucken konnte: die Kristallskaphander. Mo und No waren technisch sehr interessiert, deshalb horten sie aufmerksam zu.
        Viola war ein wenig eifersuchtig auf die beiden Jungen: nicht nur, da? sie dauernd mit dem Vater zusammen waren, sie nahmen ihr auch ihre Lieblingsplatze im Haus weg. Zum Beispiel den auf dem Sofa. Standig flazten sie darauf herum. Deshalb machte sie sich jetzt dort so richtig breit. Sollten die beiden sich doch auf die harte Bank setzen oder auf den Teppich.
        Doch den Jungs schien das nichts auszumachen, sie ruckten die Bank an den warmen Kamin heran und unterhielten sich weiter mit Ol. Inzwischen ging es um den Elming, den Ausgang jenes Tunnels, der die Irena mit der Erde verband. Die Massaren, die den Planeten beherrschten, hatten ihn mit einem elektrischen Schutzschild versehen, damit nicht plotzlich unliebsame Gaste in ihrem Reich auftauchten. Dabei waren sie es, die im Gegensatz zu Ol und seinen Freunden diese Tunnel mi?brauchten. Die Massaren wollten mit ihrer Hilfe auf die Erde gelangen, sie ausspahen und eines Tages sogar unterwerfen.
        No erzahlte gerade von einem Vorfall, den er sich nicht erklaren konnte. Er, der sich im Elming auskannte wie kein zweiter, hatte sich vorhin auf unbegreifliche Weise darin verirrt.

»Es war sehr merkwurdig«, sagte er, »denn zuerst verlief alles normal. Ich lie? den Schutzschild hinter mir, der ja auf uns nicht wirkt, weil wir sowieso nicht in die Heimat zuruck konnen, und suchte nach unbekannten Gegenstanden - vielleicht waren welche neu von der Erde dorthin gelangt. Aber mit einem Mal war alles vollig anders als sonst. Die Luft trug mich plotzlich, sie war ganz leicht, und ich hatte das Gefuhl, fliegen zu konnen.«

»Ah, geflogen bist du«, sagte Viola spitz. »Deshalb also mu?te dich mein Vater suchen, wie einen jungen Hund, der sich verirrt hat.«
        Man sah No an, da? ihm dieser Spott mi?fiel. Es war nicht das erste Mal, da? Viola sich uber ihn lustig machte. Wenn sie jetzt auf Atlantis gewesen waren, hatte er sie bestimmt dafur bestraft. Als Sohn des ehemaligen Herrschers Wanaka hatte er sie dazu verdonnert, ihm mit einem Palmwedel die lastigen Fliegen vom Leib zu halten.

»Ja, ich bin geflogen«, erwiderte er etwas von oben herab. »Ich brauchte nur ein wenig mit den Armen zu rudern, und schon schwirrte ich ab.«
»Und dein Bruderchen hat sich inzwischen die Hacken abgelaufen, um dich wiederzufinden!«
        No wurde verlegen.

»Ich versteh das ja auch nicht«, murmelte er. »Ich hatte Mo blo? fur einen Moment an dem Stuck Saule zuruckgelassen, das aus unserer Heimat stammte. Wer konnte denn ahnen, da? so was passiert.«

»Fur einen Moment, ist gut«, murrte das Madchen. »Du warst so lange weg, da? Papa unruhig wurde und sich auf die Suche nach dir machte. Wo hat er dich uberhaupt aufgetrieben, wenn du so schnell abgeschwirrt bist?«
        Nun schaltete sich Ol ein.

»Mal schon langsam, das ist eine schwierige Geschichte«, sagte er. »No war namlich viel langer unterwegs, als er glaubte, langer auch, als du annimmst, Viola. Als ich von seinem Bruder Mo erfuhr, da? er im Elming verschwunden sei, kam mir das gleich seltsam vor. Schlie?lich hatte er sich dort fruher endlos aufgehalten, kannte jeden Stein, jeden Strauch. Nein, er konnte sich nicht so einfach verirren, das war nicht moglich, vielmehr mu?te etwas Ungewohnliches passiert sein. Wahrscheinlich war der Junge in den Tunnel geraten! Das aber konnte wiederum nur geschehen, wenn der Schacht defekt war.«
        Inzwischen war Vi aus der Kuche ins Zimmer gekommen. Sie hatte gespannt zugehort und fragte besorgt:

»Was hei?t defekt? Saust man dort jetzt mir nichts, dir nichts in der Gegend herum? Kann man nicht mehr uber sich selbst bestimmen?«

»So ungefahr«, erwiderte Ol. »Es ist eine schlimme Sache, und ich brauchte eine Weile, um dahinterzukommen. Der ganze Tunnel ist au?er Kontrolle geraten, hat sich gewisserma?en selbstandig gemacht. Bisher gelangten wir durch ihn und andere Schachte ja immer an das gewunschte Ziel und auch wieder zuruck. Plotzlich aber geht das nicht mehr.«

»Und was passiert jetzt im Tunnel?« fragte Viola aufgeregt dazwischen.

»Ja, was…« Ol machte eine Pause, und die Spannung der Kinder wuchs. »Man wird… wie soll ich sagen… in die Zeit entfuhrt. In die Zukunft oder in die Vergangenheit.«
        Einen Augenblick lang schwiegen alle uberrascht. Dann sagte Viola begeistert:

»Aber das ist ja toll, richtig abenteuerlich!«
        Mo, der andere Junge, der bisher noch keinen Ton von sich gegeben hatte, murmelte:

»Na, ich wei? ja nicht. Entfuhrt werden hei?t doch, da? man nicht mehr so einfach zum Ausgangsort zuruckkommt.«

»Genau das ist das Problem«, bestatigte Ol. »No war zu einem unbekannten Ziel aufgebrochen und hatte wahrscheinlich nie mehr zu uns zuruckgefunden.«

»Und was hast du nun gemacht?« wollte Vi wissen.

»Ich bin, so schnell ich konnte, ins Synchronautikzentrum gerannt, wo die Fluge zur Erde koordiniert werden«, erwiderte Ol. »Ich habe Or, den Direktor, gebeten, niemanden mehr starten zu lassen, hab ihn auf die verheerenden Folgen aufmerksam gemacht, die fur jeden Tunnelfahrer entstehen konnten. Und dann hab ich ihn uberredet, mir diese Dinger da zu uberlassen.«
        Ol wies auf zwei Pakete, die No und er mitgebracht hatten. Viola hatte sie schon fur einen geheimnisvollen Fund gehalten, fur einen Schatz aus dem Elming oder so etwas. Sie war nur noch nicht dazu gekommen, sie zu uberprufen oder wenigstens danach zu fragen.

»Was ist das?« erkundigte sie sich hastig.

»Das sind die Kristallskaphander, uber die ich vorhin mit No und Mo gesprochen habe. Or hat sie mir uberlassen, weil ich am besten damit umgehen kann, schlie?lich hab ich sie seinerzeit als erster ausprobiert. Sie besitzen zwar nur eine Reichweite von hundert Jahren, aber in diesem Fall waren sie das einzige Mittel, No wieder einzufangen. Ich hab ihn erwischt, bevor er auf Nimmerwiedersehen in der Zukunft verschwand. Gemeinsam sind wir dann zuruckgeflogen.«

»Ich habe mich dabei nicht gerade geschickt angestellt«, sagte No verlegen.

»Fur das erste Mal in so einem Skaphander warst du ganz gut«, trostete ihn Ol.
        Vi dachte daran, da? ihr Mann in dem defekten Tunnel hatte verunglucken, mit No fur immer in der Zukunft verlorengehen konnen, und ihr wurde ganz ubel.

»Was in drei Stunden alles passieren kann!« sagte sie. »Das war doch sehr gefahrlich. Wenn ich gewu?t hatte, was ihr treibt, hatte ich nicht so ruhig zu Hause gehockt.«
        Ol erwiderte:

»Nun ja, gefahrlich war es vielleicht. Aber drei Stunden, das scheint uns nur hier auf der Irena so. No war mir bereits einen Tag voraus. In dem Tunnel vergeht die Zeit namlich viel schneller.«
        Uber dieses Problem sprachen sie dann noch ausfuhrlich, und als Viola spater im Bett lag, konnte sie eine ganze Weile nicht einschlafen. Die Kristallskaphander gingen ihr im Kopf herum. Bestimmt wurden ihr Vater und No die Fluganzuge erneut ausprobieren, um damit den defekten Tunnel zu erforschen. Wie konnte sie es nur anstellen, da? man sie mitnahm? Erst gegen Mitternacht schlief das Madchen endlich ein. Sie war zu keiner Losung gekommen. Aber auch Ol war noch lange wach und dachte uber die Ereignisse des Tages nach. Er fragte sich, weshalb der Tunnel au?er Kontrolle geraten war und was sich daraus fur Folgen ergaben.
        VIOLA UND MO MACHEN SICH DAVON
        Am nachsten Morgen sa? Ol nicht wie ublich als erster. am Fruhstuckstisch, sondern mu?te mehrmals gerufen werden.
        Zum Fruhstuck gab es Buletten, und Ol, der die knusprigen braunen Klopse gern a?, ri? sich fur eine Weile von seinen Uberlegungen los. Ganz gelang ihm das freilich nicht. Gefesselt von seinen Uberlegungen, fuhrte er Selbstgesprache und gestikulierte wild mit den Handen.

»Der eine Pol ist die Erde, der andere die Irena«, sagte er laut. »No ist in die Zukunft geflogen, also fuhrt der Tunnel von hier aus dorthin. Von der Erde aus aber geht es in die Vergangenheit. Genauso mu? es sein. Nur im Elmenland, das dazwischen liegt und wo sich die unterschiedlichen Krafte treffen, bleibt alles beim alten, dort ist die Zeit gleich null.«
        Wahrend Ol nachdachte und Schlusse zu ziehen versuchte, gingen seiner Tochter Viola viel praktischere Dinge durch den Sinn. Auch sie beschaftigte sich innerlich mit dem Tunnel und den sonderbaren Vorgangen dort. Dabei schien ihr ein Ausflug in die Zukunft allerdings eher verlockend als gefahrlich.
        Das Risiko wird schon nicht so gro? sein, sagte sie sich, dieser No hatte ja nur umkehren mussen, wahrscheinlich hatte er jede Orientierung verloren. Wenn er sich ein bi?chen angestrengt hatte, ware er auch wieder nach Hause gekommen. Das ist sogar mir gelungen, als ich damals im Elmenland war. Au?erdem passe ich besser auf als er. Sobald ich merke, da? es schwierig wird, breche ich das Experiment ab.
        Zu ihrer Uberraschung fand Viola einen Verbundeten in Mo, der seinem Bruder in nichts nachstehen wollte. Mal an der Zukunft schnuppern konnte man ja, dachte er. Und da er erriet, was das Madchen vorhatte, brauchten sie nicht viel Worte, um sich zu verstandigen.
        Wahrend Ol noch in seinem Zimmer war und verschiedene Berechnungen uber die umgewandelte Energie anstellte, wahrend Vi in der Kuche hantierte und No sich mit dem Roboter beschaftigte, machten sich die beiden heimlich aus dem Staub. Sie benutzten nicht die Stra?e, sondern schlichen durch den Garten und kletterten uber den Zaun. Danach robbten sie eine Weile uber freies Feld und rannten erst los, als sie merkten, da? niemand ihnen auf den Fersen war. Jetzt trennte nur noch der kleine Bach sie vom Elming. Ohne lange zu uberlegen, sprangen sie hinein und wateten ans andere Ufer.
        Unterwegs hatten sie sich Gedanken gemacht, wie Viola den unsichtbaren Schutzschild uberwinden konnte, der den Eingang zum Schacht abschirmte. Fur Mo war das kein Problem, er stammte ja von der Atlantis. Vielleicht, so sagte er sich, klappte es fur das Madchen, wenn er sie
        an der Hand nahm? Doch nichts da - wahrend er passieren konnte, prallte sie zuruck wie von einer Gummiwand.
        Mo kam zu Viola zuruck, und sie versuchten es erneut. Sie dachten sich die unmoglichsten Varianten aus: auf allen Vieren, mit dem Hintern zuerst, mit einem gewaltigen Sprung oder eng aneinandergepre?t. Doch alles half nichts, und so setzten sie sich enttauscht ins Gras. Wahrscheinlich wurde das Madchen unverrichteter Dinge umkehren mussen.
        So schnell aber gab Viola nicht auf.

»Wenn der Tunnel einen Defekt hat«, sagte sie, »warum sollte dann der Schutzschild noch voll und ganz intakt sein. Wir mussen nach einem Loch suchen, durch das ich schlupfen kann. Los, gehn wir langsam um den Elming herum.«
        Mit dieser Hoffnung machten sie sich ans Werk, und Viola tastete immer wieder die unsichtbare Wand nach einer Lucke ab. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis sie tatsachlich einen Spalt fand. Sie hatte es doch gewu?t!

»Das schaffe ich«, rief das Madchen und quetschte sich durch die Lucke. Als sie halb im Innern des Elmings war, gab der Schutzschild unvermutet nach, und sie fiel der Lange nach hin. Aber die Kratzer an Knie und Ellbogen, die sie sich dabei zuzog, machten ihr nicht das geringste aus - Hauptsache, sie war drin!
        Im Elming konnten die beiden zunachst nichts Besonderes entdecken. Viola, die eine Weile nicht hier gewesen war, schaute sich neugierig um und verga? fur den Augenblick die Gefahr, in die Zukunft verschlagen zu werden. Mo dachte zwar daran, glaubte aber nicht, da? etwas passieren konnte, solange sie der Stelle fernblieben, an der No gestern verschwunden war. Da er sich hier gut auskannte, zeigte er dem Madchen seine Lieblingsplatze und Verstecke.
        Inzwischen hatte man zu Hause ihr Verschwinden entdeckt und war in heller Aufregung. Ol und Vi kannten die Abenteuerlust ihrer Tochter zur Genuge. No wiederum konnte sich denken, da? sein Bruder nicht hinter ihm zuruckstehen, sondern ihn moglichst noch ubertrumpfen wollte.

»Sie sind bestimmt zum Tunnel gelaufen«, sagte No, »meinem Bruderchen ware das zuzutrauen.«

»Viola auch«, erwiderte Vi, »manchmal ist sie mehr als unvernunftig. Zum Gluck ist das Gebiet um die Tunneloffnung durch den Schutzschild abgesperrt. Unsere Tochter kann nicht durch, und ich hoffe, Mo ist Kavalier genug, sie nicht allein zuruckzulassen.«
        Ol hoffte das gleichfalls, machte sich aber trotzdem Sorgen. Und wenn nun auch die unsichtbare Wand au?er Kontrolle geriet? Er hatte Vi dargelegt, welche Gefahren mit dem defekten Tunnelsystem verbunden waren, diese letzte Befurchtung jedoch fur sich behalten. Wahrend seine Frau und No noch diskutierten, verlie? er ohne ein Wort das Haus, machte sich zum Elming auf. Er nahm den kurzesten Weg, doch am Sperrkreis angelangt, hielt er vergeblich nach den Kindern Ausschau.
        Sie sind drin, Viola ist irgendwie reingekommen, dachte Ol besturzt. Hoffentlich erwische ich sie noch!
        Er trat an den Schutzschild heran und spurte deutlich die Risse, die sich hier und dort in der Wand zu bilden begannen. Schon bald fand er eine dunne Stelle, die ihm den Durchschlupf erlaubte.
        Innen sah er sich verzweifelt erneut um. Ein Zentnergewicht fiel ihm vom Herzen, als er die beiden endlich entdeckte. Viola und Mo steuerten gerade das Bruchstuck einer Saule an, das am Boden lag. Es war der Lieblingsstein der Atlanterjungen, denn er stammte von ihrer untergegangenen Insel.
        Ol rannte hinter den Ausrei?ern her, und sie bekamen einen gehorigen Schreck, als sie ihn neben sich auftauchen sahen. Sie erschraken aber nicht nur, weil sie ein schlechtes Gewissen hatten, sondern auch, weil er vollig au?er Atem war und sich beim Kriechen durch den Schutzschild die Sachen zerrissen hatte.

»Papa, wo kommst du denn her«, rief Viola, »bist du uns etwa gefolgt?«

»Und ob ich euch gefolgt bin! Was fallt euch ein, klammheimlich von zu Hause wegzulaufen und in den Elming einzudringen. Ihr habt doch gehort, was No gestern passiert ist.«

»Ach, ist ja alles gut gegangen, und wir sind viel vorsichtiger als er. Wir wollten…«
        Doch was sie wollten, konnte das Madchen nicht mehr darlegen. Mit einemmal war ihr das Wort abgeschnitten, und sie merkte, wie sie leicht wurde, gewisserma?en Flugel bekam.
        Aber auch ihr Vater und Mo verspurten dieses Gefuhl. Zu spat begriff Ol, da? sie in den Sog geraten waren wie gestern No, und da? sie in der Falle sa?en. Ja, die drei waren genau an der Stelle, an der Mos Bruder einen Tag vorher verschwunden war, von der Anziehungskraft des Tunnels erfa?t worden, gegen die sie sich nicht wehren konnten.
        Sie wurden in die Zukunft entfuhrt, und keiner von ihnen wu?te, wo sie landen wurden.
        DIE WANDE HABEN OHREN
        Auch Vi und No hatten ihre Diskussion letzten Endes abgebrochen, ihnen war aufgefallen, da? Ol gleichfalls das Haus verlassen hatte.

»Er ist zum Elming«, sagte Vi, »wo sollte er sonst hin. Ich hab keine Ruhe!«
        Sie lie? alles stehen und liegen und rannte zusammen mit No ihrem Mann hinterher. Sie kamen gerade noch zurecht, um von der unsichtbaren Wand aus das Verschwinden der drei beobachten zu konnen. Vi war verzweifelt, zumal es ihr nicht gelang, den Schutzschild zu durchbrechen. Sie befanden sich an einer Stelle, wo er noch keine Lucke hatte.
        Nun hielt sie wenigstens No am Arm fest, denn sie wollte nicht, da? auch er sich noch davonmachte. Ol ist klug und bewandert in diesen Dingen, sagte sich Vi immer wieder, er wird bestimmt einen Ausweg finden. Selbst in dieser ungewohnlichen Situation. Ich darf nur nicht in Panik geraten, die Nerven verlieren. Und sie setzte sich erst einmal ins Gras, um grundlich zu uberlegen.

»Die Skaphander«, sagte No plotzlich, »vielleicht konnen wir mit ihnen etwas ausrichten. Ich bin ja gestern schon damit geflogen.«

»Es sind aber nur zwei, also zu wenig, um die andern zuruckzuholen. Au?erdem haben sie keine gro?e Reichweite.«

»Besser als gar nichts. Was sollen wir sonst tun?«

»Gut«, erwiderte Vi, »gehn wir wieder nach Hause. Ich will sehen, wo Ol sie hingepackt hat.«
        Diese Fluganzuge, in denen man wie Superman durch Raum und Zeit sausen konnte, waren aber nicht nur die letzte Hoffnung fur die beiden, sie hatten auch im Synchronautikzentrum fur Aufregung gesorgt. Vor allem durch die Tatsache, da? Ol sie angeblich brauchte, um den Jungen No aus der Zukunft zuruckzuholen. Or, der Direktor des Zentrums, hatte das zunachst gar nicht glauben wollen.
        Or war einer der obersten Herrscher auf der Irena, und er hatte nur eine Sorge: die Macht der Massaren zu sichern und alles, was von anderen Planeten kam, unter Kontrolle zu halten. Ol, einer seiner geschicktesten Tunnelpiloten, war zu seinem Leidwesen ein Vitant, das hei?t ein Angehoriger jener Gruppe von Leuten, die mit der Erde gute Beziehungen aufnehmen wollten. Ein Plan, der den Massaren uberhaupt nicht gefiel, denn sie waren auf Eroberung aus.
        Deshalb mu?te man nach Ors Meinung auch auf Ol aufpassen, durfte ihm nicht zuviel erlauben. Andererseits war er aber der beste Techniker auf der Irena und kannte sich hervorragend mit dem Tunnelsystem aus. Die Massaren konnten kaum auf sein Wissen verzichten.
        Als Ol dem Direktor von den sonderbaren Veranderungen im Hauptschacht berichtete, war dieser aufs hochste beunruhigt. Nur deshalb gab er die beiden Zeitanzuge heraus - der Pilot sollte der Sache auf den Grund gehen. No war ihm dagegen egal. Mit ihm konnte er sowieso nichts anfangen, weshalb sollte er sich seinetwegen aufregen.
        Or war gespannt, was Ol herausfinden wurde, gleichzeitig mi?traute er ihm aber. Nachdem Violas Vater gegangen war, gab er sofort Anweisung, die Angaben zu uberprufen und bis auf weiteres alle Fluge zur Erde einzustellen. Dann rief er jedoch Din und Nel zu sich, zwei seiner Untergebenen. Sie waren seine Manner fur schwierige Aufgaben und schon ofter mit heiklen Auftragen betraut worden.
        Din und Nel zeichneten sich durch ihren Eifer aus, hatten zuletzt aber grundlich versagt. Als es namlich darum gegangen war, die Ruckkehr mehrerer Erdenbewohner zu verhindern: des Jungen Kostja, des Geologen Viktor Stepanowitsch, des Jagers Kusmitsch und des bereits erwahnten Einbeinigen Seemanns Charlie Black. Damals waren sie von Ol geschickt hinters Licht gefuhrt worden, was sie ihm bis jetzt nicht verziehen.
        Auf diese Niederlage spielte der Direktor an, als er die beiden zwar liebenswurdig begru?te, sie aber auch fragte, ob sie nicht ihre Scharte von neulich auswetzen wollten.

»Die ruhige Zeit im Labor ist vorbei«, erklarte er, »jetzt gilt es das Haus von Vi und Ol uberwachen, und zwar rund um die Uhr.«

»Das Haus von Vi und Ol?« Nel war alles andere als begeistert. »Diese Familie bereitet uns nur Ungelegenheiten. Welche Gemeinheit haben sie denn diesmal vor?«
        Or erklarte den Mannern, da? es nicht um Gemeinheiten ging, sondern um Gefahren, die moglicherweise auf die Irena zukamen. Leider sei es Ol gewesen, der den Defekt im Tunnel entdeckt hatte und nicht etwa einer der zustandigen Massaren. Da man aber nicht wisse, was er wirklich vorhabe, musse man ihn im Auge behalten.

»Nehmt den Peilwagen«, fugte der Direktor hinzu, »all unsere Mittel stehen euch zur Verfugung. Nicht die kleinste Maus darf unbemerkt in Ols Haus gelangen oder es verlassen.«
        Wenig spater standen Din und Nel mit ihrem supermodernen Peilwagen schon in der Nahe von Ols Haus. Das Fahrzeug war mit den besten Apparaturen ausgerustet, die man zum Uberwachen und Beobachten besa?. Mit ihrer Hilfe konnte jeder Vorgang au?erhalb und auch innerhalb des Gebaudes verfolgt werden. Sogar in die Kochtopfe konnten die beiden gucken.
        Sie richteten ihre Gerate auf das Erdgescho?, wo sich das Wohnzimmer und die Kuche befanden. Dort hielten sich die Bewohner erfahrungsgema? am meisten auf, dort wurden auch viele Gesprache gefuhrt.
        Der Abend und die Nacht verliefen ruhig, Din und Nel konnten nicht viel Neues erfahren. Sie vertrieben sich die Zeit mit Schachspielen und schliefen spater abwechselnd, das hei?t, sie losten sich beim Wachehalten ab. Auch am Morgen passierte noch nicht viel, so da? die beiden sich zu langweilen begannen. Sie pa?ten nicht mehr so genau auf, warfen nur noch ab und zu einen Blick auf die Bildschirme.
        Aus diesem Grund bekamen sie auch nicht mit, da? Viola und Mo heimlich das Haus verlie?en. Sie wurden erst wieder aufmerksam, als OL aufgeregt aus seinem Zimmer herunterkam und Vi seine Uberlegungen zum Tunneldefekt mitteilte. Da? sich dort die Energie verlagern und das gesamte System verandern wurde. Da? dadurch im Elming ein gewaltiger Sog entstehen konnte, was fur die Irener unvorhersehbare Folgen mit sich brachte. Da? es den Weg zur Erde zwar noch gabe, man aber dort leicht in die Vergangenheit geraten konnte usw.
        Din hatte bei den ersten Worten Ols sofort eine Verbindung zu seinem Chef geschaltet, so da? der Direktor alles mithoren konnte. Or hatte sich naturlich selbst auch schon Gedanken uber die Lage gemacht und fand sie durch die Worte des Vitanten bestatigt.
        Ja, Ol ging in seinen Uberlegungen noch weiter als er, indem er meinte, die Kraft des Tunnels konnte ausreichen, die Zeit um Tausende von Jahren zu verschieben. Diese Daten ubermittelte Or sofort an das Rechenzentrum. Er war sehr besorgt, zollte der Vorstellungskraft und dem Wissen des Tunnelpiloten aber auch Achtung, ja Bewunderung.
        Die aufgeregte Stimme Dins rief ihn unvermittelt in die Gegenwart zuruck.

»Chef, im Haus mu? irgendwas passiert sein! Ol ist ohne ein Wort zu sagen losgerannt, offenbar zum Elming. Seine Frau und der eine Junge folgen ihm jetzt. Sie haben’s fast noch eiliger als er.«
»Der eine Junge? Was machen der andere und das Madchen, diese Viola?«
        Da? Or sofort nach den beiden Kindern fragte, war Din peinlich. Liebend gern hatte er verschwiegen, da? Nel und er nicht aufgepa?t hatten. Doch das ging nun nicht mehr.

»Obwohl die funf beim Fruhstuck noch zusammen waren, haben wir Viola und Mo schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen«, gab er kleinlaut zu.

»Hab ich nicht ausdrucklich befohlen, da? niemand, nicht das kleinste Mauschen, das Haus ungesehen betreten oder verlassen darf!« schrie der Direktor wutend.
»Achtet ihr so auf meine Anweisungen?«

»Sie haben ja recht, Chef, aber wir sind nur zu zweit. Wenn die einen da und die andern dorthin laufen, konnen wir sie sowieso nicht alle beobachten. Wir haben uns hauptsachlich auf Ol konzentriert.«

»Ihr habt jede Kleinigkeit zu melden, ihr Dummkopfe«, brullte Or, »damit ich die entsprechenden Ma?nahmen ergreifen kann! Und jetzt fahrt Ol hinterher. La?t ihn ja nicht aus den Augen!«
        Der Peilwagen setzte sich schnell in Bewegung. Din und Nel hatten Ol bald wieder im Visier. Um nicht aufzufallen und die Lage besser uberblicken zu konnen, schalteten sie die Fluganlage ein, erhoben sich wie mit einem Hubschrauber in die Luft. Von dort aus fotografierten sie Ol mehrmals, zuletzt sogar, als er zusammen mit Viola und Mo vom Tunnel eingesogen wurde.
        Or, der sich inzwischen wieder beruhigt hatte, nahm die Nachricht vom Verschwinden der drei mit gemischten Gefuhlen auf. Gut, da? ich Ol habe beobachten lassen, dachte er. Vielleicht werde ich ihn nie mehr wiedersehen, aber wenigstens bin ich auf dem laufenden. Schade, denn wenn er im Grunde auch mein Gegner war - er war intelligent und ein wurdiger Widersacher. Jetzt mu? ich zusehen, wie ich mit all den Problemen ohne ihn zurechtkomme.
        GEFANGEN IM TUNNEL
        Inzwischen rasten Ol, Viola und Mo der Zukunft entgegen. Die anfangliche Leichtigkeit war gewichen, ein starker Druck lastete auf ihnen, und fur einige Zeit wurde sogar das Atmen schwer. Erst als sich ihre Korper der Geschwindigkeit angepa?t hatten, waren sie wieder in der Lage, uber ihre Situation nachzudenken und sich daruber zu unterhalten.
        Viola war noch immer verblufft uber das schnelle Auftauchen ihres Vaters. Ihr schwante, da? sich der kurze Ausflug, den sie vorgehabt hatte, in die Lange ziehen konnte. Sie hatte ein schlechtes Gewissen und ware am liebsten wieder zu Hause bei ihrer Mutter gewesen.

»Da habt ihr uns was Schones eingebrockt«, sagte Ol, »wie kann man nur so unvernunftig sein.«

»Wir wollten uns doch blo? mal am Tunnelausgang umschaun, vielleicht fur einen Tag oder zwei in die Zukunft fliegen wie No«, rechtfertigte sich Viola.

»Ich hatte euch gestern lang und breit erklart, da? der Tunnel defekt ist und ich No mit dem Skaphander zuruckholen mu?te. Aber wer holt jetzt uns zuruck?«

»Es sind doch erst ein paar Minuten vergangen«, schaltete sich Mo ein, der Viola nicht im Stich lassen wollte. »Bestimmt werden Vi und No kommen.«

»Ein paar Minuten?« Ol lachte bitter. »Das ganze Tunnelsystem ist aus dem Gleichgewicht geraten, Zeit und Raum verschieben sich mit ungeheurer Geschwindigkeit. Merkt ihr nicht, da? wir mitten im Sog sind? Wir sind schon Jahre von dem Augenblick entfernt, da wir in den Elming eindrangen.«

»Jahre?« rief Viola erschrocken. »Aber das ist ja schrecklich! Wir mussen den Tunnel sofort verlassen.« Und mit den Armen rudernd, versuchte sie kehrtzumachen, dem Sog irgendwie zu entkommen.
        Ol sah ihren Bemuhungen einen Moment lang zu, ohne einzugreifen. Dann erklarte er:

»Hor schon auf, man kann von einem fahrenden Zug nicht abspringen. Noch dazu, wenn er so dahinrast wie dieser. Und wenn man es konnte, wurde man sich alle Knochen brechen. Unsere Gesundheit werden wir aber noch brauchen.«

»Was sollen wir blo? tun?« fragte Mo bedruckt.

»Wir mussen uns um einige tausend Jahre voraus in die Zukunft tragen lassen«, erwiderte Ol, »das ist nicht mehr zu andern.«
        Obwohl die beiden Kinder sich so ungeheuer gro?e Zeitraume nicht richtig vorstellen konnten, waren sie fur den Augenblick sprachlos. Entgeistert starrten sie Ol an.
        Nach einer Weile sagte Viola:

»Tausende von Jahren? Bleiben wir wenigstens hier, auf der Irena?«

»Es sieht so aus. Allerdings konnten wir spater auch zur Erde gelangen. Nach meinen Berechnungen sogar schneller als bisher und wahrscheinlich in die Vergangenheit.«
        Mo war von dieser Aussicht sehr angetan, seine Augen begannen zu funkeln.

»Also ich ware dafur, zur Erde zu fliegen«, sagte er. »Vielleicht kommen wir in jene Epoche, als Atlantis noch existierte. Zu schade, da? No nicht bei uns ist.«

»Und wie sollen wir auf der Erde Mama treffen?« fragte Viola, der die Tranen in die Augen stiegen. »Wenn sie uns sucht, dann auf der Irena.«

»Der Tunnel wird uns zunachst sowieso keine Wahl lassen«, erwiderte Ol, »wir werden im Sog bleiben, bis er uns freigibt. Erst dann konnen wir weitersehn.«
        Die Kinder schwiegen erneut, und da die Geschwindigkeit immer gro?er wurde, pre?te sich Viola fest an ihren Vater. Er war ihr einziger Schutz, und so hielt sie auch dem Druck besser stand.
        Mo aber erkundigte sich:

»Wie lange kann es denn dauern, bis uns der Tunnel wieder freigibt?«

»Wenn ich es richtig einschatze, ungefahr eine Woche.«
        Viola war entsetzt.

»Eine ganze Woche? Aber bis dahin verhungern wir. Durst habe ich schon jetzt.«
        Mo wu?te Bescheid:

»Eine Woche - das konnten wir gerade noch schaffen. Ohne Wasser, meine ich, so lange steht der Mensch es notfalls durch. Ohne Essen kommt er dagegen bis zu einem Monat aus.«

»Ihr braucht keine Angst zu haben, wir verhungern und verdursten schon nicht«, beruhigte Ol die beiden. »Wir kommen bald am Elmenland vorbei, wo man sich in ein korperloses Wesen verwandelt, das keine Nahrung benotigt. Ihr habt damit ja bereits eure Erfahrungen gemacht.«
        Und wirklich - als durchscheinende Wesen, Geistern aus dem Jenseits ahnlich, wurden sie nach sieben Tagen zum Ende des Tunnels geschleust. Erst hier wurden sie wieder sie selbst. Der Sog verebbte, und sie gelangten zum Ausgang.
        Der Anblick, der sich ihnen bot, war allerdings niederschmetternd. Zu Hause hatten eine warme, freundliche Sonne, saftiges grunes Gras und ein uppiger Wald ihr Auge erfreut. Vogel hatten gezwitschert, blaue Seen und sprudelnde Bache zum Baden eingeladen. Vor allem aber hatte es Menschen gegeben, Massaren und Vitanten. Hier dagegen war nichts Lebendiges zu entdecken. Eine bla?liche Scheibe hing schief an einem traurig grauen Himmel, der den Betrachter wehmutig stimmte. Kein Gedanke, da? von dort freundliche Sonnenstrahlen zur Erde dringen konnten. Uberhaupt wirkte alles ringsum trist und grau, wie von Schimmel oder Spinnweben uberzogen. Wo sollte da Vogelgezwitscher herkommen? Und statt blauer Seen gab es nur braunlichen Morast.
        Sie hielten Ausschau nach einem Lebenszeichen - vergeblich. Kein Haus, keine Rauchfahne, die auf ein Feuer hingedeutet hatte, und schon gar kein Kinderlachen.
        Nur eine gigantische Spur durchzog in Windungen die Einode, sie schien alles plattgewalzt zu haben.
        Selbst Ol, der als Raumflieger schon so manchen unwirtlichen Planeten gesehen hatte, war erschrocken. Wie sollen wir uns hier blo? behaupten, dachte er. Doch er verbarg seine Betroffenheit, tat, als sei alles normal.
        Zum Gluck nahmen die Kinder die Sache nicht so tragisch. Zwar gefiel ihnen diese Landschaft genausowenig, aber sie wurden durch die breite Spur abgelenkt, deren Ursache sie sich nicht erklaren konnten.

»Sie ruhrt von nichts anderem als dem Tunnel her«, sagte Ol, »der Eingang hat sich uber die Jahrtausende durch den riesigen Druck betrachtlich verschoben. Wenn ich nur wu?te, wo wir genau sind.«

»Und der Schutzschild um den Elming«, fragte Mo, »was ist aus dem geworden?«

»Den gibt es nicht mehr, die Energie fur das Magnetfeld fehlt.«

»Wenn wir dieser Spur folgen, mu?ten wir aber irgendwann zu dem Platz kommen, wo der Elming war und wo unser Haus stand«, sagte Viola hoffnungsvoll.
»Da befindet sich doch nichts mehr«, wandte Mo ein, »wir sollten besser versuchen, zur Erde zu gelangen, nach Atlantis.«
        Er hatte nicht vergessen, da? Ol anfangs von dieser Moglichkeit gesprochen hatte.

»So einfach geht das nicht«, erwiderte Violas Vater, »erst mu? der Weg zur Erde wieder frei sein.«

»Aber wann ist das, und wie sollen wir es erfahren, wenn wir nicht am Tunneleingang bleiben?« beharrte Mo.

»Bis es soweit ist, wird einige Zeit vergehen«, erklarte Ol. »Vielleicht haben wir Gluck und brauchen uns nicht allzu weit zu entfernen. Es sieht aus, als habe sich der Tunnel in Schlingerbewegungen einfach nur hin und her gewalzt.«
        DIE FLUGMOLCHE
        Der erste Schritt ins Freie brachte einen unvorhergesehenen Sturz mit sich. Sie glaubten, festen Boden unter den Fu?en zu haben, versanken aber bis uber die Knochel im Staub, stolperten und fielen hin. Doch sie fielen weich, die graue Masse nahm sie fast schmeichelnd in Empfang. Nur stob der Schmutz in so dichten Wolken auf, da? es ihnen regelrecht den Atem benahm. Die drei husteten, spuckten und richteten sich ziemlich argerlich wieder auf. Das fing ja gut an!
        Ihre Kehlen waren ausgetrocknet, und ihr erster Gedanke galt dem Aufspuren von Wasser. Um sich sattzutrinken und, wenn moglich, zu waschen. Aber sie konnten keinen Bach, Flu? oder gar See entdecken. Nur graue, trockene Odnis.

»Viola hat recht, wir sollten dieser Spur folgen«, sagte Ol. »Hier ist der Boden wenigstens glattgewalzt, und der Staub liegt nicht ganz so hoch. Vielleicht erreichen wir eine bewohnte Gegend. Wenn nicht, konnen wir immer noch zum Tunnel zuruckkehren.«
        Insgeheim aber dachte er an den Bach, der in der Nahe des Elmings geflossen war, an den Teich hinter ihrem Haus und an das Haus selbst. Steinbauten aus der Vergangenheit der Irena hatten viele Jahrhunderte uberdauert. Warum sollten Gebaude der neueren Epochen, die aus unverwustlichem Kunststoff gefertigt waren, nicht Jahrtausende uberstehen.
        Sie stapften los, bemuht, nicht so viel Staub aufzuwirbeln. Es wurde ein anstrengender Marsch. Manchmal wollten sie schon aufgeben, denn die Landschaft veranderte sich kaum, und vor allem Mo kam immer wieder auf die Erde zu sprechen, die man nur durch den Tunnel erreichen konnte. Aber Ol war nicht so schnell von seinem Plan abzubringen, und nach mehreren Stunden Wanderung gab es endlich einen Hoffnungsschimmer. In der Ferne sahen sie eine Erhebung.
        Es war nur ein bescheidener Hugel, zum Teil mit Gestrupp bewachsen, wie es schien, doch die drei begru?ten ihn fast enthusiastisch.

»Wenn dort Straucher sind, gibt es in der Nahe vielleicht Wasser«, rief Viola.

»Ja, einen Teich mit Fischen, die man fangen und braten kann«, erganzte Mo. »Auf unserer Insel hab ich mich gut auf den Fischfang verstanden.«

»Warten wir’s ab.« Ol dampfte die Freude etwas. »Wir wollen nicht gleich zuviel erhoffen.«
        Viola rannte trotzdem sofort los, wirbelte aber schon bei den ersten Schritten soviel Staub auf, da? sie erschrocken stehenblieb. Es half nichts, sie mu?ten langsam gehen, sich in Geduld fassen.
        Als sie naherkamen, bemerkten sie etwas Unformiges, das uber dem Hugel in der Luft hing. Es stand ganz ruhig da oder bewegte sich sacht wie eine gro?e Fahne bei leichtem Wind. Wind geht aber nicht, dachte Ol, es kann keine Fahne sein. Da? auch nicht der leiseste Hauch wehte, war ubrigens Gluck, denn wenn hier, unter diesen Bedingungen, ein Sturm aufkam, waren sie verloren. Es mu?te schlimmer sein als in der Wuste, wo vom Sand ja auch schon innerhalb kurzester Zeit Menschen und Tiere verschuttet wurden.

»Was kann das blo? sein?« fragte Viola erstaunt. »Es sieht aus wie ein riesiger Luftballon. Andererseits ist es nicht rund, sondern langgestreckt und flach. Jetzt, wo es sich zur Seite neigt, konnte man es fur ein Gummiboot ohne Boden halten, nein, fur einen gro?en Kringel oder eine Brezel.«

»Eine Brezel, die fliegen kann, was denn noch«, erwiderte, ein wenig spottisch, Mo.
        Ol dagegen, der angestrengt zum Hugel starrte, schlug sich mit der Hand gegen die Stirn.

»Aber ja doch, eine Brezel!« rief er. »Ein Kringel, der in der Luft schwebt, begreift ihr denn nicht? Das ist ein Flugmolch, wie er leibt und lebt, nichts anderes. Die gibt es also noch, die haben diese unendlichen Zeiten uberstanden.«
        Flugmolche waren eine Art Amphibien, die sich weniger gut auf dem Land, umso besser aber im Wasser und in der Luft bewegen konnten. Sie waren nur auf der Irena zu Hause und den Bewohnern dort seit jeher vertraut. Man brauchte sie nicht zu furchten, denn sie griffen die Menschen nicht an, verhielten sich eher scheu.
»Wenn sich hier Flugmolche aufhalten, gibt es auch Wasser«, sagte Ol erfreut, »das kann gar nicht anders sein.«
        Nun hatten sie es noch eiliger, zu dem Hugel zu kommen, lie?en sich selbst vom Staub nicht mehr zuruckhalten, der ihnen in Mund und Nase drang. Hustend und spuckend kamen sie schlie?lich an.
        Tatsachlich war die Erhebung von Buschen und Gestrupp umgeben - eine Vegetation, die an jene im Elming erinnerte. Uberhaupt kam Ol die Gegend irgendwie bekannt vor. War hier etwa fruher der Tunneleingang gewesen? Nicht direkt, dachte Ol, aber in der Nahe konnte er sich befunden haben.
        Inzwischen waren Viola und Mo losgesturmt, um den Hugel genauer in Augenschein zu nehmen. Plotzlich brachen sie in ein Freudengeheul aus.

»Da ist ein Teich, wir haben Wasser gefunden!« rief Viola und rannte hin.
        Die Bezeichnung Teich war allerdings reichlich geprahlt. Hinter Riedgras versteckt und mit grunlichen, an Entengrutze erinnernden Algen uberwuchert, handelte es sich eher um einen Tumpel. Die Luft hier war dennoch frischer und nicht so trocken. Der Flugmolch, der direkt daruber hing, empfand das offenbar genauso.
        Die Kinder zerteilten mit den Armen das Riedgras, knieten am Ufer des Tumpels nieder und schoben die Algen beiseite. Zu ihrer Uberraschung war das Wasser kuhl und klar. Sie schopften es mit vollen Handen und stillten ihren Durst.
        Auch Ol trank in gro?en Schlucken. Er war verwundert, da? das Wasser nicht faulig oder abgestanden schmeckte. Vermutlich wurde der Tumpel von einer noch immer aktiven unterirdischen Quelle gespeist.
        Um das Wasserloch herum war eine Art Oase entstanden, und wenn es sich bei den Pflanzen auch um anspruchslose Gewachse handelte, die nicht viel zum Leben brauchten, so breiteten sie sich doch aus, wucherten und bildeten im grauen Einerlei der Landschaft eine grune Insel.

»Es uberrascht mich gar nicht, da? sich hier Flugmolche einfinden«, sagte Ol, »wer wei?, wo der nachste Teich oder Flu? ist. Die Irena scheint verwustet und ausgestorben zu sein.«

»Du glaubst, wir sind die einzigen Menschen auf dem ganzen Planeten?« sagte Viola erschrocken.

»Ich hoffe nicht«, erwiderte Ol, »vielleicht gibt es in anderen Gegenden menschliches Leben. Im Moment haben wir freilich kaum Moglichkeiten, das zu erkunden.«

»Wenigstens haben wir erst mal unseren Durst gestillt«, sagte Mo, der stets Optimist war.

»Schon richtig«, erwiderte Viola, »zu trinken haben wir. Allerdings ist mein Hunger dadurch nicht kleiner geworden. Im Gegenteil, ich konnte Fruhstuck, Mittag und Abendbrot auf einmal verschlingen.«
        ELME AUF DER IRENA
        Wie um ihren Worten Taten folgen zu lassen, ri? Viola ein paar Riedgrasstengel mitsamt der Wurzel aus, befreite sie von Sand und Schlamm und bi? gerauschvoll in die saftigen Knollen. Auf der Irena wurden diese Pflanzen als Gemuse benutzt, das mit seinem leicht su?lichen Geschmack vor allem Kindern zusagte. Als sie noch kleiner war, hatte sich das Madchen oft den Bauch damit vollgeschlagen, bis sie Magendrucken bekam.
        Den Hunger vermochte man mit diesen Knollen freilich nur schlecht zu stillen, eher wurde noch der Appetit angeregt. Mo, die Riedgraswurzeln kauend, sah sich deshalb suchend nach einem kraftigen Ast um, den er anspitzen und zum Fischfang benutzen konnte. Fische hatte er in dem Tumpel schon entdeckt, es ware doch gelacht, wenn man nicht zu einer herzhafteren Mahlzeit kame, als es dieses Gemuse war.
        Auch Ol konnte den Gedanken ans Essen nicht ganz verdrangen. So sehr er Tiere mochte und so erfreut er uber das Auftauchen des Flugmolches war - wenn man ihn einfangen und in Stucke zerlegen wurde, hatte man fur ein paar Tage ausgesorgt. Sein Fleisch sollte etwas fade schmecken, doch was schadete das schon. Vielleicht gelang es ihnen, ein Feuer zu machen und das Tier wie ein Ferkel am Spie? zu braten.
        Er ri? sich von dem Gedanken los - so weit waren sie zum Gluck noch nicht. Dem Flugmolch zublinzelnd, als wollte er ihn um Verzeihung bitten, wandte er sich von dem Tumpel ab und dem Hugel zu. Vielleicht gab es dort Pilze, Beeren, wild wachsendes Obst, gro?ere Vogel oder sogar Kaninchen, fur die man eine Falle bauen konnte.
        Ol arbeitete sich durch stachliges Gras und Gestrupp zu einer Stelle vor, wo der Hugel ziemlich steil abfiel, und plotzlich kam ihm die Gegend sehr vertraut vor. Dieser Teich, der Blick ubers Land…wenn er sich noch ein paar Gebaude in der Ferne vorstellte, die allerdings nicht mehr existierten, und dazu eine Stra?e…

»Aber hier bin ich doch…« murmelte er und schob ein paar Straucher auseinander, ohne sich um die Dornen zu scheren, die seine Hande zerkratzten, »ich bin doch…«
        Er vollendete seinen Satz nicht, denn unvermutet sah er eine Tur vor sich. Sie war halb verschuttet, von einer dicken Staubschicht bedeckt und gehorte zu einer ins Erdreich gesetzten Mauer. Doch was hie? Mauer und ins Erdreich gesetzt, das da war viel mehr! Jawohl, es war ein ganzes Haus, begraben unter Staub und Steinen, zugeweht und au?erlich in einen Hugel verwandelt, auf dem sich Busche und sogar kleine Baume angesiedelt hatten. Um ihre Wurzeln wiederum hatte sich neuer Boden gebildet.
        Ol wagte nicht zu glauben, was immer wahrscheinlicher wurde. Gemeinsam mit den Kindern, die auf seinen Ruf hin herbeieilten, legte er die Tur frei. Dazu benutzten sie einfach die Hande. Sie behalfen sich aber auch mit Stocken, die sie von den Strauchern brachen.
        Die Tur gab nicht gleich nach, sprang jedoch mit einem Schnarren auf, als sie sich dagegen warfen. Offenbar war die Verriegelung zerbrochen. Der Eingang mu?te vor unendlich langer Zeit verschlossen worden sein.
        Die Kinder wollten sofort lossturmen, um das Innere des Hauses zu erforschen, doch Ol hielt sie zuruck.

»Hiergeblieben, wir wissen ja gar nicht, was fur Gefahren dort drin auf uns lauern. Wenn einer hineingeht, dann bin ich das. Ihr bleibt an der Tur, haltet Augen und Ohren offen. Nehmt eure Stocke fest in die Hand, damit ihr mir im Notfall beistehen konnt.«
        Das letzte meinte Violas Vater nicht gar so ernst, er wu?te schon, da? er sich vor allem auf sich selbst verlassen mu?te. Vorsichtig tastete er sich deshalb in der Dunkelheit vor, gelangte uber einen kleinen Flur in ein gro?eres Zimmer. Durch ein Fenster, vor dem gleichfalls Straucher wuchsen, sickerte etwas Licht herein. Nein, so vermodert und verfallen, wie er anfangs gedacht hatte, war das hier gar nicht. Und gefahrliche Tiere, Giftschlangen oder so etwas, schien es auch nicht zu geben.
        Ol offnete das Fenster, so weit es ging, damit mehr Licht und frische Luft hereinkamen, dann schaute er sich genauer um. In der Tat, es war ein Wunder, aber er hatte es geahnt. Die Anordnung der Zimmer, die Mobel - es gab keinen Zweifel. Schon beim Anblick des Tumpels und des Gestrauchs war ihm diese Vermutung gekommen. Als er dann die Tur entdeckt hatte, wurde er sich immer sicherer. Er hatte es bis zuletzt nicht zu hoffen gewagt, aber nun wurde es Gewi?heit.
        Ol rief Mo und Viola:

»Ihr konnt ins Haus kommen«, sagte er, »es besteht keine Gefahr.« Die Kinder sturzten herein.

»Das ist ja eine richtige Wohnung!« entfuhr es Viola. »Fast gemutlich ist es hier.

»Erkennst du es denn nicht wieder?« fragte der Vater.

»Wiedererkennen? Waren wir schon mal hier? Ja, tatsachlich, wenn ich das Muster an der Decke betrachte, die Wande und die Tur…«

»Schau dir doch mal den Kamin an und vor allem das kleine Sofa!«
        Viola wurde ganz bla? um die Nasenspitze und dann wieder rot.

»Du meinst… das hier ist unser Haus?«

»Ganz ohne Zweifel. Du kannst es dir ruhig auf deinem Sofa bequem machen.«

»Das glaub ich nicht«, murmelte Viola. »Nach dieser irre langen Zeit, die inzwischen vergangen ist, das glaub ich einfach nicht.«

»Hier geht’s zur Kuche und hier zu Violas Zimmer«, sagte Mo zogernd, »es konnte tatsachlich stimmen.«
»Aber wie hat es die vielen Jahre uberdauert«, fragte Viola, »warum ist es nicht kaputtgegangen?« Sie lie? sich vorsichtig auf ihrem geliebten Sofa nieder.

»Einerseits, weil das Material, aus dem wir es damals erbaut hatten, unzerstorbar ist«, erwiderte Ol, »andererseits, weil es wahrscheinlich von Staub umschlossen und auf diese Weise zusatzlich geschutzt wurde. Dann hat sich durch Moose und Pflanzen eine weitere Schutzschicht gebildet.«

»Nicht mal der graue Staub scheint durch die Ritzen gedrungen zu sein«, sagte das Madchen, »so fest ist alles ineinander gefugt.«

»Und der Tumpel drau?en, das ist der Teich, in dem wir immer gebadet haben«, fugte Mo hinzu.

»Richtig«, erganzte Ol, »er wurde ja schon damals von einer unterirdischen Quelle gespeist. Das scheint heute nicht anders zu sein. Zum Gluck fur uns. Na, dann wollen wir uns mal hauslich einrichten.«
        Die drei machten sich mit frischem Mut ans Werk. Wahrend Viola die Fenster sauberte und das Gestrauch beiseite bog, damit sie mehr Licht bekamen, sammelte Ol Holz und machte Feuer. Mo aber brach zum Angeln auf. Da er geschickt und die Fische arglos waren, fiel es ihm nicht schwer, mit einem angespitzten Stock schon bald ein gro?es karpfenahnliches Exemplar zu erjagen.
        In den nachsten Tagen hatten sie reichlich zu tun. Sie brachten das Haus vom Keller bis zum Dach auf Vordermann, sammelten Beeren, Pilze und eine kornerartige Frucht, die sich zu Mehl zermahlen lie?. Mo fand in der Abstellkammer kraftiges Kunststoffgarn, aus dem er ein Netz fur den Fischfang knupfte, und Ol reparierte das Schlo? an der Tur, das sie zerbrochen hatten.
        Bei derlei Beschaftigung wurde ihnen die Zeit nicht lang, doch sie mu?ten immer wieder an fruher denken. Viola und Ol sehnten sich nach Vi, Mo vermi?te den Bruder. Wurden sie je zu den beiden zuruckkehren konnen? Sie wu?ten es nicht.
        Eines Tages, sie uberlegten gerade, was sie zum Mittagessen machen sollten, horten sie ein sonderbar sirrendes Gerausch vor dem Haus und dann im Flur. Es war, als sei jemand durch die geschlossene Tur hereingekommen. Ol nahm die Sache zunachst nicht ernst.

»Ihr sollt nicht immer so hastig die Treppen hinabspringen«, sagte er, »da klirren ja samtliche Lampen.«
        Viola wollte gerade erklaren, da? keiner von ihnen auf der Treppe gewesen war, als sie erschrak. Etwas Flirrendes bewegte sich an der Tur, danach am Fenster, dann am Kamin. Sie sturzte zu ihrem Vater, pre?te sich an ihn.

»Ein Geist«, rief sie, »im Haus ist ein Geist!« Und wirklich schalte sich aus dem Schatten am Kamin eine flimmernde Gestalt, nahm die Formen einer Frau an.
        Mo war gleichfalls erschrocken, zumal plotzlich am Tisch ein zweiter Geist stand. Das aber war eindeutig ein mannliches Wesen, genauer gesagt, ein Junge, nicht viel gro?er als er selbst.

»Erkennt ihr uns denn nicht?« fragte die Frau leise, aber mit vertrautem Tonfall,
»wir sind so glucklich, da? wir euch gefunden haben. Wir hatten es schon gar nicht mehr zu hoffen gewagt.«

»Vi«, rief Ol mit erstickter Stimme, »bist du es wirklich?« Und er fugte hinzu:
»Schau doch richtig hin, Viola, es ist die Mama.« Er sturzte, das Madchen mit sich ziehend, zu seiner Frau.
        Nach der ersten Verbluffung begriff Viola endlich. Sie stie? einen Freudenschrei aus und wollte sich der Mutter in die Arme werfen. Das ging allerdings nicht so einfach, sie bekam nur flirrende Luft zu fassen. Lediglich einen sanften Hauch spurte sie auf der Wange, der sie streichelte und liebkoste.

»Nun uberla? die Mama mal mir«, sagte Ol geruhrt, »ich glaube, wir haben uns alle einen Ku? verdient.«
        Vi lachte, und man sah, da? sie ihrem Mann einen Ku? gab. Wahrenddessen hatte sich der Geist No - wer hatte es anders sein konnen - zu seinem Bruder gesellt und versetzte ihm zur Begru?ung einen freundlichen Rippensto?, von dem Mo allerdings nichts merkte. Man konnte blo? die Bewegung verfolgen.
»Ihr kommt als Elme zu uns«, sagte Ol. »Manchmal hatte ich schon so was vermutet. Schade, da? wir euch nicht in die Arme schlie?en konnen, aber Hauptsache, ihr seid uberhaupt da.«

»Das will ich meinen«, erwiderte Vi, »es war nicht ganz einfach, hierher zu gelangen.«

»Wart ihr auf der Erde? Seid ihr deshalb korperlos?«

»Das werdet ihr gleich alles erfahren, wenn ihr uns nur einen Augenblick zum Verschnaufen la?t«, gab Ols Frau zur Antwort.
        WIEDER AM KAMIN

»Nun aber los, erzahlt endlich«, sagte Ol, als die erste Erregung etwas abgeklungen war und sie sich wie in alten Zeiten um den Kamin scharten. Viola und Mo knabberten an einem su?en Fladen, Ol hielt ein Glas mit Beerensaft in der Hand, Vi und No aber sa?en einfach da, froh, wieder bei der Familie zu sein. Vorher war Violas Mutter allerdings noch durchs ganze Haus geschwirrt, hatte alle Zimmer und vor allem die Kuche in Augenschein genommen.

»Fangen wir am besten an der Stelle an, als wir merkten, da? du Viola und Mo nachgerannt bist«, begann Vi. »Statt uns Bescheid zu geben, bist du ohne ein Wort verschwunden. Na, Schwamm druber. Wenn’s auch sonderbar klingt, es liegt ja Tausende von Jahren zuruck.«
        Ol seufzte:

»Tausende von Jahren, das ist wirklich nicht so leicht zu verdauen.«

»Wir rannten dir also nach«, fuhr Vi ungeruhrt fort, »und sahen, da? ihr drei von dem Tunnel eingesogen wurdet. Wir haben euch vom Schutzschild aus beobachtet. Das war vielleicht ein Schock!«

»Da? ihr erschrocken wart, glaub ich schon. Aber was geschah dann?« fragte Viola aufgeregt.

»Ich schlug vor, die Skaphander zu suchen«, mischte sich No ein, »wir mu?ten doch was unternehmen.«

»Und dann kamen plotzlich Din und Nel mit dem Peilwagen angeflogen«, fugte Vi hinzu. »Diese beiden Spitzbuben, ihr wi?t schon. Sie hatten von Or den Auftrag, uns alle zu beobachten. Schon im Haus haben sie uns belauscht, wie wir bald darauf erfuhren.«
        Ol war verblufft. Da? der Direktor ihn und seine Familie beobachten lie?, hatte er trotz allem nicht vermutet. Und so horte er seiner Frau jetzt noch gespannter zu.
        Vi erzahlte, da? die beiden Massaren sie freundlich, aber bestimmt gebeten hatten, in den Peilwagen zu steigen. Dort stellten sie eine Verbindung zu ihrem Chef her, fragten ihn, was nun geschehen sollte. Mittlerweile hatten selbst sie begriffen, da? im Elming und im Tunnel gefahrliche Dinge vor sich gingen.
        Or erkundigte sich zunachst nach den wertvollen Raumanzugen, die Ol aus dem Zentrum mitgenommen hatte. Ob sie sich noch im Haus befanden.
        Vi schaltete sofort. Sie durfte die Skaphander auf keinen Fall zuruckgeben. Es war ihre einzige Chance, Ol und die Kinder wiederzufinden.

»Die haben leider Viola und Mo«, schwindelte sie.
        Dem Direktor gefiel das gar nicht, vielleicht hatte er die Skaphander selbst benutzen wollen, wenn die Lage noch ernster wurde. Er brummte unzufrieden vor sich hin.

»Was sollen wir jetzt machen, Chef?« fragte Din.

»Setzt Vi und den Bengel zu Hause ab, wenn ihr schon den Wagen dabei habt«, murrte er, »dann kommt ins Zentrum zuruck!«

»Weshalb haben Sie uns eigentlich beobachten lassen?« wollte Vi von Or wissen.

»Ihr mu?t mich richtig verstehen. Es geht um Dinge, die fur die Irena von hochster Bedeutung sind. Es war nicht personlich gemeint, wirklich nicht.«
        Vi gab sich mit dieser Erklarung nicht zufrieden:

»Ich hoffe, Sie werden Ihre Leute nicht noch mal auf uns ansetzen?« hakte sie nach.

»Nein, nein, ich verspreche es«, versicherte Or.
        Vi wu?te naturlich, was sie von den Versprechungen des Direktors zu halten hatte, baute aber darauf, da? er seine Manner jetzt fur wichtigere Dinge brauchen wurde. Deshalb gab sie sich zufrieden und lie? sich zusammen mit No nach Hause bringen.
        Dort setzten sie sich erst einmal niedergeschlagen in einen Sessel. Die Lage schien aussichtslos. Vielleicht wurden sie Viola, Mo und Ol nie wiedersehen.
        Um uberhaupt etwas zu tun, lief Vi in die Kuche und begann aufzuraumen. Das Fruhstucksgeschirr stand noch unabgewaschen herum. Sie klapperte mit den Tellern und zerbrach eine Tasse, schien das aber gar nicht zu merken.

»Wir mussen uns die Skaphander schnappen und zum Tunnel zuruckkehren«, erinnerte No, der ihr gefolgt war. »Das ist unsere einzige Chance.«
        Vi war skeptisch.

»Auch mit den Skaphandern erreichen wir nicht viel. Der Tunnel hat seine Lage bestimmt schon wieder verandert. Wir kommen in einer ganz anderen Zeit an.«

»Wo hat Ol die Fluganzuge eigentlich hingetan?« fragte No.

»Er hat es mir nicht gesagt. Auf jeden Fall sollten wir uns erst mal uberzeugen, ob die Luft rein ist.«
        Sie blickten aus dem Fenster, gingen auch vor die Tur. Kein Peilwagen oder sonst etwas Verdachtiges war zu entdecken.

»Die Massaren scheinen uns tatsachlich in Ruhe zu lassen«, sagte No.

»Also gut, suchen wir jetzt die Fluganzuge.«
        Sie liefen ins Haus zuruck und schauten sich nach den beiden Paketen um, die Ol gestern vom Tunnel mit zuruckgebracht hatte. Obwohl No wu?te, da? es fast unmoglich war, damit in die ferne Zukunft zu gelangen, stellte er sich schon vor, wie er mit dem kristallen flimmernden Ding bei Mo auftauchen wurde.
        Vi hatte gedacht, die Skaphander schnell zu finden, doch sie irrte sich. Weder auf den ersten Blick noch mit grundlichem Stobern hatten sie Erfolg. Sie nahmen sich, bei Ol angefangen, jedes Zimmer einzeln vor. Als sie auch den Keller, die Abstellkammer und den Boden durchsucht hatten, sahen sie sich verdutzt an.
»Sollte Ol die Anzuge etwa doch mitgenommen haben?« sagte No enttauscht.

»Ganz bestimmt nicht, das hatten wir gesehen.«

»Aber wo stecken sie dann?«
        Vi hob die Schultern:

»Ich wei? wirklich nicht mehr, wo ich noch suchen soll.«

»Wir mussen sie einfach auftreiben«, murmelte No verzweifelt.
        Plotzlich hatte Vi eine Idee:

»Wir haben uns immer nach Paketen umgeschaut. Und wenn Ol die Anzuge nun einfach in den Kleiderschrank gehangt hat?«
        Sie sturzte los, offnete den Schrank und - unglaublich aber wahr - da hingen sie! Unformig und glanzend, zwischen ganz gewohnlichen Anziehsachen.

»Mein Mann ist wirklich einmalig«, sagte Vi. »Wer kommt denn auf den Gedanken, diese wertvollen Skaphander zwischen den Tageskleidern unterzubringen.«
        No aber erwiderte anerkennend:

»Wenn man’s recht bedenkt, war das ganz schon clever. Wie man sieht, sind die Fluganzuge hier besser versteckt als in einem Tresor.«
        DIE VERWIRRUNG DER MASSAREN
        Inzwischen wurde den Massaren im Synchronautikzentrum immer klarer, in welcher schwierigen Lage sich die Irena befand. Der Planet war ja uberaltert, die Bodenschatze waren fast restlos ausgebeutet. Die Grundstoffe fur das Leben hier wurden deshalb zum gro?ten Teil uber die Tunnel von der Erde herangeschafft, und man trug sich mit der Absicht, irgendwann ganz dorthin uberzusiedeln. Dieser Plan aber wurde undurchfuhrbar, wenn die Tunnel au?er Kontrolle gerieten, sich immer mehr in die Zukunft verschoben. Wie lange, so uberlegte Or, konnte man uberhaupt noch existieren, wenn der Nachschub von anderen Planeten ausblieb.
        Der Direktor berief umgehend eine Konferenz ein, trommelte Politiker, Wissenschaftler und Tunnelpiloten zusammen. Auch Vi als ehemalige Synchronautin durfte daran teilnehmen.
        Die Verwirrung war gro?. Einige schlugen vor, auf die Erde umzusiedeln, solange noch Zeit war, ohne die Bevolkerung um ihr Einverstandnis zu bitten.

»Beginnen wir sofort mit der Eroberung«, verlangten sie, »setzen wir unsere Waffen ein.«
        Or, der schon uber diese Moglichkeit nachgedacht und sich mit Experten beraten hatte, war anderer Meinung.

»Ob wir so zum Erfolg kommen, ist ungewi?«, sagte er. »Bei der jetzigen Bewegung der Tunnel sollten wir lieber versuchen, in die Vergangenheit der Erde zu gelangen. In jene Zeit, wo sie noch gering besiedelt war. Wir hatten dort alle Chancen, unser System zu errichten und die Entwicklung nach unseren Vorstellungen zu beeinflussen.«
        Dieser Plan war schlau ausgedacht, das mu?te selbst Vi zugeben. Die Erdenmenschen wurden gewisserma?en unterworfen werden, ohne zu begreifen, was geschah. Sie wollte schon protestieren, doch zum Gluck stellte sich das Vorhaben als undurchfuhrbar heraus. Es war genausowenig zu verwirklichen wie die sofortige Eroberung. Die Fachleute rechneten vor, da? einfach nicht mehr genug Zeit fur dieses Unternehmen blieb. Wo sollte man so schnell die gewaltige Tunnelflotte hernehmen, die dafur gebraucht wurde?
        Schlie?lich wurde der Vorschlag eingebracht, neue Tunnel zu errichten. Ein Plan, der gleichfalls alle Krafte der Irener erforderte und am Ende durchaus mi?lingen konnte. Aber er schien die einzige Moglichkeit, noch etwas zu retten. Ol hatte ihm gewi? auch zugestimmt, wenn er anwesend gewesen ware.
        Or, Din, Nel und einige andere Massaren wollten sich auf eine so unsichere Perspektive allerdings nicht einlassen. Vi erfuhr spater, kurz bevor sie selbst mit No die Irena verlie?, um nach Ol, Viola und Mo zu suchen, da? sie sich still und heimlich zur Erde aufgemacht hatten. Dort gab es ja geheime Stutzpunkte, die mit allem versorgt waren, was sie benotigten. Naturlich hatten sie den modernsten Synchrogleiter benutzt, der im Zentrum zu finden war.
        Inzwischen hatte No zu Hause die ersten Flugubungen mit dem Kristallskaphander absolviert. Es gehorte schon einiges Geschick dazu, Raum und Zeit auseinanderzuhalten und die jeweils richtigen Manover auszufuhren. Vi dagegen, wie ihr Mann mit den Besonderheiten des Tunnelflugs vertraut, kam besser zurecht. Dennoch passierte es, da? auch sie plotzlich ungewollt in der Vergangenheit verschwand und nicht gleich begriff, wo sie hingeraten war. Man mu?te sehr genau steuern, um zum Ausgangspunkt zuruckzukehren.
        No ging es ahnlich, und so hatten sie ein paarmal Muhe, sich wiederzufinden. Andererseits prallten sie unverhofft heftig zusammen, als sie zur selben Zeit am gleichen Platz, namlich auf Violas kleinem Sofa, auftauchten. Verdutzt rieben sie sich die Kopfe. Ein paar blaue Flecke oder Beulen waren ihnen sicher.
        Am Ende hatten sie die Skaphander aber soweit im Griff, da? sie ganz gut damit zurechtkamen. Das war auch notwendig, denn Vi hatte sich inzwischen einen Plan zurechtgelegt, der all ihre Fahigkeiten erforderte. Der Gedanke war ihr in der Konferenz mit den Massaren gekommen. Wahrend sie fur No und sich eine letzte kraftige Mahlzeit bereitete und dazu etwas Proviant einpackte, erlauterte sie das Vorhaben:

»Wir sollten zur Erde fliegen«, sagte sie, »denn die konnen wir mit den Skaphandern erreichen. Jedenfalls sieht es so aus, als sei der Weg im Augenblick noch frei.«
        No war sofort einverstanden.

»Ol meinte, wir kamen dort in die Vergangenheit. Das ware mir nur recht.« Wie sein Bruder Mo, dachte auch er als erstes an Atlantis.

»Vergangenheit oder nicht«, erwiderte Vi, »von dort konnten wir weiter in die Zukunft der Irena. Dorthin, wo die andern sind. Und zwar ubers Elmenland.«

»Wir wollen wieder zuruck zur Irena?« rief No enttauscht aus. »Aber vielleicht sollten wir lieber auf der Erde auf sie warten.«

»Nein, nein, dort treffen wir unsere drei nie.«

»Und warum fliegen wir dann nicht gleich in die Zukunft wie Ol? Da kommt man doch auch bei den Elmen vorbei. Mit den Skaphandern konnen wir den Schutzschild am Elming allemal uberwinden.«

»Der Schutzschild ist nicht mehr das Problem«, erklarte Vi. »Soviel ich gehort habe, existiert er nur noch teilweise.«

»Und was ist dann das Problem?« fragte No.

»Wir haben uns schon daruber unterhalten. Der Tunnel zur Zukunft verlagert sich und entfuhrt uns sonstwohin. Von der Erde aus und mit den Skaphandern konnen wir die Fluge dagegen selbstandig steuern. Zumindest bis zum Elmenland.«

»Und dann?« wollte No wissen.

»Als Elme haben wir andere Moglichkeiten. Das wei?t du ja besser als ich. Nach dem Untergang eurer Insel hast du doch unendliche Jahre in dieser Form zugebracht, ohne da? dir die Zeit lang geworden ware.«

»Ein bi?chen Langeweile hatten Mo und ich schon«, wandte No ein.

»Auf jeden Fall wurden wir zum entsprechenden Zeitpunkt zu unserem Haus zuruckfliegen und auf die drei warten«, erklarte Vi.

»Du glaubst, sie kommen hierher zuruck?«

»Ich wu?te nicht, wo sie sonst hin sollten«, sagte Vi zuversichtlich.
        AUF DEM WEG ZUR ERDE
        Ein letztes Mal lie?en sich’s die beiden in der vertrauten Kuche schmecken, dann brachen sie auf. Vi schlo? das Haus gut ab, achtete auch darauf, da? alle Fenster und Luken sorgfaltig verriegelt waren. Als das getan war, schlupfte sie in den Skaphander und gesellte sich zu No, der einige Meter weiter bereits ungeduldig auf das Startzeichen wartete.
        Auch wenn sie mit den Fluganzugen zur Erde wollten, mu?ten sie uber den Elming, und es stellte sich heraus, da? sie sich damit ziemlichen Gefahren aussetzten.
        Der Tunnel zog, indem er sich verschob, eine Spur der Verwustung, die bis zum Synchronautikzentrum reichte. Alles, was ihm in den Weg kam, wurde unbarmherzig eingesogen, ob es sich nun um Hauser, Baume, Straucher oder Steinbrocken handelte. All diese Dinge wurden in wilder Fahrt bis ins Elmenland geschleudert, wo es zu einem ungeheuren Durcheinander kam. Der Wirrwarr, den Viola und der Junge aus Sibirien, Kostja, einst dort erlebt hatten, war nichts dagegen.
        Auf der Irena aber wurden Bauwerke und Anlagen mitleidlos zerstort. Die geborstene Kuppel des Synchronautikzentrums lag uber einem Gewirr von verbogenen und zerbrochenen Rohren. Zerrissene Elektrokabel und Metallpfeiler ragten in die Luft. Lediglich die unterirdischen Etagen schienen einigerma?en heilgeblieben zu sein, aber auch dort war naturlich jedes Leben erstorben.
        Es war, als ob sich der Tunnel an denen rachen wollte, die das Zentrum einst entwickelt und gebaut hatten.
        Vi und No sahen die Verwustungen mit Schrecken. Sie naherten sich dem Tunneleingang sehr zogernd, wagten es zunachst nicht, sich dem Sog auszusetzen. Wie sollten sie den Gegenstanden ausweichen, die durch die Luft flogen, wie sich uberhaupt in diesem Strom orientieren?

»Ich komme mir wie ein Tierbandiger vor, der seinen Kopf in den Rachen eines Lowen steckt«, flusterte Vi.
        No hatte seinerzeit im Elming den Hohlenlowen Grau kennengelernt, einen riesigen, aber im Grunde friedfertigen Vierbeiner, der spater im Zauberland auf der Erde eine neue Heimat fand. Grau war wirklich furchteinflo?end gewesen, dennoch winkte der Junge nur ab:

»Ein Lowe ist nichts gegen das hier«, murmelte er.

»Wir mussen es weiter hinten versuchen, wo der Sog noch nicht so stark ist«, sagte Vi.

»Ach was, wir sollten den Stier gleich bei den Hornern packen«, erwiderte tapfer No. »Ich hab mal einen Kater auf einem Balkon beobachtet. Unten trieben sich ein paar Katzen herum, und er hatte ihnen liebend gern nachgestellt. Aber es gab keinen Baum in unmittelbarer Nahe, keinen Strauch, kein Schuppendach, uber das er hinabklettern konnte. Er mu?te springen, das war der einzige Weg. Und er brauchte eine ganze Weile, ehe er sich dazu entschlo?. Bestimmt hatte er gro?e Angst.«

»Ja und, hat er sich weh getan?« fragte Vi.

»Eben nicht, das ist es doch, was ich sagen will. Nichts wird so hei? gegessen, wie’s gekocht ist. Er landete auf allen Vieren und rannte sofort zu den Katzen.«

»Ist ja alles schon und gut«, wandte Vi ein, »aber wir sollten trotzdem nicht leichtsinnig sein. Wir haben eine weite Reise vor.«
        Doch No hatte ihr gar nicht mehr zugehort. Mit einer Art Schlachtruf und einem Hechtsprung sturzte er sich in den Kampf, das hei?t mitten hinein in den Sog. Vi blieb nichts anderes ubrig, als ihm zu folgen. Sie durfte ihn auf keinen Fall aus den Augen verlieren.
        Der Luftzug war besonders hier am Tunneleingang sehr stark. Die beiden wurden sofort erfa?t und mitgerissen. Dabei durften sie sich nicht ziellos herumwirbeln lassen wie Flaumfedern und mu?ten auf die Gegenstande achten, die unablassig an ihnen vorbeiflogen. Nicht nur sie selbst hatten sich ja verletzen konnen, auch die Anzuge waren in Gefahr. Sie durften keinen Schaden nehmen.
        Wie lange sie so dahinsausten, wie oft sie sich drehten, uberschlugen, haarscharf an Baumstammen, Metallteilen oder Steinbrocken vorbeiglitten - wer hatte es sagen konnen. Mit Geschick und Gluck vermieden sie Zusammensto?e, erlangten immer wieder das notige Gleichgewicht. Mit der Zeit gelang es ihnen, die Flugtechnik und die Skaphander so zu beherrschen, da? sie keine Purzelbaume mehr schlugen. Sie waren jetzt schon fast so gut wie Ol.

»Wir durfen uns nicht zu weit voneinander entfernen« rief Vi, »sonst verpa?t womoglich einer von uns den Abzweig zur Erde und landet sonstwo.«

»Alles klar, ich bleib in deiner Nahe!«
        Dann lie? der Sog nach, und vom Elmenland aus steuerten sie in Richtung Erde. Ohne die Anzuge waren sie wie die anderen drei in der Zukunft der Irena angekommen. Allerdings in einem spateren Jahrtausend.
        Nun verlief der Flug ruhig, ja fast gemutlich. Kein Geroll mehr, das an ihnen vorbeischwirrte, keine Gefahren. Das dachte wenigstens No, der sich immer wohler zu fuhlen begann, je naher sie der Heimat kamen. Vielleicht wurde er seine Insel und die Stadt, in der er seine fruhe Kindheit verbracht hatte, doch noch wiedersehen.
        Alles wird gut werden, sagte sich No zuversichtlich, begann ubermutig mit den Armen zu rudern und umrundete Vi, die von seiner Frohlichkeit angesteckt wurde. Doch die beiden irrten sich, die Prufungen standen ihnen erst noch bevor. Die Landung auf der Erde sollte ganz anders ausfallen, als sie angenommen hatten.
        DIE PANNE
        War viel Zeit vergangen oder wenig - in ihren Fluganzugen verloren Vi und No das Gefuhl dafur. Die Erde mu?te nahe sein, aber noch glitten sie dahin, ohne da? sich das Tunnelende andeutete. Bis sie urplotzlich in einen neuen Sog gerieten und blitzschnell nach drau?en geschleudert wurden. Der Tunnel, so schien es ihnen, war auseinandergebrochen oder hatte sich aufgelost.
        Mit Hilfe der Skaphander hatten sie den Sturz vielleicht abfangen konnen, doch alles kam so uberraschend, da? es ihnen nicht gelang, das entsprechende Manover auszufuhren. Nur Vi vermochte in letzter Sekunde durch ein Tastensignal den Aufprall zu dampfen. No dagegen schlug mit voller Wucht auf dem Boden auf. Es war, als sei er in Atlantis durch eine Falltur auf den Grund eines Verlieses gesaust.
        Aber das war noch nicht alles. Der Boden des Kerkers ware wenigstens eben und mit einer Schicht, wenn auch fauligem, Stroh bedeckt gewesen. Hier aber ging es steil abwarts. Er prallte gegen einen Gerollhang und konnte einen zweiten Absturz nur verhindern, indem er sich an einen vorspringenden Felsen klammerte. Scharf schnitten ihm die Kanten in die Hande, so da? er beinahe wieder losgelassen hatte.
        Zum Gluck tat er es nicht. Als er den Kopf wandte und nach unten sah, fuhr ihm der Schreck erst recht in die Glieder. Spitze Klippen,
        Gischt, ein wildes, brausendes Meer! Die Wellen turmten sich schaumend ubereinander und schienen gierig nach ihm zu greifen.
        Vi befand sich in einer ahnlich schwierigen Lage. Der Unterschied war nur, da? sie sich an einem Busch festhielt, dessen Dornen ihr die Finger zerstachen. Sie versuchte erneut zu starten, aber der Skaphander reagierte nicht auf den entsprechenden Knopfdruck. Hoffentlich hat er bei dem Sturz nichts abbekommen, dachte sie.
        No wagte den Start gar nicht erst. Es gelang ihm, zwischen dem Geroll Tritt zu fassen und sich langsam nach oben zu schieben. Auch Vi kletterte ein Stuck hoher. Mit einiger Muhe erreichten beide ein kleines Plateau.
        Wieder zu Atem gekommen, hielten sie genauer Ausschau. Ol hatte vielleicht etwas mit der Gegend anfangen konnen, wenn er hier gewesen ware, er kannte sich in Geographie aus. Vi und No aber hatten keine Vorstellung, wo sie sich befanden. Nur eins stand fest: Um den Aquator mit seinem tropischen Klima handelte es sich bestimmt nicht. Ein sturmischer Wind blies und schien sie umgehend aus seinem Revier vertreiben zu wollen.

»Meine Gute, ist das kalt hier, so kenne ich die Erde ja gar nicht.« No fror erbarmlich, zumal er von fruher her das warme Klima der Mittelmeerinseln in Erinnerung hatte. Der dunne Skaphander half da wenig.
        Violas Mutter erging es nicht viel anders. Zwar war sie allerhand Strapazen gewohnt und abgehartet, aber in diesem eisigen Wind bibberte sie genauso.

»Ol hat gesagt, da? wir uns durch den Erdentunnel in die Vergangenheit bewegen«, sagte sie. »Vielleicht ist es deshalb so kalt. Wir mussen, so schnell es geht, in die Zukunft der Irena starten.«
        Der Junge hatte ebenfalls keine Lust, noch langer hier zu bleiben. Atlantis wurde er wohl nie wiederfinden!

»Einverstanden, starten wir«, stimmte er deshalb zu.
        Doch das war leichter gesagt als getan - den Fluganzugen war der Absturz nicht gerade gut bekommen. Wahrend Vi ihren Skaphander nach einer Weile in Gang brachte und vor den Augen des Jungen plotzlich in der Zukunft verschwand, schien seiner ernstlich beschadigt zu sein. Welche Knopfe No auch immer druckte, nichts funktionierte mehr. Einsam und verlassen stand er auf dem Plateau.
        Er versuchte es wieder und wieder, wechselte mehrfach das Programm, doch vergeblich. Der Sturm heulte, die Klippen ragten drohend unter ihm auf, die Wellen turmten sich immer hoher:

»Gleich haben wir dich«, raunten sie unheilvoll, »du wirst uns nicht entkommen!«

»Was ist denn blo? los«, murmelte No verzweifelt.
        In diesem Augenblick tauchte Vi erneut neben ihm auf. Sie hatte gemerkt, da? bei dem Jungen etwas nicht klappte, und kehrtgemacht.
        Nun muhte auch sie sich mit den Tasten seines Skaphanders ab, doch sie brachte nicht mehr zustande als No.

»Wahrscheinlich bist du zu hart aufgeschlagen«, sagte Vi. »Wir wurden einfach zu jah aus dem Tunnel geschleudert. Kein Vergleich mit den sanften Landungen fruher.«

»Und was soll ich jetzt machen?«

»Uns wird schon etwas einfallen. Ich la? dich nicht im Stich«, trostete ihn Vi.

»Nur mir passieren immer solche Sachen. Mit diesen Tunneln hatte ich noch nie Gluck.«

»Nun verlier nicht gleich den Mut«, sagte Vi, »das hatte mir genauso zusto?en konnen. Wir setzen uns jetzt erst mal hinter den Felsen dort, der schutzt ein bi?chen vor Kalte und Sturm. Dann uberlegen wir in Ruhe.«
        Kurz darauf hockten sie nebeneinander hinter dem Felsen. Hier pfiff der Wind weniger stark, und sie froren nicht mehr so. Eine Losung ihres Problems fiel ihnen deshalb aber noch lange nicht ein.

»Das ware ein Ding, wenn jetzt Prim aus dem Wasser steigen und uns begru?en wurde«, sagte No.
        Prim war ein gro?er Krake, den es seinerzeit gleichfalls ins Elmenland verschlagen hatte. Er war ein au?erst sympathischer Kerl, stets freundlich und hilfsbereit und vor allem, wie viele dieser Tiefseebewohner, mit hypnotischen Kraften ausgestattet. Er hatte No, den Seemann Charlie Black, Mo und andere einst davor bewahrt, in die Elmenfalle der Massaren Din und Nel zu tappen. Er hatte vorher auch Viola und ihrem Freund Kostja einen gro?en Dienst erwiesen. Spater war er dann auf die Erde zuruckgekehrt.

»Weil du gerade von Prim sprichst - mir ist da eine Idee gekommen!« sagte Vi unvermittelt. »Erinnerst du dich an die Geschichte mit der Haliotisperle?«

»Naturlich. Prim hatte diese Perle von zu Hause mitgebracht und hutete sie wie seinen Augapfel. Sie war sein kostbarstes Gut, gewisserma?en ein Andenken an das Leben daheim, auf dem Meeresgrund. Trotzdem hat er sie Viola geschenkt.«

»Er hat sie nicht nur Viola, sondern auch Kostja gegeben«, erwiderte Vi. »Sie mu?ten die Hande ineinanderlegen und dabei die Perle festhalten. Durch ihre Zauberkraft wurden sie beide befreit. Kostja gelangte zur Erde zuruck, Viola zu uns auf die Irena.«

»Stimmt, genauso war es«, bestatigte No. »Und welche Idee ist dir nun dabei gekommen?«

»Die beiden hatten nur diese eine Perle und haben sich ihrer gemeinsam bedient«, erklarte Vi. »Auch wir sind zu zweit und besitzen nur einen funktionierenden Skaphander. Verstehst du, was ich meine?«
        ZU ZWEIT IN EINEM SKAPHANDER
        No schaute Vi fragend an, aber dann glomm in seinen Augen unvermittelt ein Funken Hoffnung auf:

»Du meinst, dein Fluganzug konnte uns eventuell beide zur Irena bringen?«

»Zumindest bis ins Elmenland. Wenn wir uns geschickt anstellen, mu?te es klappen.«

»Ich wei? nicht«, sagte der Junge zweifelnd. »Vielleicht machen wir ihn damit auch noch kaputt. Er ist doch nur fur eine Person konstruiert.«

»Das schon, aber fur einen sehr gro?en Menschen. Ich hab im Grunde zweimal darin Platz, und das Material ist zudem elastisch.«
        Nos Bedenken waren noch nicht ausgeraumt: »Der Anzug hat aber nur zwei Armel und zwei Beine«, wandte er ein.

»Mit den Hosenbeinen wird’s tatsachlich etwas eng«, stimmte Vi zu. »Wir mussen unsere in eins quetschen. In die Armel dagegen konnen wir je einen Arm stecken, mit der anderen Hand fassen wir uns an. Und mit dem Kopf - na ja, irgendwie wird es schon gehen.«

»Du bist gro?er, du bekommst das Visier«, sagte der Junge gro?zugig. »Und ich stecke meinen Kopf einfach unter deine Schulter.«

»Da mu?t du den Rucken aber ganz schon krumm machen«, entgegnete Vi belustigt. »Na los, worauf warten wir noch. Versuchen wir’s.«
        Sie zogen ihre Skaphander aus, und wahrend No seinen sorgsam zu einem Paket zusammenfaltete, breitete Vi ihren auf dem Boden aus.

»Wir kriechen am besten hinein, wie in einen Schlafsack«, sagte sie.

»Und was mach ich mit meinem Fluganzug?« fragte No.

»La? ihn hier. Er ist ja kaputt, und in meinem Skaphander konnen wir ihn unmoglich auch noch unterbringen.«

»Ich werde ihn in diese Felsspalte legen«, sagte der Junge. »Vielleicht kommen wir noch mal mit jemandem an diesen Ort zuruck, der ihn reparieren kann.«

»Tu das«, stimmte Vi zu, »es ist wahrscheinlich das beste.« Sie zweifelte allerdings daran, da? sie diese Felsen noch einmal aufsuchen wurden.
        No verstaute den Anzug, und sie krochen beide in den Skaphander von Vi. Dieses Manover kostete sie einige Muhe und sah gewi? auch komisch aus, aber Zuschauer gab es hier nicht.
        Oder etwa doch? Als sie es endlich geschafft hatten und sich aneinander geklammert aufrichteten, war ihnen, als ruhte ein fremder geheimnisvoller Blick auf ihnen.
        Sie fuhlten es beide. Vi schaute angespannt durchs Visier, um etwas zu entdecken, und No steckte den Kopf durch den Spalt vom Rei?verschlu?.

»Uns beobachtet jemand«, flusterte er.

»Mir kommt es auch so vor. Aber ich kann niemanden sehen«, antwortete Vi, gleichfalls flusternd.

»Vielleicht ein Tier, das heute noch kein Fruhstuck hatte, ein Meeresungeheuer!«
        Vi versuchte sich umzudrehen, doch es gelang nur halb:

»Waren da nicht zwei gro?e Augen, ein riesiger flacher Kopf und so etwas wie der Leib einer Schlange im Wasser? Bei diesem Meerestosen hab ich es nur fur einen Augenblick gesehen.«

»Ich hatte ebenfalls den Eindruck, als ware da eine Art Schlangenkopf gewesen«, bestatigte No, »aber sicher bin ich mir nicht. Wie auch immer, wir sollten uns davonmachen.«

»Gut, starten wir. Hoffentlich finden wir den Tunneleingang wieder«, sagte Vi.
        Doch das war alles andere als einfach. Wie schon auf der Irena, hatte sich auch hier der Tunneleingang verschoben, und zwar weiter in die Vergangenheit. Dazu kam, da? sich der Fluganzug durch die doppelte Last, die er bewegen mu?te, nur schwer steuern lie?. Deshalb mu?ten die beiden, kaum da? sie abgehoben hatten, schon wieder landen. Sie gingen auf demselben Plateau nieder, das sie gerade verlassen hatten.

»Wir schaffen es nicht. Wo steckt nur dieser verflixte Tunnel?« rief No verzweifelt.

»Er mu?te hier sein. Wir sind um Jahre zuruckgeflogen. Siehst du nicht, wie hoch das Wasser inzwischen steht? Als wir eben noch bei diesem Felsen waren, lag das Meer bedeutend tiefer.«
        Tatsachlich waren die Klippen und der Gerollhang jetzt uberflutet. Die Wellen hoben sich bereits bis zum Plateau.

»Hier? Ich seh nichts. Und mein Skaphander ist auch verschwunden. Mach doch was, Vi!«
        Der Sturm heulte noch starker als vorher. Plotzlich stieg eine Springflut empor. Ein Windsto? erfa?te die beiden, die in ihrem Anzug ohnehin nicht sehr fest auf den Beinen standen, und fegte sie ins Meer. Sie uberschlugen sich, wurden mehrfach um die eigene Achse gewirbelt, und No schluckte sogar Wasser.
        Der Junge bekam es mit der Angst zu tun, ruderte mit dem Skaphanderarm und auch Vi machte Schwimmbewegungen.
        Doch sie ertranken nicht. Glucklicherweise wurden sie kurz darauf von einer Woge nach oben gerissen, so da? sie wieder Luft bekamen.
        Gleichzeitig gerieten sie aber in einen Strudel, der sie erneut den Felsen entgegenschleuderte.
        Vi sah plotzlich durchs Visier ihres Helms mit ungeheurer Geschwindigkeit einen gewaltigen schwarzen Stein auf sich zurasen. Sie glaubte, ihr letztes Stundlein sei gekommen und konnte gerade noch entsetzt den Arm heben. Sie wollte, wenn schon nicht sich, so wenigstens den Jungen schutzen.
        Aber diesmal gab es keinen Aufprall, sie wurden im Gegenteil freundlich empfangen.
        Der Stein offnete sich vor ihnen und nahm sie sanft in sein Inneres auf. Sie hatten den Tunneleingang gefunden, den sie so verzweifelt gesucht hatten.
        Es war wie bei dem Sabelzahntiger Achr und dem Riesenmadchen Ah, wie bei der Hexe Arachna und all den anderen Gestalten des Zauberlandes, die an die geheimnisvollen schwarzen Steine gerieten. Nur da? Vi und No, sobald der Sog nachlie?, mit ihrem Skaphander das Tempo selbst bestimmen konnten.
        Sie flogen langsam weiter. Vor ihnen lag Dunkelheit, weit hinter ihnen brandete das Meer, schaumte und wutete, als wollte es in den Tunnel eindringen.

»Es sieht aus, als waren die Wellen erbost daruber, da? sie uns freigeben mu?ten«, sagte No, als er den Kopf wieder aus dem Fluganzug steckte.

»Das war knapp. Noch einmal mochte ich nicht in so eine Flut geraten«, erwiderte Vi.
        Dann wurde ihnen die Luft plotzlich leicht, fast schwerelos schwebten sie dahin.
        Gleichzeitig wurde es heller.
        Sie erreichten das Elmenland, das in der Mitte zwischen der Erde und der Irena lag und wo sie gefangen gewesen waren, hatten sie nicht ihren Fluganzug gehabt.
        Beinahe hatten sie nicht gemerkt, da? sie zu Elmen wurden, durchschimmernd und korperlos wie Geister.
        Nun konnten sie zur Irena zuruckkehren, genauer gesagt in die Zukunft dieses Planeten, wohin es auch Ol, Viola und Mo verschlagen hatte.
        Sie hatten Sehnsucht nach ihnen und waren gespannt, ob und wie sich die drei dort behaupteten.
        WIEDER AUF DER IRENA
        Vi und No waren am Ziel! Sie hatten die Reise durch den Tunnel glucklich uberstanden und landeten, genau wie vorher die andern drei, mitten im grauen Staub. Da sie Elme waren, wirbelte er aber nicht auf. Er storte sie auch nicht; weshalb sollten sie husten oder spucken, sie waren ja Geister.
        Dennoch waren sie naturlich verblufft und erschrocken uber den Zustand ihres Planeten, es ging ihnen da genauso wie Ol, Viola und No. Was fur eine bla?lich schwache Sonne, was fur ein trostloser Himmel, und vor allem - was fur eine Erdenwuste mit der breiten verheerenden Spur des Tunnels!
        No war, wie auch sein Bruder Mo, nach dem Untergang seiner Insel unendliche Zeiten als Elm umhergestreift, fur Vi dagegen war dieses Gefuhl neu.

»Konnen uns die andern denn uberhaupt sehen, wenn wir sie finden?« fragte sie besorgt.

»Aber ja. Wenn wir die Energie bundeln, die in uns steckt, erkennen sie uns zumindest in Umrissen«, erklarte No. »Wir flimmern und schimmern wie dunner Nebel, wenn die Sonne aufgeht.«

»Das ist ja gro?artig«, spottete Vi. »Ich als Nebelgeist. Na danke!«

»Besser Nebelgeist als Nachtgespenst«, der Junge lachte. »Die schwirren namlich ganz duster umher. Man konnte meinen, sie bestehen aus feuchtem, modrigem Friedhofsdunst und fahlem Mondlicht.«

»Ich sehe schon, du kennst dich mit Gespenstern aus«, sagte Vi. »Aber mal Spa? beiseite, wir mussen unser Haus suchen. Oder wenigstens den Ort, wo es gestanden hat.«

»Du glaubst, Ol, Mo und Viola kehren dorthin zuruck?«

»Wo sollten sie sonst hin? Ol ist mit Sicherheit der Spur des Tunnels gefolgt.«

»Stimmt, so wird es sein«, erwiderte No. »Und du nimmst an, sie sind bereits da?«

»Sie mu?ten doch nicht so einen Umweg machen wie wir. Au?erdem sind sie ja vor uns weg. Aber ganz gleich, ob sie nun schon angekommen sind oder nicht, wir sollten jetzt losfliegen. Wenn sie noch nicht da sind, warten wir eben auf sie.«
        Sie schwirrten los, flogen in einiger Hohe uber dem grauen Erdboden dahin, uber all dem Dreck und Staub, der hier und da von einer leichten Luftbewegung aufgewirbelt wurde.

»Das ist ja die totale Odnis«, stohnte No. »Wenn es wenigstens Sand oder Steine waren.«
        Vi erinnerte sich an das zerstorte Synchronautikzentrum, an dem sie bei ihrem Abflug vorbeigekommen waren, an die zertrummerten Hauser und das aufgerissene Erdreich. Was mochte sich hier blo? abgespielt haben?

»Hoffentlich ist es nicht uberall so«, sagte sie.

»Das ware wirklich furchtbar«, stimmte der Junge zu.
        Dann entdeckten sie, wie schon die drei vor ihnen, den mit Flechten, Strauchern und kleinen Baumen bewachsenen Hugel, sahen aus der Ferne auch die Flugmolche. Zu dem einen, den bereits Ol, Viola und Mo gesehen hatten, waren zwei weitere gekommen.

»Es gibt doch noch Lebewesen auf der Irena!« Vi fuhlte sich gleich nicht mehr so verloren. Der von Riedgras gesaumte Tumpel erfreute sie ebenfalls. »Ein Hugel mit Strauchern, ein Tumpel und sogar Flugmolche, ringsum aber nur staubige Odnis«, fuhr sie fort. »Wenn sich Ol mit den beiden Kindern irgendwo aufhalt, dann hier, da bin ich mir ganz sicher.«
»Ich glaube, der Hugel hat eine Tur«, rief No plotzlich.

»Eine Tur? Na, wei?t du!«

»Doch, da unten, schau nur richtig hin.« Und ohne eine Antwort abzuwarten, lie? sich der Junge hinabgleiten.
        Vi folgte ihm. Als sie dann noch, hinter Buschen versteckt, ein paar Fenster entdeckte, wu?te sie, da? es sich nicht einfach um einen Hugel handelte.
        Fur sie als Elme war es keineswegs schwierig, durch die geschlossene Tur ins Haus zu gelangen. Da sie es sehr eilig hatten, entstand beim Eindringen eine Reibung, die ein leises Sirren erzeugte.
        Dieses Sirren war es auch, was Ol, Viola und Mo gehort hatten, bevor sie die beiden flirrenden Gestalten am Kamin und am Tisch sahen. Von der herzlichen gegenseitigen Begru?ung aber haben wir bereits erfahren.
        DER SANDSTURM
        Ein Ziel hatten die funf nun erreicht - sie hatten sich wieder gefunden, konnten ab jetzt alles gemeinsam besprechen. Die Bedingungen, unter denen sie leben mu?ten, waren allerdings alles andere als normal. Zwei Geister und drei menschliche Wesen, die Muhe hatten, sich einigerma?en vernunftig zu ernahren, beschrankt auf eine kleine grune Insel inmitten einer staubigen Wuste. Auf die Dauer war das kaum durchzuhalten.
        Immerhin gab es die drei Flugmolche am Teich, die von ihnen keinerlei Gefahr zu befurchten schienen, geradezu zahm waren. Vi, die aus kartoffelartigen Knollen und Mehlfruchten schnell Suppen fur ihre drei zu kochen und sogar Brot zu backen lernte, merkte bald, da? die Amphibien solche Nahrung gleichfalls nicht verschmahten. Vor allem den Kindern machte es Spa?, sie damit zu futtern. Fast gehorten die Tiere schon zur Familie.
        Ol hielt es fur notwendig, die weitere Umgebung zu erkunden. Er startete immer wieder entsprechende Versuche, doch in dem Staub kam er nicht weit. Anders dagegen No, der bald riesige Strecken abflog. Mo war etwas neidisch, wie gern ware er mitgesaust, wenn der Bruder morgens loszog. Stattdessen mu?te er Fische fangen oder Pilze sammeln. Ein wenig sehnte er sich sogar ins Elmendasein zuruck.
        No blieb oft den ganzen Tag weg, und wenn er zuruckkam, hatte er wenig Erfreuliches zu berichten. Der Planet schien in der Tat ausgestorben - der Junge hatte keinerlei Ansiedlung und auch keine menschliche Behausung au?er der ihren entdecken konnen.
        Der Staub aber, die Odnis waren allgegenwartig. Nur ganz selten behauptete sich noch eine grune Oase in der Wuste, ein Zeichen, da? es in der Tiefe Wasser geben mu?te. Doch nicht einmal einen zweiten Tumpel spurte er auf.
        Abends berichtete No von seinen Erkundungen, und alle waren entsetzt. Obwohl so etwas zu befurchten gewesen war, hatten sie doch gehofft, nicht die einzigen Bewohner zu sein.

»Es mu? eine Katastrophe auf der Irena gegeben haben, vielleicht schon kurz nach unserem unfreiwilligen Start in die Zukunft«, vermutete Ol. »Sollte mich nicht wundern, wenn das mit der Verschiebung der Tunnel zusammenhangt.«
        Einer der Flugmolche schwebte lautlos heran. Vi tatschelte ihm den Kopf, was er sich gern gefallen lie?.
»Ihr seid schon langer hier als wir«, sagte sie, »und habt euch offenbar als einzige Kreaturen auf unserem Planeten uber Generationen hin behauptet. Konnt ihr uns nicht Auskunft uber das geben, was geschehen ist?« Doch das Tier, von dem sie, genau wie von seinen anderen Artgenossen, noch nie einen Laut vernommen hatten, schwieg auch diesmal.
        Am nachsten Morgen waren Viola, Mo und No am Teich, um Riedgraswurzeln zu holen, Ol und Vi aber diskutierten erneut uber die Geschehnisse auf der Irena. Sie konnten einfach nicht glauben, da? die Menschen hier ausgestorben waren.
        Unvermutet schnell kamen die Kinder vom Tumpel zuruck, und hinter ihnen tauchten die drei Flugmolche auf. Sie gebardeten sich unruhig, zuckten mit dem Korper, zitterten sogar.

»Was ist los, weshalb sind sie so aufgeregt, und warum kommt ihr schon zuruck?« fragte Vi.

»Es geht ziemlicher Wind, er wirbelt den Staub auf«, sagte Viola. »Das ist sehr unangenehm und gefallt den Molchen bestimmt genausowenig wie uns.«
        Nun horten auch Vi und Ol den Wind im Gestrauch pfeifen und an den Fensterladen rutteln.

»Das klingt anders als neulich in der Ebene«, sagte Ol. Er war da von einem Ausflug vorzeitig zuruckgekehrt, weil er dachte, es gabe ein Gewitter.

»Die Tiere drangen ins Haus, sie scheinen Schutz zu suchen«, murmelte Vi.

»Komm her, du«, sagte Viola zu einem der Molche, der zur Tur hereingeflattert war und sich auf den Boden gelegt hatte. Sie stieg uber seinen Korper hinweg in den Ring, den er bildete, setzte sich und streichelte seine samtene Haut. Er wurde sofort ruhiger.
        Unvermittelt fuhr ein Windsto? in den Kamin, begleitet von einem schauerlichen Heulen.

»Das sieht ganz nach einem Sturm aus«, sagte Vi. »Ich schau mal nach, ob alle Fenster zu sind.«
        Sie eilte durchs Haus, prufte die Verriegelung der Fenster. Ol dagegen rannte zur Tur. Doch nicht etwa, um sie fester zu schlie?en, sondern um sich nichts von dem bevorstehenden grandiosen Ereignis entgehen zu lassen. Wenig spater waren auch die anderen drau?en.
        Sie standen im Schutz einiger Busche und warteten auf das Naturschauspiel, das gleich beginnen wurde. Zu ihren Fu?en trieb, von kraftigen Windboen aufgewirbelt, Staub dahin, doch im ubrigen war die Luft klar und rein, geradezu durchsichtig. In solchen Augenblicken konnte man besonders weit sehen.
        Die Landschaft wirkte nicht weniger verlassen als sonst und hatte doch etwas Majestatisches. Da waren die graubraunen Dunen, von fruheren Sturmen aufgeturmt und zum Teil als Wanderdunen in standiger Bewegung, da war die flirrende Ebene, und da hoben sich, fern am Horizont, die Berge ab. Ihre Umrisse waren normalerweise nicht zu erkennen.
        Dann ging es los. Am Himmelsrand stieg ein unscheinbares leichtes Wolkchen auf. Es wuchs, wurde zusehends dichter und dunkler, fullte sich in unglaublicher Geschwindigkeit mit Millionen, ja Milliarden feinster Sandkornchen auf, um sich schlie?lich zu einer gewaltigen Windhose zu entwickeln. Schwarz und unheilvoll fegte sie, brausend und mit zerstorerischer Kraft, ubers Land.
        Dieser Wirbelsturm raste auf sie zu und tobte schon bald in unmittelbarer Nahe. Er sog alles in sich ein, was ihm in den Weg kam: die Dunen, die Steine und die Sonne mit ihrem Licht. Ringsum wurde es stockfinster.
        Ehe sie sich’s versahen, hatten Ol, Viola und Mo kratzenden Staub im Mund und nicht genug Hande, um Nase, Augen und Ohren zu schutzen. Schneller als sie es verlassen hatten, fluchteten sie ins Haus zuruck.
        Schlie?lich, nachdem sie die Tur fest hinter sich verriegelt hatten, sa?en die funf im Wohnzimmer um den Kamin versammelt und streichelten beruhigend die Flugmolche. Dabei waren sie selbst aufs hochste besorgt, und zwar nicht nur wegen des Sturms. Sie fragten sich, wie es mit ihnen weitergehen sollte.
        ABSCHIED VON DER IRENA
        Was die Tiere betraf, so war die Sache klar: Der Planet, ob nun gut oder schlecht, bevolkert oder ausgestorben, war ihr Zuhause. Sie hatten sich nicht aussuchen konnen, wo sie geboren wurden und lebten, mu?ten sich den Gegebenheiten hier anpassen.
        Bei den Menschen dagegen verhielt es sich anders. Sie konnten sich entscheiden, mu?ten es sogar. Der Sturm hatte es ihnen deutlich vor Augen gefuhrt. Mit seiner ungeheuren zerstorerischen Kraft hatte er ihnen bewiesen, da? sie sich hier auf Dauer nicht behaupten wurden.
        Ol, dem plotzlich bewu?t wurde, da? sie wertvolle Zeit verstreichen lie?en, erschrak.

»Die Tunnel verschieben sich unaufhaltsam«, sagte er zu Vi, »vielleicht sind sie fur uns schon bald nicht mehr erreichbar. Dann mussen wir hierbleiben, werden uber kurz oder lang in all dem Sand zugrundegehen. Ihr als Elme uberlebt zwar, bleibt aber einsam zuruck. Das will sicherlich keiner von uns.«

»Du hast recht«, erwiderte Vi, »wir verhalten uns wirklich unvernunftig. Aber was sollen wir tun? Selbst wenn es uns gelingen wurde, in unsere alte Welt zuruckzukehren, hatten wir nicht viel erreicht. Die Zerstorung zu Hause ist ja schon in vollem Gange.«

»Das mit dem Tunnelbau ist total falsch gelaufen«, sagte Ol nachdenklich. »In ihrer Gier, die Erde zu unterwerfen, haben die Massaren alles unterhohlt. Man mu?te in die Vergangenheit der Irena zuruckkehren und die Sache von Anfang an besser machen.«

»Du traumst. Wie willst du zuruck in unsere Vergangenheit gelangen?«

»Es gibt eine Moglichkeit«, erklarte Ol. »Noch scheint ja die Verbindung zur Erde zu existieren, wie ihr vor kurzem selber feststellen konntet. Offenbar wurden wir auch dort in eine fruhere Epoche geraten, doch das mu? nichts schaden. Im Gegenteil, auf diese Weise konnten wir wahrscheinlich zu jener Irena zuruckkehren, auf der noch alles in Ordnung war.«

»Das ware gro?artig«, stimmte Vi zu. »Bereits im Elmenland wurden No und ich uns wieder in Menschen verwandeln. Oder wir wahlen alle funf eine andere Gestalt, um uns den Bedingungen auf der Erde anzupassen.«

»Aber ich mochte nicht noch mal in dieses Meer geraten«, wandte No ein. »Es war nicht gerade angenehm, von dem eiskalten Wind gepackt und von den Wellen herumgewirbelt zu werden.«

»Du und dein Bruder, ihr bekommt den Skaphander«, erklarte Ol. »Damit konnt ihr endlich Atlantis suchen.«
        Dieser Gedanke war sehr verlockend fur die beiden Jungen. Es wurde ein aufregendes Abenteuer werden, an dessen Ende das Wiedersehen mit all ihren Verwandten und Freunden stand. An die Gefahren freilich dachten sie weniger, deshalb stimmten sie eifrig zu.
        Inzwischen hatte sich der Sturm wieder gelegt. Er war so unvermittelt zur Ruhe gekommen, wie er begonnen hatte. Doch hatte er solche Mengen Staub gegen Tur und Fenster geweht, da? Ol, Viola und Mo fast nicht aus dem Haus gekommen waren. Ol kletterte durch eine Dachluke und schaufelte von au?en die Tur frei. Die Busche und Baume ringsum sahen aus, als hatte man sie in Ru? getaucht.
        In einiger Entfernung zog sich die Spur des Tunnels hin, weiter hinten war sogar seine Offnung zu erkennen.

»Der Tunnel ist nahergeruckt«, sagte Ol. »Es sieht fast so aus, als wollte er uns einladen. Wir sollten bald aufbrechen.«

»Manchmal glaube ich wirklich, ein Schutzgeist halt seine Hand uber uns«, erwiderte Vi. »Erinnerst du dich an den Kopf mit den gro?en starren Augen, No, der uns auf der Erde, auf diesem Felsen im Meer beobachtet hat? Wir wurden kurz darauf auf wundersame Weise gerettet, als wir fast am Ertrinken waren.«

»Und ob ich mich erinnere«, No nickte heftig. »Ich traume sogar davon. Kurzlich sahen mich diese Augen wieder an, und zwar durchs Wasser, wie aus einem Aquarium. Der Kopf aber gehorte zu einem Schlangenleib, der gar nicht enden wollte.«

»Eine Riesenschlange in einem Aquarium«, rief Viola, »du hast vielleicht Traume!«
        Und Mo erganzte:

»Wenn mal nicht du in dem Aquarium eingesperrt warst, und die Schlange war drau?en. Fur sie hat es bestimmt so ausgesehen.«
        Ol aber war aufmerksam geworden:

»Ein riesiger Kopf, ein unendlich langer Schlangenleib und starre gro?e Augen? Das ist nicht einfach ein Traum oder etwas, das ihr euch nur eingebildet habt. Auf der Erde, im Zauberland, habe ich davon gehort. Ihr wi?t schon, dort wo es den Weisen Scheuch gibt, den Eisernen Holzfaller und den Tapferen Lowen. Die Bewohner nennen das Tier die Gro?e Glua und schreiben ihr Wunderkrafte zu. Es soll in unterirdischen Gefilden leben.«

»Aber das klingt ja fast wie ein Marchen«, sagte Viola.

»Es gibt vielleicht mehr Marchen im Leben, als wir manchmal denken«, erwiderte Ol.
»Sie vermischen sich mit der Wirklichkeit und helfen uns zu uberleben.«
        Wahrend sie sich unterhielten, waren schweigend die drei Flugmolche nahergekommen. Es sah aus, als wurden sie zuhoren.

»Schau dir unsere Freunde an«, sagte Vi. »Da? sie uns heute fruh vor dem Sturm gewarnt und da? wir sie hier uberhaupt angetroffen haben, ist auch so ein Marchen.

»Jedenfalls sind mir die Flugmolche nicht so unheimlich wie diese gro?e Glua«, erklarte No.

»Man kann sie richtig liebhaben«, fugte Mo hinzu und streichelte den, der ihm am nachsten war.
        Ol dachte daran, da? er anfangs beinahe der Versuchung erlegen ware, eins der Tiere einzufangen, um es zu verspeisen, und schwieg deshalb lieber.
        Am nachsten Morgen rusteten sie zur Abreise. Sie verschlossen und verriegelten das Haus wie immer, wenn sie es verlie?en. Dabei waren sie fest davon uberzeugt, nicht mehr hierher zuruckzukehren.

»Wie oft bin ich schon von hier zur Erde aufgebrochen«, sagte Ol, »diesmal fallt es mir am leichtesten.«

»Uns auch«, bestatigten Mo und No. »Blo? da? wir uns trennen mussen, ist schlimm.«

»Bis zum Elmenland konnen wir noch zusammenbleiben«, trostete Vi. »Danach stellt Ol den Skaphander so ein, da? ihr in eure Zeit kommt. Dann findet ihr eure Familien wieder. Sollte es aber nicht klappen, fliegt ihr einfach zuruck zur Vergangenheit der Irena. Zu uns!«

»Wie auch immer, wir sehen uns bestimmt wieder. War doch gelacht«, sagte Viola tapfer und wischte sich eine Trane aus dem Auge.
        Auch die Flugmolche waren zur Verabschiedung gekommen. Sie zogen kleine Kreise uber ihren Kopfen, und der eine stie? das Madchen sacht mit dem Kopf an.
»Er fordert dich zu einer Abschiedsrunde auf«, sagte Ol. »Versuch’s doch mal, soviel Zeit haben wir noch.«
        Tatsachlich glitt der Molch zu Boden, als wollte er diese Worte bestatigen. Viola legte sich auf ihn, mit gespreizten Armen und Beinen, wie auf ein Schlauchboot.
        Vorsichtig erhob sich das Tier in die Luft und drehte eine Runde mit dem Madchen. Dann setzte es sie behutsam wieder ab.

»Die haben sich an uns gewohnt wie wir an sie«, Vi war uberrascht. »Man konnte direkt von vernunftbegabten Wesen sprechen.« Und sie fugte traurig hinzu:

»Lebt wohl, es mu? sein!«

»Lebt wohl, lebt wohl!« riefen alle andern.
        Die Flugmolche wiegten sich wie zur Entgegnung in Kopfhohe und schwebten dann gemessen davon.
        Der Tunneleingang war erreicht, der Sog diesmal lange nicht so stark wie sonst. Dennoch wurden sie im Nu erfa?t und ins Innere entfuhrt. Die grauen staubigen Ebenen der verwusteten Irena, aber auch der Hugel mit dem Gebusch, das ihr Haus uberwucherte, und der grunschimmernde Tumpel blieben endgultig hinter ihnen zuruck.

 
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